Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch. Walther Kabel

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      Von Christiania aus erreicht man Skien in fünf Stunden. – Die Fahrt bot wenig Interessantes. Wir waren in einem Abteil 1. Klasse allein, hatten es uns recht behaglich gemacht und sorgten dafür, daß die Luft im Abteil stets mit Rauch geschwängert blieb. Harald verqualmte in den fünf Stunden mindestens vierzig seiner Mirakulum, las Zeitungen und war überraschend maulfaul.

      Als ich zu ihm geäußert hatte, daß man aus der Tatsache der Reisen Thora Olavsens nach Skien doch kaum darauf schließen könne, Ruperti würde in Skien auch jetzt seinen Schlupfwinkel haben, hatte er mit seiner überlegenen Ruhe geantwortet:

      „Lieber Alter, es steht fest, daß Ruperti und Thora viermal im vergangenen Sommer hier Stelldicheins in Norwegen hatten. Da sie beide vielen Leuten in Norwegen von Ansehen bekannt waren, mußten sie für diese Stelldicheins einen ganz entlegenen Ort wählen, irgend ein Dörfchen oder dergleichen, wo sie sich fraglos als Ehepaar ausgaben und wahrscheinlich stets dieselbe Wohnung wählten. Daß es stets derselbe Ort war, beweist ja schon der Umstand der viermaligen heimlichen Reise Thoras nach Skien. Also muß der Schlupfwinkel des Paares irgendwo in der Nähe von Skien sich befunden haben. – Versetze Dich nun einmal in die Lage eines verfolgten Verbrechers – in Rupertis Lage! Er weiß, daß er in diesem Schlupfwinkel dort in Norwegen, wo er natürlich einen anderen Namen getragen hatte, als harmloser Tourist oder dergleichen bekannt ist, daß man ihn außerdem, da er dort stets verkleidet auftrat, niemals für den steckbrieflich verfolgten Hans Ruperti halten oder erkennen wird. Würdest Du in seiner Lage nicht auch diesen Zufluchtsort wählen, wo Du den wenigen Leuten sagen könntest, Deine Frau sei Dir verstorben und Du wolltest nun hier in der Einsamkeit über diesen Verlust hinwegzukommen suchen: würden Dich die biederen Landbewohner dann nicht noch ehrlich bemitleiden: würdest Du Dich dort nicht ganz sicher fühlen können – sicherer als anderswo?! Könntest Du dann nicht dieses Standquartier getrost hin und wieder verlassen? Könntest Du in dem entlegenen Orte nicht ein Häuschen mieten und dort – Sigurd Olavsen bewachen, nachdem Du ihn dorthin geschafft hast – vielleicht mit einem eigenen Einspänner in einer Kiste oder sonstwie? – Ja – das könntest Du alles. Denn die Leute dort kennen Dich ja von früher her als harmlosen Menschen. – Sieh’, so mag auch Ruperti gedacht haben. Und – deswegen fahren wir nach Skien!“

      Da hatte ich nur genickt. All das leuchtete mir ja ein.

       Am Gletscherbach

       Inhaltsverzeichnis

      In Skien kam dann die große Überraschung: wir stellten fest, daß Thora Olavsen ihr Motorrad viermal mit einem der Dampfer der Linie Skien-Dahlen bis Dahlen hatte bringen lassen und auch selbst diese Fahrt viermal hin und zurück gemacht hatte.

      Was blieb uns übrig, als ebenfalls am folgenden Tage durch die Hochlandseen von Telemarken und die großartigen Schleusen uns bis ins Hochgebirge, bis nach Dahlen, einem mittleren Dorfe, zu begeben?! Sieben Stunden dauerte diese Dampferfahrt – übrigens eine der schönsten, die ich je genossen habe.

      Dahlen besitzt ein großes Touristenhotel, denn der Ort ist der eine Endpunkt der Autobergstraße Dahlen-Odda. – Hier in Dahlen eine neue Überraschung: Thora Olavsen hatte von hier mit ihrem Motorrad stets sofort nach Ankunft des Tourdampfers die Reise fortgesetzt. –

      Da wir Dahlen später nochmals besuchen mußten und zwar aus einem ähnlichen Grunde, wie ich in einem der späteren Bände berichten werde, will ich mich mit einer Schilderung der Umgebung von Dahlen, der Bergstraße und so weiter nicht aufhalten.

      Jedenfalls: wir nahmen am folgenden Morgen ein Auto und verfolgten Thoras Spur bis zu der am Südende des Hardangerfjordes gelegenen Stadt Odda, wo wir gegen fünf Uhr nachmittags eintrafen.

      Das Hotel Hardanger, in dem wir abstiegen, hatte erst vor wenigen Tagen seine Pforten geöffnet. Es ist ein Touristenhotel wie tausend andere in Norwegen, ganz auf den Sommerverkehr eingestellt, dabei peinlich sauber und verhältnismäßig billig. Im Speisesaal waren außer uns nur noch vier Personen anwesend, als wir uns hier gegen sieben Uhr ein reichliches Abendessen servieren ließen. Es wurde an einzelnen Tischen gespeist. Die vier Personen waren ein jüngeres Ehepaar und zwei einzelne Herren, offenbar Touristen. So waren denn im ganzen mit dem unsern vier Tische besetzt.

      Unwillkürlich hatte ich diese anderen Hotelgäste etwas schärfer gemustert, obwohl es an ihnen nichts Besonderes zu sehen gab. Harald zeigte nur Interesse für eine Spezialkarte des Hardangerfjords, die er neben seinem Teller ausgebreitet hatte, und für die Speisen.

      Dann deutete er mit dem Zeigefinger auf die Karte und sagte in gewöhnlichem Tone:

      „Hier – überall Gletscher und Schneefelder nördlich von Odda, die selbst im Hochsommer ihre kühlen Luftwellen bis in dieses tiefe Tal hinabsenden –“

      Ich hatte mich nach links gebeugt und einen Blick auf die Karte geworfen.

      Er sprach etwas leiser weiter: „Laß bitte dieses neugierige Anstarren unserer Nachbarn!“

      „Weshalb?“ fragte ich überrascht.

      Er antwortete nicht, sondern rief dem Mädchen, das hier bediente und das gerade durch die Tür verschwand, etwas nach. Sie hörte es nicht mehr. Er erhob sich ärgerlich, warf seine Serviette auf die Karte und eilte ihr nach. Als er nach drei bis vier Minuten zurückkehrte, kam das Mädchen mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern auf einem Tablett hinter ihm her. Er nahm Platz, füllte die Gläser und trank mir zu.

      All das war an sich so harmlos. Niemandem konnte dabei etwas aufgefallen sein. Und doch war ich überzeugt, daß Harald draußen nicht nur den Wein bestellt hatte.

      Abermals sprach er über die eigentümliche Lage der kleinen Industriestadt Odda in diesem von himmelhohen Wänden begrenzten Tale, dessen Ränder weißlich schimmerten von den nie wegschmelzenden Schneemassen. Und wieder dann ganz plötzlich eine Bemerkung, die mit einem Schlage diesem friedlichen Speisesaale ein anderes Aussehen zu geben schien.

      „Der bucklige, graubärtige Herr mit der grauen Künstlermähne am zweiten Tische schräg gegenüber hat eins bei seiner Verkleidung vergessen: daß jeder echte Bucklige sehr lange Arme und einen ganz bestimmten Gang hat. Als er sich vorhin die Zeitung vom Ständer holte, wurde ich auf ihn aufmerksam –“ – Sein Zeigefinger fuhr dabei wieder über die Karte hin, und ich stierte auf diesen Finger wie hypnotisiert.

      „Ich habe mich draußen dem Hotelbesitzer zu erkennen gegeben. Er sagte mir, der Herr sei ein deutscher Maler namens Heinrich Raupach, der oben auf dem Buarbrä-Gletscher [Buarbreen] im vorigen Frühjahr eine Steinhütte gekauft und dort dann zuweilen gewohnt hätte. Im Herbst sei er dann ganz dorthin übergesiedelt, um eine Anzahl Gletschergemälde fertigzustellen. – Heinrich Raupach – H – R – Hans Ruperti! Was meinst Du: ob das stimmen kann?! Ich denke ja! – Dieser Raupach nimmt hier im Hotel regelmäßig seine Mahlzeiten ein. Im März war er vierzehn Tage verreist, vom 10. bis zum 24. Das stimmt also auch: am 15. wurde Olavsen entführt! – Wir werden jetzt unseren Wein austrinken, dabei kräftig gähnen und dann unsere Zimmer aufsuchen, das heißt – zum Schein! Raupach geht jeden Abend gegen neun Uhr heim. Bis zur Abzweigung des Fußpfades nach dem Buarbrä läßt er sich mit einem der üblichen zweirädrigen Wagen fahren. – Nun sprich Du irgend etwas und nimm dabei die Karte in die Hand –“ –

      Um halb neun verließen wir das Hotel. Es war draußen sehr dunkel. Der Hotelwirt erwartete uns eine Strecke weiter mit zwei Rädern. Wir schwangen uns auf und fuhren nun dieselbe, hier noch ganz ebene Bergstraße entlang, auf der wir nachmittags von Dahlen mit dem Auto eingetroffen waren. Zur Linken hatten wir den Fluß, der hier das Tal durchströmt und sich dann in den Fjord ergießt.

      Der Abend war sehr dunkel. Das Licht unserer Acetylenlaternen schwankte grell vor uns her. Nach zehn Minuten wurde die Straße steiler und steiniger. Wir mußten vorsichtiger fahren. Nach weiteren zehn Minuten hielten wir vor einer Brücke, unter der der Gletscherbach des Buarbrä schäumend und gurgelnd dahinschoß.

      Wir stiegen


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