Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch. Walther Kabel
schnitt. „So ein Pech, ihn nicht anzutreffen!“ fügte er noch hinzu.
„Seit – ja seit vier Tagen, seit Dienstag. Er sagte noch beim Abschied zu mir: „Kneifen Sie nur den Daumen, Arnhelmchen! Ich will einen Verbrecher abfassen!“ – Es ist ja ein so reizender Herr! Stets so vergnügt! Für jeden hat er ein freundliches Wort!“
„Ob Frau Ruperti bereits zu sprechen ist?“
„Sie sitzt hinten im Garten im Liegestuhl. Sie ist sehr elend, die arme Frau Rechtsanwalt –“ –
Wir gingen um das villenähnliche Haus herum in den Garten.
Ach – daß dieses sieche, bleiche Geschöpf einem Manne von Rupertis Charakter nicht genügen konnte, sah man auf den ersten Blick.
Harald machte jetzt hier den Sprecher. Lenk hatte ihn darum gebeten. Nachdem wir uns Frau Ruperti vorgestellt hatten, erhob sie sich mit matten Bewegungen aus ihrem Liegestuhl und schaute nun Harst aus weiten, gram- und angsterfüllten Augen prüfend an.
„Ihr Herr Gemahl ist nach Schweden gereist, gnädige Frau,“ begann Harald. Dieser einleitende Satz klang mehr wie eine Behauptung, und sollte doch eine Frage sein.
„Ja, nach Malmö, Herr Harst –“
„Sie besinnen sich auf meine Depesche, gnädige Frau.“
„Ah – Sie kommen Thora Olavsens wegen. Ich las das Furchtbare schon in den Zeitungen. Ist sie wirklich ermordet worden?“
„Ja – von – ihrem Liebhaber –“
„Das – das ist wohl ausgeschlossen! Thora sollte – nein, nein, – sie war doch verlobt, und –“
„– und unterhielt trotzdem Beziehungen zu einem Herrn, dem man eine fast unheimliche Macht über Frauen zuschreibt, einem verheirateten Manne –“
Frau Ruperti schoß jetzt das Blut in starker Welle zu Kopfe, flutete zurück und machte das schmale Antlitz noch bleicher. Die blaugrauen Augen des armen Weibes flammten ebenso plötzlich auf. Haß und Verachtung lohten in diesem Blick, der jetzt noch durchdringender auf Harst ruhte.
„Sagen Sie mir nur die Wahrheit!“ meinte sie mit tonloser Stimme. „Es gibt nichts, was ich diesem Manne nicht zutraue! Mein Vermögen hat er vergeudet; mich hat er seelisch gemordet. Weshalb soll er da nicht auch Thora umgarnt haben, der ich, wenn es so wäre, nicht einmal zürnen könnte! Denn – was vermag ein Weib gegenüber den raffinierten Künsten eines Ruperti, denen ich ja vor Jahren selbst unterlegen bin!“
Harald holte jetzt den Drohbrief, den er in der Kabine Nr. 24 gefunden, hervor und zeigte ihn Frau Ruperti.
„Die Handschrift ist sorgfältig verstellt,“ sagte er. „Trotzdem dürfte jemand, der Ihres Gatten Schrift genau kennt, geringe Ähnlichkeiten herausfinden.“
Frau Ruperti lachte plötzlich schrill auf. „Wünschen Sie, daß ich es beschwöre, daß er dies geschrieben?! Ich kann’s jeden Augenblick! Jeden! Es ist seine Schrift, wenn auch verstellt! Sie ist’s! Also – jetzt noch die Gattin eines Mörders! Auch das noch! Freilich – konnte mir denn überhaupt noch irgend etwas an der Seite dieses Mannes zustoßen, das mich noch unglücklicher werden läßt als ich es schon bin?! Hätte ich nicht meine Kinder, ich lebte nicht mehr!“
Sie sank erschöpft in den Liegestuhl zurück.
Was sollten wir hier noch?! Sie trösten? Gab es denn einen Trost für diese Ärmste?!
Wir verabschiedeten uns. Harald allein drückte Frau Ruperti teilnehmend die Hand. –
Vor dem Hause trafen wir Fräulein Arnhelm. Sie stand an der Gitterpforte und blickte die Straße nach links entlang, wandte sich jetzt nach uns um und meinte:
„Warten Sie nur einen Augenblick, meine Herren. – Der Herr Rechtsanwalt hatte nur vergessen, ein eiliges Telegramm aufzugeben. Er kam gerade vom Bahnhof –“
Wir schauten uns gegenseitig an. Und Harald fragte dann hastig: „Sie sagten ihm, daß Kriminalkommissar Lenk nach ihm gefragt hätte und daß Schraut und ich in Lenks Begleitung waren?“
„Natürlich, Herr Harst –“
„Und er eilte dann nach links die Straße hinab?“
„Ja – zum Postamt – mit seiner Reisetasche –“
Wir drei liefen plötzlich wie gehetzt davon.
Er hatte ja nur wenige Minuten Vorsprung! Und doch! Ihm genügten sie! – Hiermit begann die aufregendste aller Verbrecherjagden, die wir je unternahmen.
Die Steinhütte am Buarbrä
1. Kapitel
Frau Rupertis Brief
Diese Ereignisse spielten sich erst im Mai des folgenden Jahres ab. Die dazwischen liegenden Monate waren ausgefüllt durch Haralds schwere Erkrankung an Grippe, durch den achtwöchigen Kuraufenthalt in Meran und den sich anschließenden in Nizza.
Erst am 5. Mai kehrten wir beide wieder nach Berlin zurück, Harald in die Arme seiner freudestrahlenden Mutter, ich mit nicht geringerer Freude in meine beiden Zimmer, die ich im Harstschen Hause bewohnte und die ja meine wahre Heimat bildeten.
Auf meinem Schreibtisch hatte Frau Auguste Harst die ganzen in den letzten acht Wochen für Harald eingelaufenen Briefe, Drucksachen und so weiter aufgehäuft. Haralds eigener Wunsch war es gewesen, daß ihm nichts hiervon nachgeschickt würde. Er selbst hatte ja nur einen Wunsch: rasch wieder gesund zu werden! Und er kannte sich: hätte er einen Brief mit einem interessanten Auftrag erhalten, dann würde dieser ihm keine Ruhe gelassen haben, hätte ihn in Gedanken dauernd beschäftigt und die Genesung so verzögert. Der Arzt hatte Harald eben jede, aber auch jede „Arbeit“ verboten. Und Harsts „Arbeit“ griff Nerven und Hirn mehr an, als man anzunehmen geneigt ist. –
Ich überließ Mutter und Sohn, nachdem wir gemeinsam gefrühstückt hatten, ihrer Wiedersehensfreude und machte mich als pflichtgetreuer Privatsekretär über die eingegangene Post her. Es waren allein 42 Briefe und fünf Depeschen, ganz abgesehen von Geschäftsreklamen, Postkartengrüßen und Druckschriften wissenschaftlichen Inhalts. –
Ich muß über den Fall Thora Olavsen nun zunächst noch einiges nachholen. – Trotz aller Bemühungen der Polizei hatte man von dem Mörder Hans Ruperti auch nicht die geringste Spur mehr entdeckt. Harald hatte sich mit Ruperti nicht weiter befassen können, da er schon am Abend nach unserer Rückkehr aus Harzburg mit über 39 Grad Fieber zu Bett lag und da sich drei Tage später jene beiderseitige Lungenentzündung hinzufand, die Harst an den Rand des Grabes brachte. Inzwischen waren dann zwei Briefe von Doktor Olavsen eingetroffen. Er schrieb, daß seine Schwester tatsächlich ihr ganzes Barvermögen flüssig gemacht und mitgenommen hatte. Ruperti waren auf diese Weise insgesamt 200 000 Kronen in die Hände gefallen. – Weiter wußte ich durch Lenk, daß Frau Lotte Ruperti mit ihren beiden Kindern zu ihren Eltern nach Christiania zurückgekehrt war und nun dort in deren Hause lebte. –
Als