Escape. Petra Ivanov

Escape - Petra Ivanov


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       Petra Ivanov

      Escape

      Petra Ivanov

      Roman

      Appenzeller Verlag

      4. überarbeitete Auflage, 2017

      © 2010 by Appenzeller Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

      Alle Rechte der Verbreitung,

      auch durch Film, Radio und Fernsehen,

      fotomechanische Wiedergabe,

      Tonträger, elektronische Datenträger und

      auszugsweisen Nachdruck sind vorbehalten.

      Umschlaggestaltung: Janine Durot

      Umschlagfotos: Jack Jelly (Shutterstock), Fara Faran (Shutterstock)

      Satz: Verlagshaus Schwellbrunn

      ISBN: 978-3-85882-778-4

      ISBN eBook: 978-3-85882-779-1

      eBook-Herstellung und Auslieferung:

       HEROLD Auslieferung Service GmbH

       www.herold-va.de

       www.verlagshaus-schwellbrunn.ch

       Für Jonathan

      1

      wasser

      Ich bin 17 Jahre alt, verlobt und in schätzungsweise fünf Minuten tot. Über den Tod habe ich nie viel nachgedacht, jedenfalls nicht über meinen eigenen. Auch jetzt wundere ich mich vor allem darüber, dass ich die Sonne sehen kann. Vom Ufer aus gleicht der Zürichsee einer Wanne Cola ohne Kohlensäure. Irgendwie habe ich erwartet, dass es unter Wasser dunkel wäre. Aber das stimmt nicht. Helle Lichtstreifen greifen nach mir. Ich versuche, sie zu packen, obwohl ich weiss, dass ich keinen Halt finde.

      Ich habe keine Angst. Noch nicht. Auch meine Wut ist weg, sie hat sich buchstäblich in Wasser aufgelöst. Die Leere ist mir fremd. Denn seit ich Nicole kenne, fühle ich mich wie ein Reifen mit zu viel Luft.

      Eigentlich schon vorher.

      Seit ich in der Schweiz lebe.

      Aber Nicole hat alles ins Rollen gebracht.

      Druck lasse ich beim Basketball spielen oder beim Zocken ab. Wenn ich mit 280 Sachen über die Landstrasse auf dem Bildschirm rase, führen meine Daumen automatisch die richtigen Bewegungen aus. Ich weiss genau, wie ich die Polizei abhängen muss. Meine Gegner streife ich beim Überholen, damit sie die Kontrolle über ihre Wagen verlieren und sich überschlagen. Chris begreift nicht, warum ich die Rennen so ernst nehme. Er glaubt, es gehe

       mir ums Gewinnen. Okay, das ist auch nicht schlecht. Aber wirklich süchtig bin ich nach diesem matten Gefühl danach. Das ist der Moment, in dem ich mich nach hinten auf die Matratze fallen lasse, die Arme über dem Kopf, und die Gewissheit habe, alles richtig gemacht zu haben. Chris kann das gar nicht verstehen. Er ist zu locker. Er hat einfach keine Ansprüche an sich. Ärger meidet er, weil es ihm zu anstrengend ist, nicht, weil er etwas im Leben erreichen will. Was aber nicht heisst, dass er nie Mist baut. Schliesslich haben wir uns auf der Jugendanwaltschaft kennengelernt. Chris ist mein bester Freund.

      Ich habe Ansprüche. Vor allem an mich. Und trotzdem habe ich gewaltigen Ärger. Ich ziehe Scheisse an wie ein Bildschirm Staub.

      2

      der anfang vom ende

      «Nicole, das ist Leo, mein …», begann Julie.

      «Leotrim!», unterbrach ich sie. Ich mochte es nicht, wenn meine Schwester unsere Namen abänderte, damit sie schweizerischer klangen. Wenn sie sich «Julie» statt «Gjyle» nennen wollte, war das ihre Sache. Aber ich bestand auf «Leotrim».

      Julie seufzte theatralisch. «Leotrim», wiederholte sie, wobei sie die letzte Silbe besonders betonte. «Mein Bruder.»

      Ich lehnte gegen einen Baum und versuchte, locker zu wirken. Eine beachtliche Leistung, wenn da plötzlich ein Mädchen in einem engen, verschwitzten T-Shirt vor einem steht. Die Abendsonne schien direkt auf ihre Brüste. Ich konnte nicht wegschauen. Sie waren nicht besonders gross, aber genau das gefiel mir. Grosse Brüste waren mir unheimlich. Ich stellte mir immer vor, wie ich zwischen ihnen erstickte. In diesem Punkt war Chris genau umgekehrt. Wir sprachen zwar nie darüber, aber als ich seinen Laptop neu aufsetzte, fand ich einen Ordner mit Pornobildern. Die Frauen darauf wären fast vornüber gekippt. Ich war mir sicher, dass die meisten Busen nicht echt waren. Aber so etwas ist Chris egal.

      Als es mir endlich gelang, meinen Blick von Nicoles Brüsten zu lösen, blieb er am BH-Träger hängen, der unter ihrem T-Shirt hervorgerutscht war. Rasch sah ich auf die

       Uhr. Zum Glück rappte in diesem Moment mein Handy. Auf Chris war immer Verlass. Für so was hatte er einen sechsten Sinn.

      Ich verabredete mich mit ihm in der Stadt und lief auf die Bushaltestelle zu. Mein Vater hatte mich hergeschickt, um Julie und ihre Kollegin nach Hause zu begleiten. Sie waren für einen Schulvortrag ins Tösstal gefahren, wo sie eine Recyclingfirma besuchten. Als Julies grosser Bruder war es meine Aufgabe, sie zu beschützen.

      «Wir hätten auch ohne ihn den Bus nehmen können», hörte ich Nicole flüstern.

      Ich rammte die Fäuste in meine Jeanstaschen. Dauernd mussten wir uns rechtfertigen. Julie störte das nicht. Geduldig erklärte sie, warum Vater sie nicht unbegleitet ins Tösstal fahren liess. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Nicole. Irgendetwas an ihr war anders als an den Mädchen, die ich kannte. Jetzt, wo sie die Arme vor der Brust verschränkte, nahm ich endlich ihr Gesicht wahr. Ihre Nase war schmal und lang, wie alles an ihr. Fast alles. Ich verdrängte den Gedanken an ihre Brüste. Das blonde Haar hatte sie mit einer Art Gummi zusammengebunden, so dass man ihren Hals besser sah. Auch dieser war schmal und lang. Ich stellte mir vor, wie sich die Haut anfühlte, und mein Herz begann zu rasen.

      Julie erzählte von der Recyclingfirma, doch ich hörte nur halb zu. Mir war heiss. Im Bus setzte ich mich ans Fenster und versuchte, an etwas anderes zu denken. Ich rief mir die Hausaufgaben in Erinnerung, die ich auf morgen erledigen musste, aber mein Herzschlag verlangsamte sich nicht. Ein BMW 4er Cabrio überholte den Bus, und plötzlich wusste ich, woran mich Nicole erinnerte. An einen Jaguar. Nicht irgendeinen, sondern einen XJ. Ein XJ hat einfach Klasse. Und absolut geile Leichtmetallfelgen.

      Genau da hätte ich es merken müssen.

      Ich kannte keinen einzigen Albaner, der einen Jaguar fuhr.

      «Leotrim», hörte ich Mutters Stimme. «Vater ist da.»

      Rasch schaltete ich auf eine Nachrichtensendung um. Julie lächelte zaghaft. Ihre Augen waren rot. Aus der Küche roch es nach gebratenem Fleisch. Obwohl ich seit dem Mittag nichts gegessen hatte, meldete sich mein Hunger nicht. Immer wieder durchlebte ich die Szene am Bahnhof.

      Nachdem wir in Zürich angekommen waren, war ich auf den Treffpunkt zugesteuert, wo mir Chris eine CD fürs Midnight Basketball geben wollte. Ich hätte Julie und Nicole zuerst nach Hause bringen können, doch Chris wartete schon über eine halbe Stunde. Seit einem Jahr war ich Basketball-Coach im Sihlfeld, in letzter Zeit lief es echt gut. Einige neue Spieler hatten sich uns angeschlossen, weil der Sound besser war als in den anderen Stadtquartieren. Chris verstand was von Musik, auch wenn er nicht begriff, warum jemand dazu dribbeln wollte.

      «Meine Tasche!», hatte Julie plötzlich geschrien. Sie ruderte mit den Armen, stolperte und fiel hin. Hinter ihr rannte ein Typ davon, Julies Tasche in der Hand. Ich stürmte hinterher. Ich hatte den Dieb schon fast eingeholt, als er sich mitten in den Feierabendverkehr stürzte. Dass die Ampel auf Rot stand, kümmerte ihn nicht. Ohne zu zögern, folgte ich ihm. Auf einmal hörte ich Bremsen kreischen und stürmisches Läuten. Ich prallte gegen die Seite eines Trams und musste die Beschimpfungen des Fahrers über mich ergehen lassen. Der Dieb verschwand in der Bahnhofshalle. Das alles


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