Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри
»Charlotte, was ist dir?... ich werde doch nicht die alte schöne Decke verderben...«
»Sie sind schrecklich, die Tiere, überall gehen sie einem nach. Und schlagen mit ihren grauen Flügeln wie kleine Teufel. Schieß sie tot... schieß sie tot.«
Der Fürst springt auf.
»Komm, Charlotte, du gehst hinüber. Das Tier findet hinaus.« Er nimmt ihren Arm und führt sie in ihr Zimmer. Wie sie zittert; er fühlt das Schlagen ihres Herzens durch ihr seidenes Gewand. Sein feiner Sinn findet die beste Erklärung. Das Unglück hat sie doch erschüttert. Sie kann nur keine Gefühle zeigen.
»Soll der Herr Hofrat nach dir sehen? Alfred mußte ich leider drüben lassen. Er hat wieder einen sehr heftigen Fieberanfall, und sie wollten ihn behalten.«
Die Fürstin faßt sich schnell.
»Es ist das beste, er bleibt drüben. Wenn er Fieber hat, kann er nicht in die Nachtluft. Man kann jemand hinüber schicken, ich verstehe mich ja nicht auf Pflege.«
»Ich fand es sehr rührend von Harro, daß er ihn neben seinem eigenen Elend auch noch besorgen will. Er sagt, Alfred habe ihm große Dienste geleistet. Der arme Junge. Er war ganz gebrochen. Und nun gute Nacht.«
Einen Augenblick wartet er noch auf ein Wort, ein Zeichen, – dann geht er hinaus. Sein schlanker Rücken fängt an sich leise zu biegen, und heute ist's, als trüge er neue Lasten.
Mit brennenden Augen hat sie ihm nachgesehen, bis sich die Türe hinter ihm schließt. Dann fährt sie auf. Ein Käuzchen schreit am Fenster vorbei, man sieht die gelben Augen leuchten. Was war das? Das graue Tier von vorher, nur noch größer, mit feurigen Augen. Mit einem Ruck reißt sie die gelben seidenen Vorhänge zu. Nun ist's draußen. Es ist so hell innen und freundlich. Wie golden ist das Licht. Nur die Dunkelheit ist entsetzlich. Sie dreht auch die große Krone an. Nun gibt's keinen Winkel, in den sich auch der kleinste Schatten verkriechen könnte. Wenn sie nur stillzusitzen vermöchte. Es ist ein wunderliches Zucken in ihren Füßen. Selbst wenn sie sitzt, muß sie ganz leise auf den Boden pochen. Furchtbar müde ist sie, aber die Unruhe in den Füßen wächst mit der Müdigkeit. Sie schleudert die feinen Schuhe hinweg, an den Hacken muß es liegen.
Nun geht sie in ihren seidenen Strümpfen auf dem weichen Teppich auf und ab. So ist's besser. Man geht wie über feine, wohlgepflegte Schleichwege, auf denen nicht ein Zweiglein liegt, das knistern könnte. Aber müde wird man von den Wegen. Und morgen wird sie nach Thorstein fahren und selbst nachfragen. Und vielleicht hineingehen, wenn man sie läßt, und Rosmarie daliegen sehen. Nie mehr wird sie auf Wiesen gehen und Blumensträuße gegen den Abendhimmel halten. Nie mehr. Was ist aus dem kleinen roten Feuer geworden? Eine Riesenflamme, rot, glühend rot, vor der der ganze Eispalast geschmolzen ist. Überall Flammen, schier zu viel Flammen. Aber zu frieren braucht man nie mehr. Das ist vorüber. Es ist eine ganz neue Welt, und man muß sich an sie gewöhnen. Alle Dinge nehmen einen roten Schein an. Und unter dem Boden zucken und spielen die Flämmchen, daß es einen nicht auf der gleichen Stelle duldet. Nie mehr geht Rosmarie über die Sommerwiese mit ihrem wehenden Schleier. Rot sind die Flammen, und das Licht ist golden in allen Ecken, und das Nachtgevögel kann nicht herein. Nie mehr geht sie auf der Sommerwiese.
Nie mehr...
Siebenunddreißigstes Kapitel.
Das goldene Band
Die Wolken wandern über den Himmel und der Nachtwind streicht über dunkle, regenmüde Wälder. Und am Horizont hebt sich ein grauer Schein, und die Vögel lassen die ersten halbwachen Töne hören. Drüben in Thorstein hat der Stein im Vogel Rock die ganze Nacht geglüht und bald sind Lichter aufgeblitzt in den großen Scheiben und wieder erloschen. Harro fährt auf von seinem alten Lager im Atelier, und wie ein breiter Sturzbach fließt der Jammer über sein Herz. Er erhebt sich, wie hat er nur so lange schlafen können, und macht sich schleunigst fertig. Er eilt hinüber. Die Schwester empfängt ihn. »Ihre Durchlaucht erwartet Sie sehr, Herr Graf.«
»Warum weckten Sie mich nicht?«
»Frau Gräfin wollt' es nicht dulden.«
Ach, wie ist der Schmerzensreif an ihrer Stirne schärfer geworden, wie brennen die großen dunkeln Augen. »Hast du denn gar keine Ruhe finden können?«
»Nein, Harro.« Und die großen Tränen laufen über ihre Wangen.
Er wendet sich an die Schwester. Es muß doch ein Mittel geben. »Herr Professor schläft, und der Herr Assistent darf nicht ohne Erlaubnis...«
»So werde ich ihn wecken.«
Er eilt hinaus, und die Schwester mit fliegender Haube hinter ihm drein und erfaßt ihn noch am Rocke. »Herr Graf,« stammelt sie entsetzt, »das ist ganz unmöglich... den Herrn Professor wecken!...«
»Wir wollen sehen, ob es unmöglich ist,« herrscht Harro.
»Herr Graf, der Herr Professor wird nicht herauskommen. Er wird nach Puls und Temperatur fragen durch die Tür. Der Herr Professor muß seine fünf Stunden Schlaf haben. Die letzte Nacht in dem Auto! Es warten noch andere Menschen auf ihn..., Herr Graf. Heute abend hat er in Würzburg wieder eine Operation. Wie kann er das Leben denn aushalten, wenn man ihm nicht die fünf Stunden läßt.« Atemlos ist die Schwester, ein junges, blasses Ding mit großen, ernsten Braunaugen neben ihm hergelaufen, den Schlaf ihres Herrn verteidigend.
Also andere warten auch..., er ist nicht allein auf der Welt mit seiner Qual. Er steht still und sieht die Schwester an... »Sie müssen doch einsehen, daß ich nicht ohne Hilfe zu meiner Frau zurückkehren kann.
Die Schwester wagt es, seinen Arm zu fassen. »Der Herr Professor, wenn er zornig ist, wird Ihnen doch nichts geben. Er wird sehr zornig sein. Und heute nacht wird eine Mutter von sechs Kindern an Krebs operiert.«
Harro läßt seine Hand, die schon nach der Klinke gefaßt, wieder sinken. Den Herrn fürchtet er nicht, zornig kann er auch werden, aber er sieht die sechs verlassenen Würmlein vor sich, und die eine Hand, an deren Kraft und Ruhe alles hängt.
Langsam steigt er die Treppe herunter. Der Assistent darf nicht. Das begreift er, das ist Disziplin. Langsam kommt er herein, ach, an seinem Schritt schon merkt sie, daß er keine Hilfe bringt.
Da sitzt er wieder an ihrem Bett. Die arme, blasse Hand liegt auf der seinigen, und ihre Augen sehen ihn an in ihrem stummen Leiden. Und plötzlich beugt sich sein Rücken, und er fängt an zu zittern und zu schluchzen...
»Ach, Harro!« – Weinen hat sie ihn noch nie gesehen. Kann er denn auch weinen?
Die Schwester entsetzt sich aufs neue. Diese Privatpflegen! Oh, jetzt einen Wärter und einen Assistenzarzt und diesen Mann sofort hinausführen lassen!.. »Herr Graf, gehen Sie hinaus,« befiehlt sie leise und mit einer Energie, die selbst er in seinem hilflosen Jammer fühlt.
Aber es ist noch jemand da, der einen Willen hat. Das ist die Gräfin, die bisher hat alles mit sich geschehen lassen, sich gegen nichts gesträubt, mit schweigender Geduld die entsetzlichen Stunden getragen hat. Ihre Augen sind fremd und herrisch, und die Vornehmheit ihres Gesichts tritt fast erschreckend hervor. Die Brauneckerin.
»Sie gehen hinaus,« befiehlt sie.
»Ich darf nicht. Ich darf das Zimmer nicht verlassen.«
»So gehen Sie dort hinein, bis wir Sie rufen.«
Und die Schwester wird zum erstenmal einem bestimmten Befehl ihres Chefs ungehorsam. Sie geht ins Nebenzimmer und zieht sogar die Tür hinter sich zu. Ein Wille ist über ihr. »Harro, Liebster,« flüstert Rosmarie. »Komm her, lege deinen Kopf auf mein Bett. Daß ich dich trösten kann.« Sie streicht ihm über seine Haare.
Oh, wie ihm die Tränen wohl tun. Und die Hand, die nicht nur über seinen Kopf, die über seine Seele streicht. »Laß mich bei dir sein. Rose. Liebste Rose. Ach, sie wollen dir nichts geben, das dich ein wenig hinüberbringe.«