Vergiss mein nicht!. Kasie West

Vergiss mein nicht! - Kasie West


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      »Ich finde, es profitiert sogar sehr.« Ich lächle honigsüß.

      »Addie, du bist nicht wie die anderen, oder?«

      Unverschämtheit. Ich versuche ihn mit meiner Schulter in den Arm zu boxen, so wie er es eben bei mir getan hat. Nur funktioniert das nicht und der Versuch allein lässt mich fast stolpern.

      Er streckt seine Hand aus. »Alles in Ordnung?«

      »Ja.« Ich blicke mich um, als suchte ich nach dem Gegenstand, der mich zum Stolpern gebracht hat.

      »Inwiefern hat dein Talent dir geholfen?«, fragt er.

      »Was?«

      »Du hast vorhin gesagt, dass du es völlig in Ordnung findest, wenn Menschen ihre Talente benutzen, um voranzukommen. Deins hätte dir schon geholfen. Inwiefern?«

      »Manchmal kann ich ausloten, in welchen Fächern ich besser bin, welche Projekte besser laufen. All so was.«

      »Dann bist du also eine Hellseherin.«

      »Ach so!« Ich bin überrascht, weil ich davon ausgegangen war, dass Bobby ihm von meiner Fähigkeit erzählt hatte. »Ja. So in der Art.« Eigentlich heißt meine Gabe Divergenz, was in verschiedenen Richtungen von einem gemeinsamen Punkt abweichen bedeutet. Es war eines der ersten Wörter, die ich damals nachgeschlagen hatte, als sich mein Talent zeigte. Aber ich habe keine Lust, Duke das zu erklären. Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, Leute zu korrigieren. Hellsehen gehört auch zu den Fähigkeiten, Zeit zu manipulieren, es passt also schon.

      »Mit dieser Gabe hast du wahrscheinlich in deinem ganzen Leben noch keinen Fehler gemacht. Du weißt immer, was du willst.« Er blickt mir in die Augen.

      Das stimmt größtenteils. Im Großen und Ganzen weiß ich genau, was ich will, und kenne die Schritte, mein Ziel zu erreichen, aber nicht unbedingt wegen meines Talents. »Ich lote nicht alles aus. Ich hab jede Menge Fehler gemacht. Aber du hast recht, viele ließen sich schon vermeiden.« Wie Bobby, wollte ich sagen.

      »Hast du jemals mich ausgelotet?«

      »Nein. Was dich betrifft, stand ich noch nie vor einer Entscheidung.«

      Er bleibt ganz plötzlich stehen und ich muss hilflos zuschauen, wie Ray und Laila weitergehen. Duke stellt sich vor mich und dreht unseren Freunden den Rücken zu, die sich immer weiter entfernen. »Was wäre, wenn ich dich vor eine Wahl stellen würde? Wie lange würde es dauern, die Alternativen auszuloten?«

      »Das hängt davon ab, worum es sich handelt«, sage ich, sofort nervös.

      »Vielleicht will ich dich auf ein Date einladen.«

      »Bloß nicht.« Ich umklammere die Riemen meines Rucksacks und wippe ein bisschen auf meinen Absätzen.

      »Das ging schnell. Was ist beim Ausloten passiert?«

      »Ich hab nicht nachgesehen. Wie ich schon sagte, ich brauche nicht alles auszuloten, um zu wissen, was ich will.«

      Er kommt noch einen Schritt näher und beugt sich vor. »Ich meinte doch nicht jetzt sofort. Bloß irgendwann einmal.«

      Mein Blick bleibt an seinen Lippen hängen und ein Prickeln läuft mir über den Nacken. »Ich habe eine Regel.«

      »Und die wäre?«

      »Ich küsse keinen Typen, der schon mehr als fünf Mädchen geküsst hat.«

      Er zieht seine Augenbrauen hoch und ein Funkeln erscheint in seinem Blick. Mir wird klar, was ich eben gesagt habe. Ich werde knallrot.

      »Ausgehen! Ich meinte ausgehen!«

      Er bricht in ein tiefes, kehliges Lachen aus. »Das ist ja wohl die allerlächerlichste Regel, die ich je gehört habe. Hast du dir die eben gerade ausgedacht?«

      Ich lache. Stimmt. Aber die Regel ist gut. Hätte ich sie schon gehabt, bevor ich Bobby kennengelernt habe, hätte mir das jede Menge Ärger erspart.

      »Hab ich mir’s doch gedacht. Aber das ist in Ordnung. Behalte deine Regel ruhig. Sie trifft nicht auf mich zu.«

      Ich erstarre, nicht ganz sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe. Duke – der Duke – lässt durchblicken, dass er nicht mehr als fünf Mädchen geküsst hat? Oder vielleicht meinte er, dass er mit nicht mehr als fünf ausgegangen ist.

      »So verblüfft, hmm?«

      Ich nicke langsam.

      »Duke!«, brüllt Ray von seinem Geländewagen aus, vor dem er und Laila stehen geblieben sind.

      Duke hebt seine Hand zur Bestätigung, wendet seinen Blick aber nicht von mir ab. »Bleib dran. Ich stecke voller Überraschungen.« Er dreht sich um und geht. Ich schaue ihm hinterher und mir fällt auf, wie breit seine Schultern sind und wie selbstsicher er sich bewegt. Und da weiß ich, dass ich in echten Schwierigkeiten bin.

      eNORM – wirklich groß

      Ich rühre die letzten paar Frosties in meiner Schüssel um. Jedes Cornflake einzeln herauszufischen, finde ich an einem Montagmorgen viel zu mühsam. Als mein Dad in die Küche kommt, sagt er: »Freust du dich schon auf den ersten Schultag?«, als wäre er ein Kandidat in einer Fernseh-Spielshow mit der Aufgabe, die schlimmsten Sprüche zu produzieren, die man seinem jugendlichen Nachwuchs am frühen Morgen antun kann.

      »Bitte sag, dass du für mich ein paar bewusstseinserweiternde Programme auftreiben kannst oder irgendetwas in dieser Richtung.« Wenigstens diesen Teil meines Morgenrituals brauche ich. Das macht mich normalerweise wach.

      »Es ist wirklich schwer, sich in der Außenwelt Sektor-Technologien zu beschaffen. Wir müssten einen Antrag stellen.«

      »Was? Diese Regel weitet sich auch auf unsere Programme aus? Ich komm da vielleicht gar nicht dran?«

      »Du wirst es überleben, Addie. Du brauchst sie nicht. Als ich klein war, existierte so etwas noch gar nicht. Ich war sowieso immer der Meinung, dass eine Gabe sich am besten natürlich entwickelt.«

      Nur, weil das alles war, was ihnen zur Verfügung stand, als er Kind gewesen ist. Aber selbst damals hatten sie Übungen, um die natürlichen Gaben zu verstärken.

      Ich stehe auf und stelle meine Schüssel in die Spüle.

      »Du schaffst das, oder?«

      »Dad. Es ist noch viel zu früh.«

      Er lächelt und nimmt mich in die Arme. »Okay, ich hab’s verstanden. Wir reden, wenn du richtig aufgewacht bist.«

      »Danke.«

      In der Schule brummt mir der Kopf immer noch. Ich komme mir in dem riesigen Menschenmeer verloren vor. Noch nie bin ich in einer so großen Schule gewesen. Vor Beginn der Stunde werde ich im Flur förmlich an der Tür zu meinem Klassenraum vorbeigetrieben. Ich drehe mich um und stemme mich gegen den Strom. Wenn ich besser in Gedankenübertragung wäre, hätte ich allen Leuten um mich herum eingeben können, zur Seite zu gehen.

      Ich stelle mich mit dem Rücken zur Wand und warte ab, bis sich die Menge ausdünnt, bevor ich mich auf den Weg zurück zu meinem Klassenraum mache. Die Raumnummer ist C14, und obwohl ich sie mir gemerkt habe, checke ich sie noch zweimal auf meinem Stundenplan gegen, um sicherzugehen, dass ich nicht gleich den falschen Klassenraum erwische. Der Stundenplan bestätigt mir: C14-Regierungskunde.

      Vor ein paar Jahren hatte ich ein Halbjahr US-Regierungskunde belegt – gehört mit zum Norm-Training –, ich hoffe also mal, dass ich mich noch an das eine oder andere erinnern kann.

      Ich gehe hinein und gebe beim Lehrer den Zettel aus dem Sekretariat ab.

      »Hallo«, sagt er. »Alle mal herhören, wir haben eine neue Schülerin: Adison Coleman.«

      »Addie genügt«, sage ich.


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