Schlangentanz. Patrick Marnham

Schlangentanz - Patrick Marnham


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war um einiges kleiner als die Dampfer des 19. Jahrhunderts, die nach der Eröffnung der Bahnlinie von Matadi gebräuchlich waren. An seinem Bug prangten noch die Buchstaben »AIA« (Association Internationale Africaine). Dies war eine von Leopold II. 1876 ins Leben gerufene Institution, aus der 1879 die AIC (Association Internationale du Congo) hervorging, für die Stanley dann im selben Jahr seine zweite Kongoreise antrat. Und dieses verrostete Wrack war tatsächlich eines der Instrumente, mit deren Hilfe die Völker des Urwalds versklavt worden waren.

      Ein kleiner Teil der Sammlung befand sich in den benachbarten Baracken. Lauter Metallregale voller Holzschnitzereien, Steinskulpturen, Artefakte aller Art, Boote, Waffen, Masken, Hocker, Ornamente und Amulette. Auf dem Boden standen Trommeln, groß wie Boote, Kriegs- und Signaltrommeln, die aus gewaltigen Baumstämmen gefertigt waren. »Ich hoffe, Ihnen kommen beim Anblick der Sammlung nicht die Tränen«, hatte uns der Professor gewarnt. In den staubigen Gängen zwischen den Regalreihen konnte man die Gegenstände gerade noch ausmachen. Hier waren sie versammelt, die Insignien von Kriegstänzen: »das grimmige Antlitz dessen, der eine Wahrheit erblickt hat«14, »die Düsternis […], der Klang der Trommeln, gleichmäßig und dumpf wie der Schlag eines Herzens«15. Hier waren die gehörnten Köpfe, die getrockneten Kürbisse, die geschweiften schwarzen Federn … Die Welt der Bäume aus der Zeit, als Bäume Herrscher waren, die unermesslich große geheime Welt, die sich mit Gedanken nicht durchdringen ließ, das Herz einer siegreichen Finsternis. Hier gab es Holzfiguren, die so schön waren, dass man ihnen huldigen wollte, daneben Fetische, die so abartig, verklumpt und schwarz waren, dass man sie am liebsten gar nicht gesehen hätte. Je länger wir uns zwischen den Regalen herumdrückten und uns bemühten, kein Tongefäß umzustoßen und in keine rostige Speerspitze hineinzulaufen, desto mehr Assistenzkuratoren begleiteten uns. Sie schauten uns erwartungsvoll an, als wären sie neugierig, was für Mächte diese einst so schrecklichen Objekte noch immer entfesseln konnten.

      Wir gingen von Baracke zu Baracke. Auf dem Gras zwischen ihnen waren riesige Kupferstatuen von Leopold II. und seinem Sohn Albert I. deponiert worden. Stanley lag mit abgeschlagenen Füßen neben seinen leeren Stahlstiefeln auf dem Rücken. In der schattigen Ecke einer Terrasse mit Blick auf den dahinfließenden Kongo ein gedankenverlorener König in Uniform, ohne Hut, aber hoch zu Ross. Vielleicht fragte er sich, wann eigentlich alles schiefgegangen war. In der letzten Baracke endete die Sammlung unvermittelt mit Toby-Krügen und Staffordshire-Keramik. Überbleibsel von Siedlern, die nach der Unabhängigkeit 1960 um ihr Leben geflohen waren und ihre Fetische – kuhförmige Milchkännchen, King-Charles-Spaniel und fünfundzwanzig Zentimeter hohe Gentlemen in Schottenröcken – aufgegeben hatten? Oder hatten sie den sogenannten Evolués gehört, den offiziell »zivilisierten« Ureinwohnern der Kolonie, die in unmittelbarer Nähe zu ihren weißen Herren leben durften?

      Die allerletzten Ausstellungsstücke zeugten von einer späteren Niederlage. Ein drei Meter hoher und anderthalb Meter breiter vergoldeter Rahmen, der einst Marschall Mobutus offizielles Porträt geschmückt hatte, lehnte gegen eine Wand. Das Gemälde selbst ist nicht erhalten. Vielleicht hatten die Leute es satt. Unter Mobutu durfte einzig und allein sein Konterfei gezeigt werden. In einer Rumpelkammer hinter dem Bilderrahmen standen zwei präsidentielle Thronsessel, der eine vergoldet und in protzigem napoleonischem Stil, der andere aus Teakholz und mit Leder und Leopardenfell bezogen. Breit grinsend nahm Thomas auf dem Leopardenfell Platz und posierte für ein Foto, bevor ihn ein Assistenzkurator scharf zurechtwies. Der Thron war leer, seine Symbolkraft hatte er deshalb noch nicht verloren.

      Wir verabschiedeten uns von dem Generaldirektor und gingen den Hügel hinter dem Museum hoch zu den Überresten eines Freilichttheaters neben dem Präsidentenpalast, einer weiteren Extravaganz Mobutus. Die Zuschauer, die sich hier einst gedrängt hatten, um Miriam Makeba und Stokely Carmichael zuzuhören, waren zuversichtlich gewesen, dass Afrikas Zukunft so glanzvoll sein würde wie dieses Theater. Die Zufahrtsstraße führte zwischen den Gehegen durch, in denen Mobutu seine wilden Tiere hielt; die Bühne und der Zuschauerraum waren mit Onyx und Marmor verkleidet. Heute ist das Theater verfallen, der Großteil des Marmors gestohlen, die Bühne von Moosen und Flechten überzogen, und der Wald rückt von allen Seiten heran.

      Unser Führer, einer der Assistenzkuratoren, sieht sich um und bemerkt: »In diesem Land wiederholt sich die Geschichte.« Er zählt anscheinend zu der kleinen Gruppe Überlebender, den fähigen Männern und Frauen, die sich immer noch an die Regeln halten, die immer noch unerschütterlich auf ihren Posten ausharren, während sich die große Idee, in die sie so viel Hoffnung gesetzt haben, in Luft auflöst. Man kann kein Museum leiten, wenn die eigenen Briefe ins Leere gehen, man kann keine Datenbank anlegen, wenn es nicht einmal Strom für die Schreibtischlampe gibt. All diesen Widrigkeiten zum Trotz geben diese Männer und Frauen die Hoffnung nicht auf, eines Tages wieder mit der rationalen Welt verbunden zu werden.

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      1959, ein Jahr bevor sich die belgische Regierung in einer Panikattacke und aufgrund des starken Drucks aus Washington dazu durchrang, den Kongo in die Unabhängigkeit zu entlassen, wurde an der Universität von Leopoldville noch ein Kernreaktor gebaut. Er war ein »Geschenk des Volkes der Vereinigten Staaten« für das Uran, das der Kongo während des Zweiten Weltkrieges für die Entwicklung der Atombombe geliefert hatte. Am Eingang zum Kraftwerksgelände hängt eine Tafel, die an die wechselseitige Großzügigkeit erinnert.

      1974, vierzehn Jahre nach der Unabhängigkeit, als Marschall Mobutu längst im Ruf eines der korruptesten und inkompetentesten Machthaber in Afrika stand, entschied sich die belgische Regierung dazu, den Reaktor in Kinshasa aufzurüsten, beziehungsweise ihn durch einen neuen zu ersetzen. Erklärtes Ziel war es, Zaire zu befähigen, seine eigene Atomenergie zu generieren. Damals plante das Land eines der weltweit größten Wasserkraftwerke, um die Energie der unschiffbaren Stromschnellen des Kongo bei Inga nutzbar zu machen. Aber während Mobutu sein »Authentizitäts-Programm« ins Leben rief – in dessen Verlauf er seinen Namen von Joseph-Désiré Mobutu zu Mobutu Sese Seko änderte, alle christlichen Namen im Land abschaffte, seine Untertanen anwies, sich gegenseitig mit citoyen anzusprechen, und ihnen verbot, Krawatten zu tragen –, taten sich belgische Ingenieure und Physiker schwer, diesen neuen Reaktor zum Laufen zu bringen, der die tägliche Leistung des Wasserkraftwerks in weniger als einer Sekunde erbringen sollte.

      Seit dieser Zeit ist der Atomreaktor der DRK in den Kreisen internationaler Atomenergieexperten verschrien. Das Gebäude ist im selben Zustand wie der Rest der Stadt. Es handelt sich um einen niedrigen Betonklotz, der auf den ersten Blick an eine Kaserne oder ein Gefängnis erinnert. Weiße Farbe blättert vom Beton, aus den Wänden wächst Unkraut, Fensterscheiben sind zerbrochen oder nicht mehr vorhanden. Da hier ein Reaktor steht, sollte das Regionale Zentrum für Nuklearstudien Kinshasa (CREN-K) eigentlich ein Hochsicherheitsareal sein. Tatsächlich kann der Drahtzaun, der das Grundstück umgibt, mit einer Hand umgestoßen werden. Am Tor des Haupteingangs hängt ein Schild, »Zutritt verboten«. Eine Bewachung rund um die Uhr scheitert an Wächtern, die selten auf ihrem Posten sind, und an der defekten Sicherheitsbeleuchtung. Die Wände des Gebäudes sind einen Meter dick, und der Reaktor wird durch drei verschiedene Schlösser geschützt, zu denen drei Leute Schlüssel haben. Möglicherweise auch mehr. Denn in einem Moment geistiger Umnachtung hat der Direktor der Kommission für Atomenergie der DRK vor einigen Jahren einem Fremden einen vollständigen Satz von Schlüsseln ausgehändigt, der seitdem nicht mehr gesehen ward. Und es gibt noch ein Problem. Der Reaktor ist auf sumpfigem Untergrund erbaut worden, in den er langsam, aber sicher hinabsinkt. Der größte Krater in der Nähe des Gebäudes ist fünfzehn Meter tief.

      Die Regierung der Vereinigten Staaten stellte den Nachschub von Ersatzteilen im Jahr 1980 ein. Danach gab es wiederholte Aufforderungen, den Reaktor dichtzumachen. Aber welche Regierung der DRK sollte sich je bereitwillig von Afrikas erstem Atomreaktor trennen? Für die Kongolesen ist diese verfallene und potenziell tödliche Anlage ein Symbol ihres Stolzes und ihrer Souveränität. Kurz nachdem dem Direktor seine Ersatzschlüssel verlustig gegangen waren, verschwanden zwei Uranbrennstäbe. Einer wurde von der italienischen Polizei – wohl auf dem Weg zu einem Abnehmer im Nahen Osten – auf Sizilien sichergestellt. Der andere tauchte nie wieder auf. 1999 grub sich ein Stahlsplitter in eine der Betonwände, womöglich ein Schrapnell, und der Reaktor wurde heruntergefahren. Bei einer Inspektion im Jahr 2004 wurde der Reaktor als so gefährlich eingestuft, dass dringend empfohlen wurde, ihn zu


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