Valla - Zwischen Hölle und Fegefeuer. Lisa Lamp
menschlichen Fingern, das eine Uhr darstellen sollte. Unpünktlichkeit passte nicht zu ihm. Ganz und gar nicht. Selbst nach dem Angriff der Engel hatte er am nächsten Tag zur normalen Zeit den Unterricht gestartet und dabei war seine Frau während des Kampfes ums Leben gekommen. Er war sogar so streng gewesen, dass er trotz der Katastrophe Schüler von der Lerneinheit ausgeschlossen hatte, weil sie nicht rechtzeitig gekommen waren oder angefangen hatten zu weinen. Und nun kam er an einem Tag wie jedem anderen zu spät?
»Ist er auch nicht«, stimmte Sil mir zu und folgte meinem Blick zur Uhr. Irritiert fuhr sie sich über das Gesicht, bevor sie den Kopf aufmerksam in die Richtung des Nebentisches drehte, an dem sich zwei Schüler unterhielten.
»Wisst ihr, wo der Meister bleibt?«, fragte Sil freundlich und unterbrach damit das Gespräch der beiden.
Sie musterten erst meine Freundin und sahen daraufhin mich abschätzig an, was ich gekonnt ignorierte. Dennoch traf mich der Hass in ihren Augen und die Arroganz, mit der sie über mich urteilten. Ich wagte zu bezweifeln, dass sie selbst am Tag des Angriffs gekämpft hatten. Aber es war leichter, über mich zu richten, als sich selbst einzugestehen, dass man auch nichts beigetragen hatte, um den Schaden abzuwenden.
»Nein, aber in den anderen Klassen hat der Unterricht auch noch nicht begonnen. Niemand hat jemanden vom Lehrpersonal gesehen«, antwortete eine der beiden, nachdem ich ihr Starren unkommentiert ließ und mich auch auf kein Starr-Duell einließ. Doch ihre Worte waren unbedeutend, weil in diesem Moment die Wand krachte und zu bröckeln begann. Im Eingang erschien Meister Asmodäus, der stehen blieb, seinen Blick über die Schüler schweifen ließ und laut verkündete:
»Die Prüfung fällt heute aus. Der restliche Unterricht ebenfalls. Packen Sie zusammen und verlassen Sie umgehend das Schulgelände.«
Dann machte er kehrt, lief den Gang entlang und verschwand hinter der nächsten Ecke. Verwirrtes Gemurmel brach unter den Schülern aus und auch ich schüttelte irritiert den Kopf. Was zum Teufel war das? Abgesehen davon, dass ich mir umsonst die Nacht um die Ohren geschlagen hatte, um zu lernen, war sofort klar, dass irgendetwas geschehen war. Meister Asmodäus war ein hochgewachsener Mann, der auf sein Aussehen wert legte. Er trug jeden Tag einen Anzug, die grau melierten Haare waren mittels Gel perfekt nach hinten gekämmt und schwarze Lackschuhe rundeten das Outfit ab. Doch heute standen seine Strähnen wirr in alle Richtungen ab. Sein Hemd war zerknittert und anstatt der Anzugshose hatte er eine Jogginghose an, die auf dem Schenkel einen Fleck aufwies. Es sah aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Außerdem waren tiefe Sorgenfalten in seinem Gesicht zu erkennen, die ihn zehn Jahre älter wirken ließen. Er war blass, wodurch die Augenringe noch mehr hervorstachen.
»Was ist denn los? Weißt du, was passiert ist?«, fragte Silvania mich beunruhigt und sah immer noch auf die Stelle, wo Asmodäus verschwunden war.
In der Zwischenzeit hatte sich die Wand wieder aufgebaut, aber dahinter waren deutlich Stimmen zu hören. Andere Schüler, die wie wir spekulierten. Allem Anschein nach wurde das gesamte Gebäude geräumt.
»Keine Ahnung, aber irgendwas stimmt hier nicht und Meister Asmodäus’ Abgang ist kein gutes Omen, wenn du mich fragst.«
Auf Silvanias Züge legte sich ein hinterhältiges Grinsen und sie blickte mich verschwörerisch an, als hätte sie vor eine Dummheit zu begehen. Und dumm war noch untertrieben. Wahnsinnig, geisteskrank, todesmutig.
»Also bleiben wir und versuchen herauszufinden, was hier gespielt wird?«, wollte sie mit gesengter Stimme wissen, während ich meine Sachen zusammenpackte, aufstand und meine Tasche schulterte. Sil tat es mir gleich, blieb aber demonstrativ stehen, anstatt wie die anderen den Raum zu verlassen. »Komm, ich weiß, dass es dich genauso interessiert wie mich.«
Das entsprach der Wahrheit. Natürlich war ich neugierig. Wer würde das in so einer Situation nicht sein? Doch ich konnte es nicht riskieren, wieder negativ aufzufallen. Es gab sogar bei den Meistern einige wenige, die trotz meiner Leistungen kaum mit mir sprachen und mich bei jedem Fehltritt absichtlich zu hart bestraften, um ein Zeichen zu setzen. Für sie wäre es die perfekte Gelegenheit, mich doch noch von der Akademie zu schmeißen.
»Nein. Bist du verrückt? Wir stehen kurz vor unserem Abschluss. Ich habe keine Lust, mir noch Ärger einzuhandeln«, meinte ich und bereute, dass meine Stimme so harsch klang.
Sil war meine Freundin. Sie hatte es nicht verdient, dass ich sie anschnauzte. Aber ich konnte nicht anders. Verstand sie nicht, dass uns das in Teufels Küche bringen könnte? Was wäre, wenn das Gebäude drohte einzustürzen und wir wären noch drinnen, weil wir nicht auf den Meister gehört hatten?
»Schön, wie du meinst. Du kannst ja verschwinden. Ich will erst sichergehen, dass alle anderen Klassen auch Bescheid wissen. Nicht, dass diejenigen, die gerade eine Freistunde haben, nicht informiert werden«, sagte Sil bestimmt und ging erhobenen Hauptes auf den Ausgang zu, ohne auf mich zu warten.
Eigentlich war ihre Idee nicht schlecht, obwohl ich bezweifelte, dass die Meister diese Klassen vergessen würden. Dennoch war an der Sache etwas faul. Silvania war nett zu allen, die ihr auf den Schulgängen begegneten, auch wenn sie ihr unbekannt waren. Aber extra loszuziehen, um Fremde über die Schließung der Schule zu informieren? Das klang gar nicht nach Sil.
»Halt! Du bist nicht so pflichtbewusst. Welche Klasse hat gerade keinen Unterricht?«, wollte ich vorwurfsvoll wissen und eilte ihr hinterher.
»Ist das wichtig? Wir sollten uns nicht mit solchen irrelevanten Details aufhalten, oder?«, erwiderte sie, drehte sich aber nicht zu mir um. Somit konnte ich ihr Gesicht nicht sehen. Doch ich hörte das unterdrückte Lachen in ihrer Stimme. Ich hatte also Recht.
»Es ist Nikolais, richtig? Von keiner anderen der knapp dreißig Klassen kennst du die Stundenpläne auswendig. Sil, bitte! Vergiss den Typen endlich«, stöhnte ich genervt und legte ihr eine Hand auf die Schulter, damit sie stehenblieb. »Du bist zu gut für ihn. Jemand wie er hat dich nicht verdient. Du brauchst einen Mann, dem du nicht wie ein räudiger Köter nachlaufen musst. Wenn du dich für immer auf Nikolai versteifst, wirst du allein bleiben, bis du alt und vertrocknet bist.«
Ich wusste zwar nicht, was daran so schlimm sein sollte, sein Leben allein zu meistern und nur sich selbst Rechenschaft ablegen zu müssen, aber Silvania schien es Angst zu machen. Wie die menschlichen Mädchen jagte sie der Illusion eines perfekten Gegenstücks hinterher und wurde nur enttäuscht.
»Für immer«, hauchte sie mit melancholischer Stimme und drehte sich zu mir um, sodass ich das Zucken ihrer Mundwinkel sah, die ein Lächeln andeuteten. »Das will ich. Aber ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«
Sie machte eine kurze Pause, doch es kam mir vor, als würde sie noch viel mehr sagen wollen. Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder. Sie verzog die Lippen zu einem dünnen Strich.
»Kommst du mit oder nicht? Mehr will ich nicht wissen. Wenn nicht, suche ich ohne dich. Doch ich werde nicht einfach gehen, ohne zu wissen, wo er ist.«
»Ehrlich, was findest du an ihm?«
Verzweifelt sah ich sie an, doch sie reagierte nicht auf meine Frage, was mich seufzen ließ. Es war auch niemand mehr da, um mir zu helfen, sie zu Vernunft zu bringen. Was sollte ich tun? Einfach gehen? Das stand nicht zur Debatte. Sil würde mich auch nicht allein lassen, wenn ich drohte, in mein Verderben zu laufen, und ich war mir sicher, dass es nicht gut für sie enden würde. Im schlimmsten Fall wäre Nikolai schon mit seinen Freunden draußen und wir würden umsonst alle Räume absuchen. Im besten Fall würden wir ihn finden und er würde Sil auslachen, weil sie ihn gesucht hatte.
»Wenn wir jemandem in die Arme laufen, wälze ich die Schuld auf dich ab«, entschied ich und hoffte, dass die Meister verstehen würden, dass ich es als sicherer empfunden hatte, mit Silvania zu gehen, statt sie allein durch die Akademie streifen zu lassen.
»Danke«, sagte sie und ihr Gesicht erhellte sich. Sie strahlte mich an, als hätte ich ihr erzählt, dass sie zum Teufel persönlich eingeladen wurde, legte ihre Arme um mich und drückte mich fest an sich. Die Umarmung war für mich so ungewohnt, dass ich wie angewurzelt dastand, statt meine Arme um sie zu legen. Wann war es das letzte Mal vorgekommen, dass ich jemand anderem so nah