Wenn die Nacht stirbt und dunkle Mächte sich erheben. Lisa Lamp

Wenn die Nacht stirbt und dunkle Mächte sich erheben - Lisa Lamp


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war, und zeigte uns Bilder von früher, als sie noch ein Kind war. Auf vielen Fotos war auch die Direktorin zu sehen, wie sie Eis aß oder sich die Zähne putzte, weshalb die Abbildungen für spontane Lachanfälle sorgten. Niemand hätte erwartet, dass die Rektorin früher klein und niedlich gewesen war, bevor sie zur furchteinflößenden Schulleiterin wurde. Das letzte Bild ließ jedoch das Lächeln auf meinen Lippen verblassen. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in mir aus und ich musste mich stark konzentrieren, um zu verhindern, dass mir die Tränen über die heißen Wangen liefen. Die Fotografie war jünger, ungefähr zwanzig Jahre alt. Sie zeigte das Ratsmitglied und die Direktorin vor dem Schulgebäude. Aber weder Regans kurz geschorene, pinke Haare noch das narbenlose Gesicht der Schulleiterin erschütterte mich, sondern das Mädchen, das zwischen ihnen stand. Sie hatte die gleiche schwarze Haarpracht wie ich und auch dieselben verschnörkelten, weinroten Tätowierungen. Meine leibliche Mutter lächelte an diesem Tag, der nur noch eine Erinnerung war, in die Kamera, während sie sich offensichtlich mit ihren Klassenkameradin-nen, die die gleiche Schuluniform mit dem Schullogo trugen, unterhielt. Die drei Frauen hatten die Arme umeinandergeschlungen und glichen Dir, Tara und mir. Sie wirkten einander vertraut, als würden sie sich schon ewig kennen und gleichzeitig waren sie absolut unterschiedlich. Regan war die Bunte, die Fröhliche, wie du es gewesen warst, bevor Du starbst. Sie grinste und zog eine Grimasse, während sie hinter dem Kopf meiner Mutter mit ihren Fingern Hasenohren imitierte. Die Rektorin hingegen trug ausschließlich Schwarz und wirkte wie eine Schauspielerin, die in einem alten Vampirfilm mitspielte, ähnlich wie Taranee. Sie war blass. Ihre Mundwinkel waren nur leicht verzogen, aber in ihren Augen lag Belustigung. Ihre Arme hatte sie freundschaftlich um die Taille meiner Mama geschlungen und ihr Blick war auf das Gesicht von Regan gerichtet. Im Vordergrund stand meine Mutter, die ich nie kennenlernen durfte, doch sie hatte den gleichen traurigen Ausdruck in den Augen wie ich, wenn ich morgens in den Spiegel sah. Trotz der großen Nase, die nicht ganz in ihr Gesicht passen wollte, war sie eine Schönheit gewesen, mit der ihre Freundinnen nicht mithalten konnten. Sie strahlte von innen heraus. Wehmütig betrachtete ich das Bild, als es zum Stundenende klingelte, und starrte schockiert auf die Uhr, weil ich nicht glauben konnte, dass die Zeit so schnell vergangen war. Vereinzelt packten die Schüler ihre Sachen zusammen, um in den nächsten Unterricht zu gehen. Ich tat es ihnen gleich und wiederholte in Gedanken die Informationen der letzten Stunde, um mich von meiner depressiven Stimmung abzulenken.

      »Read, du bleibst bitte noch«, sprach Regan mich an und ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Tara schenkte mir einen mitleidigen Blick, bevor sie Jaimie aus der Klasse folgte. Hunter, der dicht hinter mir stand, flüsterte mir etwas in mein rechtes Ohr und drückte meine Schulter.

      »Soll ich hierbleiben und auf dich warten?«, wollte er besorgt wissen und musterte Regan misstrauisch. Wenn das Ratsmitglied auf Rabianas Seite war, wäre es nicht ratsam, mit ihr allein in einem Raum zu sein, aber wenn sie es nicht war, würde sie sicher nicht Klartext reden, wenn außer mir jemand im Zimmer war. Mutter war ihre Freundin gewesen. Sie hatte der Lehrerin vertraut. Vielleicht war das ein Zeichen, dass auch ich versuchen sollte, Regan eine Chance zu geben. Deshalb schüttelte ich den Kopf und kassierte dafür einen verletzten Gesichtsausdruck von Hunter, weil er lieber auf mich aufgepasst hätte. Traurig schlang er einen Arm um meinen Körper, sodass ich seine Bauchmuskeln an meinem Rücken spüren konnte. Kurz stockte mein Atem und ich biss mir auf die Lippen. Verdammt! Das fühlte sich so gut an. Mein Blut erhitzte sich, während ich mich einen Augenblick an meinen Gemahl lehnte und seinen unverwechselbaren Geruch einzog. Zur Wiedergutmachung drückte ich ihm meine Tasche in die Hand und küsste seine Wange, bevor ich ihn bat, meine Sachen in den Chemiesaal mitzunehmen und dort auf mich zu warten. Ich hasste es, Hunter deprimiert zu sehen. Viel lieber beobachtete ich ihn beim Lächeln, auch wenn sein Schmollen ihn niedlich aussehen ließ.

      »Kommst du jetzt oder bist du neuerdings bei ihr angewachsen?«, stichelte Jona belustigt, woraufhin sein jüngerer Bruder ihm die Zunge zeigte und sich von mir löste. Auch ich lachte über Jonathans Bemerkung und verdrehte die Augen. Jona hatte recht. Hunter und ich klebten aneinander und das war meinen Freunden nicht entgangen. Ob sie schon Wetten abschlossen, wann ich mich endlich zu Hunter bekennen würde?

      Als sich der Klassenraum leerte, schritt ich langsam auf den Lehrertisch zu. Regan ließ mich keine Sekunde aus den Augen und richtete sich von der Mappe, in der sie vor Kurzem noch geschrieben hatte, auf. Ihre Mine war ausdruckslos. Sie musterte mich und ich fühlte mich nackt unter ihrem Blick. Es war, als könnte sie tief in meine Seele blicken und jedes Detail meines Lebens ergründen. Zum zweiten Mal an diesem Tag überzog eine Gänsehaut meinen Körper.

      »Es ist schön, dich persönlich kennenzulernen, Miss Holl«, säuselte sie, wurde aber sofort von mir unterbrochen: »Silverton. Mein Name ist Read Silverton.« Ich wusste, dass ich mich lächerlich benahm, immerhin wusste ich genau, dass ich nicht mit der Silverton-Familie verwandt war, aber der Name beruhigte mich auf eine gewisse Weise. Er gab mir Halt. Ich war immer Read Silverton gewesen, und selbst nachdem ich herausgefunden hatte, dass ich die Tochter von Retta Holl und somit die zukünftige Königin war, wollte ich immer noch ich selbst sein. Zumindest wollte ich mir meinen alten Nachnamen, alles was von meinem früheren Leben übrig geblieben war, nicht wegnehmen lassen, auch wenn der Name mich an die Verlogenheit meiner Ziehmutter erinnerte. Außerdem war es schön, eine letzte Verbindung zu meinem Ziehbruder zu haben, den ich nie wiedersehen würde.

      »Natürlich«, entschuldige sich das Mitglied des Hohen Rates zögerlich und Traurigkeit flackerte in ihren Augen auf.

      »Es tut mir leid, aber du erinnerst mich so sehr an sie«, flüsterte sie und lächelte bedrückt.

      »An wen?«, fragte ich schneidend und versuchte mir meine eigenen Gefühle, die mich zu überwältigen drohten, nicht anmerken zu lassen.

      »An deine Mutter.«

      Alle meine Gesichtszüge entgleisten und ich starrte sie mit offenem Mund an. In den letzten Wochen hatten viele Menschen erwähnt, wie einzigartig meine Verwandtschaft und wie rein unser Blut war, aber niemand hatte bis jetzt verlauten lassen, dass ich meiner Mum glich. Selbstverständlich fiel mir selbst die Ähnlichkeit auf, aber es war etwas vollkommen anderes, es gesagt zu bekommen.

      »Sie hatte auch diese pechschwarzen Haare und die grünen Augen. Wenn ich mich recht erinnere, war sie sogar so groß wie du, aber das Kinn hast du von deinem Vater«, holte das Ratsmitglied in ihrer Erzählung aus und eigentlich wollte ich sie unterbrechen, um sie nach Rabiana zu fragen, aber in diesem Moment erschien es mir gar nicht mehr so wichtig. Viel lieber wollte ich jedes Wort über meine Eltern aus dem Mund der Hexe hören. Wer von beiden hatte in der Beziehung die Hosen an? War ich ein Wunschkind? Wäre ich kein Einzelkind, wenn sie nicht gejagt worden wären? Wie haben sie sich kennengelernt? Unzählige Fragen schwirrten in meinem Kopf, doch es war mir egal, ob ich etwas Wichtiges über sie erfahren würde, oder nur etwas so Banales wie welche Musikrichtung sie bevorzugt haben. Vielleicht, wenn ich mehr über meine Wurzeln in Erfahrung bringen könnte, würde ich mich endlich wieder wie etwas Ganzes fühlen. Gerade gehörte ich nämlich weder zu den Silvertons noch zu der Holl-Familie. Ich gehörte zu niemandem, und auch wenn meine Freunde immer für mich da waren, war es nicht dasselbe wie eine Familie zu haben, die einen seit Kindheitstagen kennt oder wenigstens die gleiche DNA teilt.

      »Read? Alles in Ordnung?«, fragte Regan unsicher, als sie meinen abwesenden Blick bemerkte. Nein, es war gar nichts in Ordnung.

      »Wie waren sie so?«, fragte ich schniefend und die Ältere lachte erleichtert.

      »Sie waren wie du. Besonders Retta. Dein Vater war immer der Bequemere von beiden, aber dafür war er der loyalste Freund, den du dir nur vorstellen kannst. Deine Mutter hingegen war wie ein durchfahrender Zug. Laut, schnell und unbezwingbar von außen. Sie überrollte alles und jeden, der sich ihr in den Weg stellte, um zu beschützen, was ihr am wichtigsten war. Du warst ihr am wichtigsten Read. Vom ersten Augenblick an. Obwohl dein Vater den Kinderwunsch geäußert hatte, war deine Mutter gleich Feuer und Flamme«, erzählte Regan und ihr Gesicht strahlte vor Glück. Jedoch war es für mich schwer, mir das blutende Mädchen mit dem Baby aus der Geschichte meiner Ziehmutter vorzustellen, wie sie Kindergewand kaufte und eine Wiege aussuchte.

      »Sie haben dich so unendlich geliebt«, flüsterte die Hexe und wischte mir eine Träne aus dem


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