Der reiche Russe. Dietrich Knak
Als ich einen ersten Blick in die Küche werfe, zucke ich förmlich zurück als hätte ich mit bloßen Händen in ein geladenes Stromkabel gegriffen. Alles in und an mir bebt und zittert, sodass ich gezwungen bin, mich mit beiden Händen am Türrahmen festzuhalten. So etwas Furchtbares habe ich in meinem bisherigen Ermittlerleben noch nicht zu sehen bekommen. Mein erster Gedanke: Marowski, du bist in eine Russenfalle geraten! Verschwinde! Doch ich bin immer stolz darauf gewesen, kein Feigling zu sein! Selbst wenn es sich hier um eine Falle handeln sollte, ich kann nicht zurück. Ich atme mehrmals tief ein und aus, schließe ich kurz die Augen, danach betrete ich tapfer den Tatort.
Wo ich hinschaue: Überall Blut. Auf dem Fußboden, an den weißen Kacheln an der Spüle, dem Elektroherd, an den Beinen des Küchentischs, dem Kühlschrank, ja ein paar rote Spritzer haben es sogar bis zu den Fensterscheiben und dem Fensterbrett geschafft. Außerdem hängt ein schwerer süßlicher Geruch in der Luft. Und mittendrin liegt ein Mann auf dem Bauch, jeweils ein Arm und ein Bein angewinkelt, die beiden anderen Extremitäten weit von sich gestreckt, während seine erloschenen Augen starr auf die dunkelbraunen Terrakotta-Platten des Küchenbodens gerichtet sind. Gleichzeitig umschwirren ihn Fliegen über Fliegen und immer neue stoßen dazu.
Je länger ich auf das Opfer starre, umso gegenwärtiger wird mir, was hier passiert sein könnte. Folgend Ausgangssituation: Als der Täter den tödlichen Schuss abgab, stand er direkt hinter dem Opfer, der an der Kaffeemaschine herumhantierte, um zwei leeren Tassen mit Kaffee zu füllen. Verdammt, Opfer und Täter haben sich gekannt. Man lässt keinen Fremden in seine Wohnung und brüht ihm einen Kaffee. Plötzlich registriere ich etwas ganz Merkwürdiges. Es sind die vielen Verletzungen, die der Tote im Gesicht, am Hals und den Armen davongetragen hat und sicher sind sie auch an seinem Körper zu finden. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Der Tot alleine reichte dem Täter nicht, er hat mit blinder Wut auf sein Opfer eingeschlagen, obwohl der bereits tot vor ihm lag. Aber warum macht der Täter das? Spuren eines Kampfes sind nicht einmal vom Ansatz her zu erkennen. Alle Gegenstände stehen da, wo sie hingehören. Das alles unterstreicht meine Vermutungen: Zwischen Opfer und Täter ist etwas hoch Emotionales, vielleicht sogar etwas zutiefst Persönliches mit elementarer Wucht zum Ausbruch gekommen. Während ich zusehe wie kleinste Knochensplitter, vom zertrümmerten Schädelknochen des Opfers orientierungslos auf der Oberfläche der Blutlache herumtreiben, formt sich in meinem Kopf die drängende Frage: Was ist die Ursache für diesen Hassausbruch? Wenn ich das wüsste, hätte ich das Motiv und wäre dem Täter ganz nahe. Doch soweit ist es leider Gottes nicht.
Obwohl mir klar ist, dass ein Toter, der vor mir auf dem Boden liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit Eugen Brandt heißt, fühle ich mich trotzdem in die Pflicht genommen, diese beiden Annahmen zu überprüfen. Sollte auch nur ein Hauch Leben in seinem Körper stecken, bin ich verpflichtet etwas zu unternehmen. Zum Beispiel Hilfe herbeizurufen. Ebenso sollte die Identität des Opfers zu hundert Prozent geklärt sein. Ich stecke meine Beretta zurück in den Hosenbund und gehe in die Hocke. Routinemäßig taste ich Halsschlagader und Handgelenke ab, anschließend hebe ich leicht den Kopf des Opfers an, weil ich die linke Gesichtshälfte nur teilweise sehen kann, da sie größtenteils auf dem Küchenboden aufliegt. Meine Annahmen bestätigen sich schnell. Der Mann heißt Eugen Brandt, und er ist tot. Sofern das ein medizinischer Laie wie ich überhaupt sagen kann. Auf Grund seiner langsam scheckiger werdenden Haut, der gesunkenen Körpertemperatur und dass kein Blut mehr aus den Wunden an seinem Körper austritt, muss er mindestens seit einer Stunde, möglicherweise sogar zwei oder gar drei, tot sein. Mir bleibt nur die nüchterne Feststellung, ich wurde mit zwei Millionen Euro zu einem Toten geschickt. Einen Vorteil hat das Ganze allerdings auch: Von nun an ist Kutusows Auftrag kein schlichter Botengang mehr, sondern ist zu einem richtigen Mordfall mutiert. So gesehen, habe ich als Privatdetektiv einen regelrechten Karrieresprung hingelegt. In dem Moment, da ich versuche, mich wieder aufzurichten, um endlich die Polizei zu verständigen, knallt mit aller Wucht ein harter Gegenstand auf meinen Hinterkopf und löst eine heftige Explosion in meinem Kopf aus. „Küchentür!“, ist das letzte Wort, welchesmir intuitiv über die Lippen kommt. Danach versuche ich mich mit immer heftiger rudernden Armen, auf den Füßen zu halten. Doch es hilft alles nichts, ein grauer, watteartiger Nebel, der schnell dichter wird, kennt keinerlei Erbarmen und nimmt mich mit in sein verschwommenes Reich, aus dem es vorerst kein Entrinnen für mich gibt.
6.
Als ich wieder zu mir komme, dringen Gerüche von gebratenem Fleisch und gekochtem Gemüse in meine Nase und erinnern mich daran, dass es um die Mittagszeit sein muss. Ich bekomme es hin, meinen Kopf, der still vor sich hin schmerzt, wenigstens ein paar Zentimeter anzuheben. Unwillkürlich bleibt mein Blick an dem neben mir liegenden Mann mit dem halb weggerissenen Hinterkopf hängen. Mir wird bewusst, dass ich noch nie neben einem Toten lag. Mein Kopf sinkt zurück auf die Terrakotta Platten, gleichzeitig schließe ich die Augen. Wut gegen mich baut sich in mir auf. Wieder einmal habe ich alles verkackt! Wie durch eine Lupe betrachtet, sehe ich zu, was passiert ist: Der Täter wartete hinter der Küchentür auf mich. Als ich mich über Brandt beugte, schob er die Tür unbemerkt ein Stück auf und schlug mich von hinten mit einem stumpfen Gegenstand bewusstlos. Das war für ihn eine mehr als simple Sache gewesen! Das hätte mir nie und nimmer passieren dürfen. Ein lächerlicher Anfängerfehler! Nach dem Betreten der Küche, als ich den Toten sah, hätte ich mich als erstes vergewissern müssen, ob sich in diesem Raum jemand aufhält. Mein Gott, das gehört zum ABC eines Ermittlers. Und gerade ich, der sich so gerne als Vollprofi sieht, vergisst die elementaren Regeln meines Berufs genau in dem Moment, wo es drauf ankommt und überprüfe als erstes, ob ein zu hundert Prozent Toter, auch wirklich zu hundert Prozent tot ist! Ich könnte mich ohrfeigen!
Allen Widrigkeiten zum Trotz bekomme ich es hin, mich am Küchentisch hochzuziehen. Gleichzeitig tauchen vor meinen Augen die vielen Bücher auf, die Brandt bisher veröffentlicht hat. Chinesische Triaden, ukrainische Oligarchen, italienische Mafia usw. Die darin agierenden Personen sind allesamt keine Klosterschüler, sondern begehen mit der größten Selbstverständlichkeit fürchterliche Dinge! Meine bisherige Klientel ist anders. Deutsch, bestens erzogen, wohlhabend und in die Jahre gekommen! Und wenn man Steuerhinterziehung und zu schnell mit dem Porsche unterwegs sein, mal außen vorlässt, sind sie alles andere als kriminell! Hier dagegen sieht es danach aus, dass Brandt sich mit echten Mafiosos angelegt hat. Womöglich hat man ihn umgebracht, um ihn als abschreckendes Beispiel auf einem Mafialehrvideo festzuhalten. Als eine Art Mahnung an die Kundschaft, sich ja ihren Regeln zu unterwerfen.
Inzwischen torkele ich auf das Fenster zu, das zum Hof führt. Dort entdecke ich ein aufgeplustertes Rotkehlchen, das sich auf dem Fensterbrett reckt, um einen Blick in die Küche werfen zu können. Ein zartes Grinsen schiebt sich über mein Gesicht. Behutsam öffnete ich das Fenster, damit der Kleine die Chance bekommt, seine Neugier besser zu befriedigen. Doch er schlägt mein Angebot aus und fliegt ängstlich davon.
Als nächstes unterziehe ich mich einem Selbstscheck. Schon, um meine Nerven zu beruhigen. Mit dem Ergebnis kann ich leben: Nirgendwo blutete ich, auch Arme, Beine, Kopf sowie die restlichen Körperteile sind anscheinend unverletzt davon gekommen, lediglich am Hinterkopf ertaste ich eine kräftige Beule. Auch die Lizenz, das Handy, die Beretta und sogar „Russisch in einer Woche“ befinden sich nach wie vor in meinem Besitz. Das alles lässt nur einen Schluss zu: Der Täter hat es nicht auf mich abgesehen, ich bin ihm schlichtweg in die Quere gekommen. Mit immer noch zittrigen Händen hole ich mein Handy aus der Jackettasche und gebe die 110 ein. In dem Moment, als ich den Ruf abschicken will, nehme ich ein Geräusch in meinem Rücken wahr. Instinktiv drehe ich mich um.
Wie paralysiert starre ich auf zwei Männer im mittleren Alter, die im Türrahmen stehen und ihre Waffen auf mich gerichtet haben. Gleichzeitig pendeln ihre Blicke zwischen mir und dem Toten hin und her. Auch wenn ich die beiden noch nie gesehen habe, weiß ich auf Anhieb, wer sie sind: Kriminalisten! Ruhig und systematisch sondierten sie das Umfeld. Was ihnen wichtig erscheint, legen sie in ihrer persönlichen Datenbank ab, die sie sich irgendwo in ihren Gehirnwindungen eingerichtet haben. Ein Normalsterblicher würde bei dem, was er hier zu sehen bekommt die Augen verdrehen, schreien, ohnmächtig werden oder sich wenigstens den Schweiß von der Stirn wischen. Bei den beiden flattern nicht mal die Augenlider. Sie nehmen es hin, als hätten sie das Angebot einer