Layla. Stephan Lake
genau hingucken. Wir erwarten von dir, dass du etwas hinzuverdienst neben der Schule. Dreimal die Woche in dem Supermarkt, in dem wir vergangene Woche waren, der Leiter hat mich angerufen, du kannst Montagnachmittag anfangen. Jetzt am Montag, übermorgen. Ich gebe ihm deinen Stundenplan, er setzt dich nur ein, wenn du Zeit hast. Sollte er von dir verlangen, während der Unterrichtszeit in den Laden zu kommen, auch nur ein einziges Mal während der Unterrichtszeit, rufst du mich sofort an. Die Frau Rommelfanger lässt dich telefonieren, hast du ja eben gehört. Oder du kommst vorbei. Aber ich gehe nicht davon aus. Die freuen sich da auf deine Hilfe. Das ist ein schöner Laden, sauber und alles, ich geh da auch ab und an rein, da steht niemand davor rum und trinkt Alkohol oder so, raucht. Du musst natürlich alles machen, was anfällt, Regale einräumen, LKWs entladen, so was halt. Hinten im Laden ist auch eine Fleischtheke, die wird von der Metzgerei neben dem Markt beliefert, vielleicht musst du da auch mal helfen. Ansprüche kannst du keine stellen. Du darfst nur keinen Mist bauen, dann läuft das. Und dann natürlich Schule. Das ist das Wichtigste, Elijah. Kriegst du das beides hin, Supermarkt und Schule?“
Elijah hatte oft genug davon geträumt. Zur Schule gehen. Auf eigenen Füßen stehen und nach Hause kommen und niemand ist da, der betrunken ist, rumpöbelt, Streit sucht. Niemand.
Jetzt hielt er seinen eigenen Haustürschlüssel zu seiner eigenen Wohnung in der Hand.
Er sagte, „Ja, das krieg ich hin.“
„Ich glaube auch. Ja, ich habe ein gutes Gefühl bei dir. Aber enttäusch mich nicht, Elijah.“
„Werde ich nicht, Herr Adams.“
„Sag mal, das Mädchen, mit dem du vorhin gekommen bist, die jetzt da draußen wartet, ist das deine Freundin?“
Elijah dachte nach. Sie waren Arm in Arm durch die Stadt gegangen und hatten geredet. Layla von ihrer Schule, sie ging auf eine Mädchenrealschule, wie langweilig es da wäre ohne Jungs und nach dem Schuljahr, wenn die Noten stimmten, im Moment sähe es aber nicht so danach aus, dann würde sie vielleicht aufs Gymnasium wechseln, und sie hatte ihn angezwinkert, „Vielleicht auf deins“, und später dann irgendwas mit Menschen machen, Ärztin, wenns mit dem Gymnasium klappt, Krankenschwester, wenn nicht, jedenfalls nicht zur Verwaltung wie Vater und ganz bestimmt nicht Hausfrau wie Mutter.
Er hatte gesagt, er würde Polizist werden, aber nicht in Trier.
Am Woolworth vorbei hatte es aufgehört zu regnen, und irgendwann musste er den Schirm zumachen, weil es blöde aussah, sie waren die einzigen mit geöffnetem Schirm. Er hatte den Schirm also zugemacht, und sie nahm ihren Arm weg, ging ja nicht anders. Dann aber hatte sie mit einem Ruck seine Hand gegriffen und festgehalten und nicht mehr losgelassen.
„Ich weiß nicht“, sagte Elijah. „Vielleicht.“
Adams lachte. „Das solltest du aber wissen. Nettes Mädchen, hat ganz nett Guten Tag gesagt. Egal, deine Sache, ich rede dir da nicht rein. Wer alt genug für eine eigne Wohnung ist, ist auch alt genug für eine Freundin. Nur, wenn du sie mal mit hoch nehmen willst, klär das vorher mit der Frau Rommelfanger ab. Sie wird nichts dagegen haben, denke ich, trotzdem.“
Elijah nickte.
„Noch zwei Dinge. Das hier“ – Adams zog Geld aus seiner Hosentasche und gab es Elijah – „sind zweihundert Mark. Das ist das Kindergeld, das nicht mehr an deine Eltern ausgezahlt wurde und noch was obendrauf. Drei Monate. Damit wirst du über die Runden kommen, bis es neues Kindergeld gibt und der Supermarktleiter dir deinen ersten eigenen Verdienst ausbezahlt. Jetzt zweitens, und das ist wichtig. Auflage für dieses Experiment ist, ich komm regelmäßig zu dir und guck nach. Ob du dein Zimmer sauber hältst, ob es keinen Ärger mit den Nachbarn gibt, keinen Ärger mit der Frau Rommelfanger, solche Sachen. Sie ist ja schon älter und kann nicht mehr so gut, hast du ja gesehen. Vielleicht kannst du ihr ab und an mal helfen, Einkäufe erledigen, sie geht auch in deinen Supermarkt, vielleicht kannst du ihr mal die Sachen nach Hause tragen oder so. Ansonsten, keine Zigaretten und kein Alkohol in der Wohnung, das auch. Ich werde da sehr strikt sein.“ Weil er das Gefühl hatte, Adams würde darauf warten, nickte Elijah wieder. „Zu Anfang komm ich zwei oder drei Mal die Woche, unangekündigt versteht sich. Wenn alles klappt, wir werden sehen, dann komm ich vielleicht seltener. Und in die Schule gehe ich natürlich auch.“ Adams fasste ihn bei den Schultern und sah Elijah an. „Alles klar, mein Junge?“
„Alles klar, Herr Adams. Danke für Ihre Unterstützung, Herr Adams, wirklich, vielen Dank. Machen Sie sich keine Sorgen.“
Nur Stunden später war Elijah verantwortlich dafür, dass ein Mensch sein Leben verlor.
9
Er könnte auf dem Anwaltsparkplatz parken, hatte die Anwältin ihm gesagt, drei Stellplätze würden zu ihrer Kanzlei gehören. Elijah fand die Plätze, einer belegt mit einem neu aussehenden, dunkelblauen Coupé, einer mit einem alten Golf in verblasstem Orange. Der dritte Platz war frei. Wie bei den beiden anderen stand auch hier ein Schild: Reserviert Dr. iur. Julika Vianne, Rechtsanwältin. Fachanwältin für Strafrecht. Arbeitsrecht, Familienrecht, Mediation.
Oben nannte Elijah seinen Namen, woraufhin die junge Frau hinter dem Bildschirm im selben Tonfall wie am Telefon sagte, „Frau Doktor Vianne erwartet Sie bereits. Moment, bitte“, aufstand und kurz verschwand und wieder zurückkam.
Sie lächelte, und Elijah sah, dass es nicht nur in beiden Ohrmuscheln und beiden Augenbrauen sondern auch zwischen ihren Vorderzähnen silbern blitzte. Er fragte sich, wie es möglich war, mit einem Piercing zwischen den Zähnen schmerzfrei zu essen.
„Sie können gleich zur Frau Doktor hinein.“
Mit dem Zeigefinger wies sie ihm den Weg. Zwei Ringe am Finger und der Arm bis zur Schulter bunt tätowiert.
„Ah“, machte Elijah, „die Privilegien des Privatpatienten.“
Ihr Lächeln und das silberne Blitzen verschwanden. „Bitte?“
„Danke.“
Die Tür stand offen, und eine Frau kam ihm entgegen. Kurzgewachsen und sehr rundlich, helles, leichtes Kleid, flache Schuhe, offener Blick aus dunklen Augen.
„Vianne. Grüße Sie, Herr Leblanc.“
Sie streckte Elijah ihre Hand entgegen. Der Druck war kurz und fest und passte zu ihrer Stimme. „Privatpatienten? Was meinen Sie damit?“
„Ein Scherz, Frau Doktor.“
„Oh, hat Alex wieder nur ... Alex, du hast wieder Frau Doktor gesagt.“
Sie bekam keine Antwort.
„Alex hört nicht. Oder sie will nicht hören. Hat sie ihre Kopfhörer auf?“
„Nein. Wäre auch schmerzhaft bei all dem Silber.“
„Dann will sie nicht hören. Darf man nicht zu ernst nehmen, sie ist ansonsten eine ganz Liebe.“
Die Anwältin schien über den eigenen Kopf ihrer Mitarbeiterin nicht verärgert, was Elijah ein wenig wunderte. Die Anwälte, die er kannte, waren meist mürrisch, nicht selten geradezu feindselig. Die Anwältinnen, die er kannte, auch. Aber vielleicht hatte das mit ihm zu tun. Schließlich wollte er die Mandanten dieser Anwälte und Anwältinnen in der Regel für lange Zeit ins Gefängnis bringen.
„Ich habe alles für Sie vorbereitet. Kommen Sie.“
Sie gingen einen schmalen Gang hinunter, Elijah mit wenigen großen Schritten, die Anwältin mit vielen kleinen.
„Seit wann ist Snydr Ihr Mandant, Frau Doktor? Seit vierzehn Tagen?“
„Nur Vianne. Und hier hinein, bitte.“
Eine Glastür führte in einen Besprechungsraum mit Tisch und Sitzplätzen für sechs Personen, an denen niemand saß. Vier geöffnete Fenster ließen viel Licht und Hitze herein. Vianne drückte einen Knopf und Jalousien surrten herunter. Das helle Licht wurde abgeschirmt, die Hitze nicht. „Etwas länger“, sagte sie. „Drei Wochen.“