Schlangentanz. Patrick Marnham

Schlangentanz - Patrick Marnham


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Gefühl, dass man sich nicht wehren kann, dass man zum Gefangenen des Unfassbaren wird, das ja geradezu das Wesen jedes Traums ist …«9. Es ist eine weitverbreitete Ansicht, ich las sie während des Fluges noch einmal. Dann landeten wir in einem anderen Traum – dem Traum von Afrika.

      Grenzkontrolle am Flughafen von Kinshasa, und selbst nach dreißig Jahren wirkt alles noch halbwegs vertraut. Es ist Abend, die frühe Dämmerung der Tropen senkt sich auf die Schlange stehenden Passagiere vor dem Flughafengebäude. Einige werden aus der Menge herausgerufen, es sind die afrikanischen Passagiere. Die Weißen müssen draußen bleiben. Adrett gekleidete Polizisten mit Knüppeln stellen uns in zwei Reihen auf, indem sie »Blancs à gauche, sauf Belges« brüllen – »Weiße nach links, außer den Belgiern«. Bald steht nur noch ein Grüppchen weißer Passagiere auf dem Asphalt, von denen niemand belgischer Staatsangehörigkeit ist. »Weiße nach links«? Es ist wie früher in Leopoldville, nur dass es damals die Schwarzen waren, die sich mit diesen geringfügigen Unannehmlichkeiten abzufinden hatten. Unsere Pässe werden in ein Büro mit dem Schild »Leiter Einreisebehörde« gebracht. Einer nach dem anderen werden wir aufgerufen einzutreten, um ein persönliches Gespräch mit ebenjenem Leiter zu führen. Seinem Auftreten nach zu urteilen handelt es sich bei der Einreise um eine vertrauliche Angelegenheit. Als ich an der Reihe bin, ist er die Höflichkeit in Person. Waren Sie schon einmal hier? Geschäftlich oder als Tourist? Wo ist Ihr Empfehlungsschreiben? Das befand sich bereits in der Gepäckhalle in der Tasche eines belgischen Cineasten. Das war bedauernswert und unüblich, doch die zentrale Frage des Leiters der Einwanderungsbehörde lautet: »Vous avez les moyens?« »Ja.« »Wie viel?« »Wie bitte?« »Combien, combien …?« Die Demokratische Republik Kongo ist nicht unbedingt ein Wohlfahrtsstaat; schwer vorstellbar, dass viele abgebrannte Europäer nach Kinshasa fliegen, um auf Kosten dieses Staates zu leben. Doch er möchte einen Blick in mein Portemonnaie werfen. Wir tun es gemeinsam. Offensichtlich ist es prall genug, denn ich darf gehen. Mit gleichbleibender Höflichkeit entlässt er mich aus seinem Büro in eine weitere Schlange vor der Passkontrolle. Ein anderer Beamter – von niedrigerem Rang, höherem Alter und schlechterer Laune – prüft meinen Pass und ist selbstverständlich über den Geldbetrag in meinem Portemonnaie und das fehlende Empfehlungsschreiben informiert. Kein Schreiben, keine Einreise. Er behält den Pass. In diesem Moment bricht am benachbarten guichet ein heftiger Streit aus, weil die letzte afrikanische Reisende, die dem Spinnennetz der Grenzbehörden noch nicht entkommen ist, den Versuch unternimmt, auch ohne den Nachweis einer Gelbfieberimpfung einzureisen. Sie stammt nicht aus der DRK, sondern aus Gabun, sie ist sehr gut gekleidet und scheint es gewöhnt zu sein, dass man ihre Anweisungen befolgt. Genau wie die Gelbfieberinspektorin, die nicht aus Gabun kommt und zudem noch einen weißen Arztkittel trägt. Der Streit wogt durch die Halle, die Stimmung kippt fast ins Hysterische, beiden Seiten schließen sich immer mehr Mitstreiter an. Schließlich flutet der streitende Mob hinaus auf das Rollfeld und verebbt in der Nacht. Vielleicht ist es an der Zeit aufzuwachen? Leider nicht … der Traum geht noch weiter.

      »Qu’est-ce que vous avez prévu pour payer ce monsieur?«, murmelt ein kleiner Mann in der khakifarbenen Uniform eines Gepäckträgers etwas verschüchtert an meinem Ellbogen. Er lächelt freundlich und würde mir gerne helfen. Tja, wie viel habe ich denn eigentlich für den Beamten an der Passkontrolle vorgesehen? »Nichts.« Welch eine heikle Frage: Mein neuer Freund vermutet, dass zwanzig Euro das Fehlen eines Empfehlungsschreibens wettmachen würden. Eine wachsende Anzahl von Gepäckträgern, Taxifahrern, Polizisten und falschen Polizisten umringt mich – und als ein Neuankömmling namens »Thomas« auch noch behauptet, mein »Protokoll« zu sein, knicke ich ein und händige dem Beamten den zuerst genannten Betrag aus. Ein Uniformierter schnappt sich den druckfrischen blauen Schein und bringt ihn ins Büro der Passkontrolle, wo zwei Beamte ihn einer sorgfältigen Prüfung unterziehen. Echt. Mein Pass wird mir ausdruckslos über die Schultern meines Peinigers hinweg ausgehändigt. Ich bin durch die Brandung hindurch an den Strand geschwemmt worden. Der Traum ist vorbei. So viel Tamtam um zwanzig Euro. Thomas nimmt mein Gepäck und führt mich zu einem privaten Taxi. Wie sich herausstellt, hat er nicht gelogen. Er ist ein Freund des Regisseurs.

      —

      Thomas trug den Ehrentitel »Papa« wegen seines hohen Alters – er musste ungefähr fünfundfünfzig sein. Er war unser Fahrer und wirkte kräftig und leistungsfähig, auch so, als könne er mit einem Paddel umgehen, wenn er plötzlich in einem Einbaum säße. Er war ein Überlebender, der improvisierte. Auch wenn er uns nicht besonders alt vorkam, sagte er, dass es in der DRK nur wenig Menschen seines Alters gebe. Er fuhr schnell, aber ohne uns nervös zu machen. Als das Auto einmal liegenblieb und ich unter die Motorhaube lugte, entdeckte ich, dass der Drahtzug des Gaspedals mit einer Schnur umwickelt war. Warum? »Keine Ersatzteile.« Thomas lebte mit seiner Frau oder seinen Frauen in irgendeinem entfernten Vorort und stand sehr früh auf, um uns nach unserem Frühstück abzuholen. Ich erkundigte mich bei ihm nach der politischen Situation. Er legte jedes Wort auf die Goldwaage. »Es geht bergauf«, sagte er. »Langsam.« Und der Präsident? »Er ist ein junger Kerl, kein erschöpfter alter Mann. Er ist besser als sein Vorgänger. Aber wir müssen Gas geben. Wir sind noch nicht auf Reisegeschwindigkeit. Wir sind noch nicht mal auf dem Standard der Kolonialzeit angekommen, weil wir immer noch im ersten Gang fahren.« Er sah Politik durch die Brille des Autofahrers.

      Als wir vom Flughafen auf einer vierspurigen Schnellstraße voller Menschen in die Stadt fuhren, kamen wir an einer halbfertigen Fußgängerbrücke vorbei, deren Betontreppen beidseits der zum Regierungssitz führenden Straße in den Himmel ragten. Die Stufen waren schon da, doch es gab keine Verbindung zwischen ihnen. Auch hier wuselte es vor Fußgängern, die sich zwischen den rasenden Lastwagen und Autos hindurchzuschlängeln versuchten.

      Papas Taxi ratterte voran und lavierte sich durch den Industriemüll der westlichen Welt. Eine überdimensionierte Reklamewand gab die Präsenz des Polizeibataillons für Kriminalnachforschungen bekannt. An den Kreuzungen winkten Verkehrspolizisten in gelben Hemden auf Podesten, die ihren Pfeifen ab und an verblüffende Tonfolgen entlockten. Meistens standen sie einfach nur dort, ohne zu winken, und sahen durch ihre verspiegelten Sonnenbrillen auf das Chaos hinab. Wenn sie nicht einschritten, löste sich die Situation zwar nicht von selbst auf, sie verschlimmerte sich aber auch nicht.

      Wir kamen mit einem Mann ins Gespräch, der auf einem Bürgersteig im Stadtzentrum neben einem Saftstand saß und sich gerade die Nachrichten im Radio anhörte. Er erzählte uns, er sei Lehrer, würde aber streiken, weil er seit geraumer Zeit nicht bezahlt worden sei. Er sollte eigentlich 75 Pfund die Woche plus Gehaltserhöhungen verdienen, aber bei ihm kam seit geraumer Zeit nichts mehr an. »Die sagen, dass wir dem IWF täglich 50 Millionen Dollar zurückzahlen. All das Geld, das Mobutu gestohlen hat. Deswegen hat das Kultusministerium kein Geld, und deswegen werde ich nicht bezahlt.« Die frei gewählten Abgeordneten der DRK bezogen in regulären Intervallen das Zehnfache seines Gehalts, und obendrein wurde ihnen ein Wagen mit Allradantrieb gestellt.

      Während wir uns unterhielten, kam ein Junge vorbei. Er zog eine leere Orangensaftpackung an einer Schnur hinter sich her, die von zwei Stöcken durchbohrt war, an denen sich vier Räder drehten. Es schien ihm großes Vergnügen zu bereiten. Es gibt Tausende Straßenkinder in Kinshasa, manche von ihnen in der dritten Generation, Nachkommen der grandpères de la rue. Sie werden als Kleinkinder ausgestoßen und der Hexerei bezichtigt, was meistens bedeutet, dass ihre Mütter kein Geld haben, um sie großzuziehen. Wenn sie überleben, arbeiten sie als Taschendiebe oder Putzhilfen.

      Der Lehrer bemerkte mein Interesse an dem Spielzeug. »Niemand hier sitzt händeringend rum, wenn er Probleme hat«, meinte er. »Wenn man ein Problem hat, findet man einen Weg, es zu umschiffen.«

      1890 beschrieb Joseph Conrad den Nukleus der Siedlung, die sogenannte Hauptstation, die später zu den Stanleyfällen, dann zu Leopoldville und schließlich zu Kinshasa werden sollte, als »Bild einer bewohnten Wüstenei«10. Zwanzig Jahre später wurde aus dem persönlichen Herrschaftsgebiet des belgischen Königs eine Kolonie und Leopoldville zum Vorzeigeobjekt im kolonisierten Afrika. Es gab dort schattige Boulevards, moderne Hotels und ab 1960 Bürogebäude aus Stahl und Glas, eine Universität und einen Zoo. Doch unter Mobutu ging all das zugrunde. Heute bietet Kinshasa nach zwei Bürgerkriegen wieder das »Bild einer bewohnten Wüstenei«, wenngleich von ganz anderen Dimensionen. Die Stadt wirkt, als wäre sie von einem Tsunami aus dreckigem,


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