Vergiss mein nicht!. Kasie West

Vergiss mein nicht! - Kasie West


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Lügendetektor, kann mich aber noch beherrschen. Ganz offensichtlich ist er nicht in der Laune, über dieses Thema zu scherzen. Das Herumblödeln hatte mir ein bisschen die Angst genommen und nun fühle ich den Ernst der Lage schwer auf den Schultern lasten.

      »Hast du Hobbys?«, fragt er, immer noch im Lehrermodus.

      »Lesen ... hauptsächlich.«

      »Gut. Das wirst du problemlos schaffen.«

      »Glaubst du, dass das alles ist, was sie mich fragen werden?«

      »Ich bin mir sicher, dass sie dir mehr Fragen stellen werden, aber so wie es klingt, hast du deine Story tatsächlich verinnerlicht.« Um seine Mundwinkel bilden sich besorgte Falten. »Geht es dir gut?«

      Nein. »Ja, mir geht’s gut. Es ist nur so neu für mich. Das ist alles.«

      Ich weiß, dass er mir nicht glaubt. Er ist schließlich der Lügendetektor hier, aber trotzdem sagt er: »Wenn die Schule erst einmal angefangen hat, wird’s dir besser gehen und du wirst merken, dass das mit der Vorgeschichte keine große Sache ist.«

      »Ja, wahrscheinlich. Ich mach mich dann mal für das Football-Spiel fertig.«

      Ich schließe mich im Badezimmer ein und lehne mich an das Waschbecken. Meine Gabe war mein ganzes Leben. Sie war früher als bei den meisten aufgetaucht – Anfang der sechsten Klasse. Aber selbst vorher, von klein an, hatte meine Mom ständig meine Stärken katalogisiert und meine Denkstrukturen getestet, um herauszufinden, wozu ich mich hingezogen fühlte. Ohne mein Talent weiß ich nicht mehr, wer ich bin.

      Ich fische mein Handy aus meiner Hosentasche und wähle Lailas Nummer. Beim zweiten Klingeln hebt sie ab.

      »Hey, was gibt’s?«, fragt sie.

      »Ich muss so tun, als sei ich Durchschnitt.«

      »Das ist ja furchtbar!«, sagt sie mit gespielter Empörung.

      »Es ist furchtbar. Du weißt, was das bedeutet, oder? Alle werden denken, ich sei ... normal. Mein Talent ist das, was mich halbwegs cool macht. Ohne bin ich ein Niemand.«

      »Ach bitte. Du bist nicht Durchschnitt – mit oder ohne dein Talent.«

      Ich schließe den Toilettendeckel und setze mich hin. »Worüber soll ich mich mit den Leuten denn unterhalten? Das Wetter? Das hab ich schon versucht und es ging daneben. Ich bin erledigt.«

      »Hast du gehört, was ich eben gesagt habe?«

      »Ja, aber ich glaube dir nicht, weil du mich nur mit meiner Gabe kennst. Du hast mich schon ziemlich lange nicht mehr ohne meine Fähigkeit gesehen. Mein Ich ohne meine Gabe ist langweilig, weinerlich und banal.«

      »Auch mit deinem Talent kannst du ganz schön weinerlich sein.«

      »Wie hilfreich.« Ich ziehe an der Schnur, die an der Jalousie neben mir hängt. Scheppernd bewegt das Rollo sich nach oben und ich fahre erschrocken zusammen. Nachdem ich ein paar Mal versucht habe, am unteren Ende zu ruckeln, gebe ich auf. Ich kann mich nicht erinnern, wie man sie wieder nach unten bekommt.

      »Noch mal, damit ich dich richtig verstehe: Wenn ich kein Talent hätte, würdest du mich nicht mögen?«

      Ich seufze. »Natürlich würde ich dich mögen. Aber das liegt daran, dass du offen deine Meinung sagst und sie auch durchsetzt und dich kein bisschen darum scherst, was der Rest der Welt denkt.«

      »Klingt, als sei ich eine Hexe.«

      »Ich weiß, aber nicht vom Thema ablenken. Das hier ist mein Nervenzusammenbruch.«

      »Addie, komm schon, normalerweise macht es dir doch auch nichts aus, was die anderen denken. Was ist los?«

      »Meinetwegen können die Leute mich für einen eigenbrötlerischen Bücherwurm und Kontrollfreak halten, denn das bin ich nun mal. Ich hab nur ein Problem, wenn das falsch interpretiert wird.«

      Sie lacht kurz auf. »Tja, ich bin mir ganz sicher, dass es sich schon früh genug herausstellen wird, was du bist und was nicht. Ich muss aufhören. Ich will gleich noch weggehen.«

      Ich nehme mein Handy vom Ohr, um nachzusehen, wie spät es ist. »Ja, ich auch. Football-Spiel. Ich sollte mal lieber unter die Dusche.«

      »Moment. Du gehst zu einem Football-Spiel?«

      »Mein Dad hat Karten besorgt.«

      »Wow. Tja, das wird deinen Ruf nicht gerade verbessern.«

      »Haha.«

      »Ich bin stolz auf dich. Finde heraus, wo der Block für die Schüler ist, und sieh zu, dass du ein paar Leute kennenlernst.«

      Ich wünschte, sie könnte mitkommen, und am liebsten möchte ich ihr das auf nicht gerade würdevolle Art und Weise vorheulen, aber ich verkneife es mir. »Ich versuch’s.«

      Mein Dad und ich sitzen auf den kalten Zementbänken im Stadion und schauen uns das Spiel an. Es ist sehr viel lauter, als ich es in Erinnerung habe. Das Krachen der Helme und das Jubeln der Menge hallen in der Luft wider. Der Mond steht über dem Stadion, eine schmale Sichel am Himmel. Ich versuche, mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal den Mond in irgendeiner anderen Form als voll gesehen habe.

      »Enttäuscht?«, fragt mein Dad.

      »Überhaupt nicht«, antworte ich schnell und dann erst wird mir klar, dass er sowohl das Spiel als auch den Mond gemeint haben könnte. Ich beschließe, dass die Antwort auf beides zutrifft.

      »Addie, warum setzt du dich eigentlich nicht in den Schülerblock? Sieht so aus, als hätten die viel mehr Spaß.«

      Ich schaue zum Schülerblock hinüber, Reihen voller Highschool-Kids, die jubeln und Plakate hochhalten. Einige haben sogar ihre Oberkörper mit den Schulfarben bemalt. Ich frage mich, wie sie so begeistert sein können, ohne jeden Stimmungscontroller, der die Emotionen anschürt. Mein Dad stößt mich leicht mit seiner Schulter an.

      »Ich kenne niemanden.«

      »Und das wird sich auch nicht ändern, wenn du es nicht versuchst.«

      »Ich will dich nicht hier alleine lassen.«

      Er grinst. »Ich bin schon groß.«

      Der relativ kalte Abend – wenn man bedenkt, wie heiß es während des Tages war – jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Nach einem weiteren Stoß stehe ich auf und gehe rüber. Mein Dad weiß ganz genau, wann er mir einen Schubs geben und wann er mich in Ruhe lassen muss. Ich brauchte den Schubs.

      Im Schülerblock ist es ziemlich voll und ich quetsche mich durch die Reihen weiter nach unten. Unbekannte Gesichter tauchen auf, um gleich wieder zu verschwinden, nur die auffälligsten Merkmale bleiben ein oder zwei Momente hängen – knallrote Haare, eine große Nase, grüne Augen, eine Zahnlücke in einem lächelnden Gesicht. Endlich finde ich einen freien Platz neben einem Typen in Cowboystiefeln und einer gefütterten Jeansjacke. Er hat seine Hände in den Taschen vergraben und verfolgt das Spiel angespannt.

      »Entschuldige, ist der Platz frei?«

      Er sieht auf. Lange Wimpern umrahmen schokobraune Augen. »Nein, setz dich ruhig«, sagt er in dem singenden Tonfall, der hier im Süden gesprochen wird.

      Ich setze mich. »Danke. Und können wir das gleich hinter uns bringen? Deine Wimpern treiben meine vor lauter Scham noch zum Selbstmord.«

      Ja. Small Talk ist nicht meine Stärke.

      Er lacht.

      »Ich bin mir sicher, dass du das schon öfter gehört hast.«

      »Aber noch nie so ...« Er sieht sich um. »Bist du alleine hier?«

      »Na ja, wie man’s nimmt. Mein Dad sitzt da drüben.« Ich deute mit meinem Kopf in seine Richtung. »Und du?«

      »Nein. Siehst du diese Idioten vor uns?« Er zeigt auf das Geländer unten, vor dem mehrere Typen mit nackten angemalten Oberkörpern und Perücken auf dem Kopf stehen. »Das sind meine


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