Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch. Walther Kabel

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Er weiß, daß wir – gerade wir beide! – in einer halben Stunde spätestens frei sein werden!“

      „Er weiß –?“ stammelte ich?

      „Er weiß es und er will es! Die Geschichte mit der Eisdecke, die herabfallen soll, ist natürlich Unsinn! Orstra wollte nur den Anschein erwecken, als wäre es ihm ernst mit seiner Absicht, uns zu töten!“

      Ich begriff noch immer nicht vollständig.

      „Wie – und wir sollen fliehen?! Das – das ist aber doch ausgeschlossen!“

      „Nachher – nachher! – So – paß mal auf!“ Und er beugte den Kopf, wand sich hin und her, erreichte mit den Zähnen die Knoten der Stricke, die meine Arme auf der Brust gekreuzt hielten.

      Es dauerte keine fünf Minuten, und ich hatte die Hände frei.

      Dann – dann reckten und streckten wir uns, brachten das Blut in Bewegung.

      Harst lachte – lachte und zog seine Clement aus der Tasche.

      „Sogar die Waffen hat er uns gelassen! Muß er seiner Sache sicher sein –!“

      Er nahm den Patronenrahmen heraus, prüfte die Patronen. „Man kann nie wissen. Er könnte auch das Pulver ausgeschüttet haben!“

      Der Rahmen glitt in den Kolben zurück. Harst spannte die Clement, griff nach der Laterne.

      „Vorwärts! Jetzt nach dem Haukeli!“

      Er ging voran. Es war eine mühselige Kletterpartie durch einen schrägen Eiskamin.

      Sternenlicht über uns. Und Harst warf die Laterne in den Kamin zurück, sagte: „Es ist der erste Gletscher von Haukeli aus gerechnet. Da – drüben liegt der zweite mehr nach Odda zu!“

      Wir standen auf dem Gletscher hoch über der Bergstraße. Wie ein breiter, weißer Strich zog der Gletscher sich über die berühmte Kunststraße hinweg.

      Wir kletterten seitlich hinab, erreichten die Straße, setzten uns in Trab. Der Dauerlauf tat uns gut. Dann die Haukeli-Hochebene, eine Schneehalde, dicht dabei weidende Ziegen mit leise tönenden Glöckchen.

      Harst fiel in Schritt, bog nach links ab.

      „Wir wollen immerhin vorsichtig sein,“ meinte er.

      „Und nun?“ fragte ich gespannt.

      Er schwieg, sagte dann unvermittelt:

      „Ich gebe zu es ist schwer, Orstras Spiel zu durchschauen. Er ist ohne Frage intelligent. Nur – er macht Fehler. Er wußte, daß es einen sehr originellen Professor Lörax gibt. Er spielte den Lörax in allem ausgezeichnet. Die Maske war tadellos. Nur – nur hätte er an seine Hände denken sollen!“

      „Ah – Lörax war Orstra?!“

      „Er war es! Ich merkte es sehr bald in der Steinhütte – sehr bald. Die drei Kerzen gaben genügend Licht. Ich führte Dich nachher halb und halb aufs Glatteis, mein Alter, als ich Dir sagte, Lörax könne als Professor sehr wohl mit zu den Masken-Brüdern gehören. Ich glaubte, Du würdest dadurch auf Orstra kommen –“

      „Aber – weshalb ließ er uns frei – weshalb machte er uns die Flucht so leicht?!“

      „Verbrechereitelkeit, – das betonte ich ja bereits! Er will mir imponieren! Aber – er hat sich selbst mir in die Hände gegeben. Ich durchschaue alles. – Überlege Dir mal: ist es nicht ein übergroßes Risiko, daß die drei Millionen auf dem Haukeli-Kegel niedergelegt werden sollen?! Wäre es nicht Leichtsinn von ihm, wollte er sie von dort holen oder dort in Empfang nehmen?! Kann dort nicht noch ein Hinterhalt für ihn vorbereitet werden?! – Sieh’, dies stieß mir in dem ersten Drohbrief sofort auf – dieser Befehl, daß die drei Millionen auf der Bergkuppe deponiert werden sollten. Und als ich dann Lörax als Orstra erkannt hatte, als ich davon ganz laut in der Hütte sprach, daß Lörax Mary Colding geraten haben könne, den zweiten Drohbrief zu fabrizieren, als der Lauscher draußen, besser die Lauscherin, dies schleunigst Lörax-Orstra meldete, als ich dann auf sein Erscheinen wartete und als wir betäubt wurden und Orstra-Lörax später in der Eishöhle behauptete, sein Helfershelfer hätte den zweiten Brief geschrieben, da, mein Alter, da war mir Orstra wirklich ins Garn gegangen, da hatte er mir den Beweis geliefert, daß er um jeden Preis jede Spur eines gegen Lörax auftauchenden Verdachts zerstreuen wollte, daß also – Lörax es sein würde, Orstra in Lörax’ Maske, der die drei Millionen als Vertrauter der Schwestern Colding sich aneignen wollte!“

      Nun verstand ich.

      „Orstra-Lörax wird das Geld den Schwestern stehlen, sobald es hier in Haukeli eingetroffen ist,“ sagte ich rasch.

      „Ja – und es wird in dieser Nacht eintreffen! Der Dampfer von Bergen aus erreicht Odda um neun Uhr abends. Wenn der Abgesandte des amerikanischen Konsuls in Bergen dann ein Auto besteigt, kann er gegen Mitternacht hier sein. Dies werden sich auch die Schwestern Colding berechnet haben. Sie werden auf das Geld und den Abgesandten warten; sie werden die drei Millionen vielleicht nicht für den Rest der Nacht bei sich behalten wollen. Lörax-Orstra wird es ihnen schon nahelegen, das Geld ihm anzuvertrauen. Und – hat er es, dann wird er mit seiner „Frau“ sofort flüchten – in die Berge – irgendwohin! Auch diese Flucht dürfte er vorbereitet haben. Von uns nimmt er an, daß wir uns irgendwo in der Nähe des Haukeli-Kegels verbergen werden. Und dann – hofft er – dann haben wir das Nachsehen! Dann sind wir die Blamierten!“

      „Ein feines Plänchen!“ – Ich lächelte ironisch.

      Wir näherten uns von Westen den Stallgebäuden der Haukeli-Hütte; wir begannen zu kriechen. So erreichten wir den Vorplatz. Hier standen ein paar zweiräderige Wagen und ein Auto. Wir schlüpften in das Auto hinein, spähten über den Türrand hinweg.

      Zwei Fenster im Seitenanbau der Hütte waren erleuchtet. Auf den Vorhängen zeichneten sich hin und wieder die Schatten von Frauengestalten ab.

      „Die Schwestern! Sie warten!“ flüsterte Harald.

      Wir blickten nach der anderen Seite, nach den Unterkunftshäusern. Dort alles dunkel.

      Die Zeit verstrich.

      Die Eingangstür des Anbaus öffnete sich leise. Jane Colding trat in den Mondschein hinaus, ging ein Stück nach Norden den Weg entlang. Von dort mußte das Geldauto kommen.

      Es kam nicht. –

      Jane näherte sich unserem Versteck.

      Harst rief sie leise an.

      „Oh – Sie!“ entfuhr es Jane. Und fügte überstürzt hinzu: „Der Konsul schickte heute ein zweites Telegramm. Ein Herr aus Odda bringt das Geld im eigenen Auto her. Das Auto sollte um Mitternacht hier sein. Jetzt ist es bereits ein halb eins –“

      Harst hatte sich aufgerichtet, griff sich an die Stirn, stand wie eine Bildsäule.

      Dann – ein Satz – hinaus aus dem Kraftwagen, eine hastige Frage an Jane.

      „Dort wohnt der Professor!“ erwiderte sie.

      Wir stürmten dem Holzhause zu.

      Harst drückte die Tür auf. Sie war unverschlossen.

      Unsere Taschenlampen warfen grelle Lichtstreifen in die Zimmer – über leere Betten – über die blinkenden Küchengeräte – über die Falltür, die aus der Küche in den Keller führte.

      Die Falltür flog auf.

      Eine steile Treppe; unten drei Verschläge; und in dem letzten auf Stroh und Säcken – der reichste Mann Amerikas: Colding! Gebunden, geknebelt –!

      Harsts Messer fuhr durch die Stricke.

      Jane Colding war uns gefolgt. – „Sorgen Sie für Ihren Vater!“ rief Harald.

      Wir jagten hinaus dem Auto zu – auf den Vorplatz.


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