Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch. Walther Kabel
„Ja – ja! – Aber – aber – nun dieser Mord?!“ Und er deutete erschauernd auf die Tote.
„Ottmar Orstra ist derselbe Aarström oder Arbang, der in Trollhätta mir vor drei Tagen entging,“ erklärte Harald. „Orstra wollte mich beseitigen lassen – im Zuge nach Christiania. Er hat gute Freunde, die ihm helfen; er ist vielleicht das Haupt einer Verbrecherbande, die in Göteborg ihren Sitz hat. Ich wurde in einen Fluß gestürzt – vom Dache eines Eisenbahnwagens herab. Ich wollte als tot gelten. Aber Orstra ahnte wohl, daß ich noch lebte, wußte, daß ich gegen Frau Marnö Verdacht schöpfen würde, fürchtete, daß diese, erst verhaftet, zuviel ausplaudern könnte. Deshalb kam er mit ihr hierher, ging scheinbar auf ihren Vorschlag ein, Sie zu ermorden, Herr Lingnörg, damit Ihr Geld den Verbrechern nötigenfalls die Flucht erleichterte. Ich habe die Marnö und Orstra heuten abend belauscht – dort im dritten Zimmer, dem Fremdenzimmer, – durch das Fenster! Ich hörte nicht alles. Nur das eine ganz deutlich: daß die Marnö „Es wird Zeit!“ sagen sollte, wenn Orstra von draußen Sie erschießen sollte. Doch – die Kugel suchte ein anderes Ziel, bevor noch mein Zuruf den Mord verhindern konnte. Daß Orstra so schlau sein würde, durch dieses Zimmer zu entfliehen, ahnte ich nicht. Er ist mir entwischt.“
Lingnörg hatte die Hände vor das Gesicht gepreßt und – weinte.
„Herr Lingnörg,“ sagte Harald herzlich und legte ihm die Hand auf die Schulter, „vergessen Sie nicht, das Ihr Kind lebt!“
Der grauhaarige Herr schluchzte noch stärker.
„Ich – ich weine ja vor Freude!“ meinte er kaum verständlich. „Wie soll ich Ihnen nur danken, Herr Harst! Mein Kind – meine Sigrid! Oh – ich bin nicht mehr allein! Ich werde wieder froh werden! Wie soll ich Ihnen nur danken!“ –
Sigrid Lingnörg ist heute ein blühendes, junges Weib und hat all das Furchtbare, was sie durchlebt, längst vergessen. Das Gedächtnis für ihre Kindheitsjahre kehrte ihr in demselben Augenblick zurück, als ihr Vater sie jubelnd an seine Brust zog.
Die Verfolgung Orstras, die Torstensen und Dronting damals sofort aufnahmen, blieb ergebnislos. Harst hatte dies vorausgesehen, hatte zu mir gesagt:
„Einen Orstra fängt man nicht mit den landläufigen Mitteln! Mein Alter – jetzt haben wir wieder mal ein großes Ziel vor Augen: Ottmar Orstra! Wir werden ihn finden, denn – er wird unseren Weg kreuzen, wird uns beide austilgen wollen! Es wird ein Kampf werden, der mehr Nerven und Geist beanspruchen dürfte wie damals unser Ringen gegen Warbatty-Dogston!“ –
Harald behielt rechte
Der Kampf kostete Nerven und Geist!
Der Leser wird dies bestätigen, wenn er erst „Lord Plemborns Verbrechen“ und „Die Leiche im Gletschertunnel“ kennt.
Lord Plemborns Verbrechen
1. Kapitel
„Herr Harst, ich habe einen Menschen aus Versehen erschossen!“
Mit diesen Worten sank Lord Edward Plemborn, der soeben unser Hotelzimmer betreten hatte, völlig verstört in einen Sessel.
Sein gelblich-graues Gesicht, seine leicht zitternden Hände, die tief umschatteten trüben Augen – all das sprach für schlaflose Nächte nach einer furchtbaren Aufregung. –
Harald hätte nun den Lord niemals so ohne weiteres unser Zimmer betreten lassen, wenn nicht Kriminalinspektor Dronting aus Göteborg gerade bei uns geweilt hätte, der sofort erklärte, der Lord sei ihm persönlich bekannt.
Lord Plemborn griff jetzt in die Tasche seines Gummimantels und holte ein Fläschchen mit aufgeschraubtem Aluminiumbecher hervor, füllte ihn und sagte, bevor er ihn leerte: „Entschuldigen Sie! Nur der Kognak hält mich noch aufrecht!“
„Sie sind mit einer Jacht hier nach Skien gekommen,“ meinte Harst, indem er auf des Lords Segeltuchschuhe mit Gummisohlen schaute. „Mit einer Motorjacht, vielleicht sogar einem Rennboot. Sie bringen einen leichten Benzingeruch mit und haben es doch fraglos sehr eilig gehabt, zu mir zu kommen. Der Mensch, den Sie erschossen haben, dürfte zu Ihnen in näheren Beziehungen stehen. Eines Fremden wegen hätten Sie sich wohl kaum so aufgeregt. Außerdem müssen bei dieser fahrlässigen Tötung wohl auch besondere Begleitumstände vorhanden sein, die gleichfalls Ihre Aufregung steigerten.“
Der Lord hatte Harst überrascht angeblickt. Dann sagte er:
„Ah – ich hätte fast vergessen, hier dem berühmtesten Liebhaberdetektiv unserer Zeit gegenüberzusitzen! – Das, was Sie zu meinem Erstaunen soeben auf Grund bloßer Schlußfolgerungen äußerten, Herr Harst, stimmt alles!“
Er holte tief Atem. Es klang wie ein Seufzer.
„Die – die Erschossene, mein Opfer, ist – die Schwester meiner Frau, Miß Evelyn Ronda, Tochter des Neuyorker Großindustriellen James Ronda.“
„Nicht möglich!“ entfuhr es Inspektor Dronting. „Die Tochter des Milliardärs, Ihre Schwägerin?!“
„Leider – leider!!“ Die fahlen Wangen des Lords bekamen jetzt etwas Farbe. „Meine Schwägerin, die erst vierzehn Tage bei uns in Göteborg zum Besuch weilte!“
Harald bot dem Lord eine Zigarette an. „Rauchen Sie! Es ist eine Ablenkung der Gedanken. Und die haben Sie nötig. – Bitte, hier ist Feuer. – So – wann passierte das Unglück?“
„Gestern vormittag gegen elf Uhr.“
„Wo und wie?“
Der Lord seufzte wieder. Sein junges, bartloses Gesicht paßte schlecht zu dem stark gelichteten Scheitel. Auf mich machte Plemborn den Eindruck eines Lebemannes mit etwas stürmischer Vergangenheit. Ich schätzte sein Alter auf dreißig Jahre.
„Der Vorfall selbst,“ begann er, indem er trübe vor sich hinstarrte, „ist bald erzählt. Ich wohne in der Villen-Vorstadt von Göteborg im eigenen Hause mit großem Park. Hinten im Park befindet sich ein Schießstand. Ich pflege häufig mit Gewehr und Pistole nach der Scheibe zu schießen. Die Scheibe steht vor einer schroffen Felswand, die den Park nach Westen begrenzt. Sie ist auf eine Balkenwand gespannt, die etwa zwei Meter von dem Felsen entfernt ist. Rechts und links habe ich Sandwälle aufschütten lassen –“
Er sprach immer leiser. Sein Gesicht wurde wieder gelblich und verlor jede Spannkraft. Wie er so zusammengesunken im Sessel saß, mußte man ihn tief bemitleiden. Und doch – ich hatte das Gefühl, daß seine Verstörtheit etwas übertrieben war, als ob er etwas – heuchelte.
„Gestern also gegen elf Uhr vormittags wollte ich eine neue Repetierbüchse ausprobieren, die um zehn Uhr mit der Post eingetroffen war. Ich verließ mit der Büchse im Arm meine Villa. Ich glaubte, meine Frau und Evelyn säßen noch vorn auf der Veranda. Mein Diener Baptiste begleitete mich. Die Pappscheibe, die Baptiste schon morgens auf die Plankenwand genagelt hatte, war ganz neu. Hundertfünfzig Meter vor der Scheibe