Schlangentanz. Patrick Marnham

Schlangentanz - Patrick Marnham


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wieder auf, und von Mal zu Mal mit verheerenderen Folgen. So also sieht das Ergebnis des Experiments von König Leopold hundert Jahre danach aus.

      An diesem ersten Abend aßen wir draußen in einem Restaurant an einem Markt namens Le Blok de Bandal. Die Straßenbeleuchtung war ausgefallen – »Stromsperre« –, aber im Restaurant hingen Girlanden mit Glühbirnen, die aus einem Generator hinter der Küche gespeist wurden. Das Bier war kalt, das Essen geheimnisvoll, und dazu dröhnte ausgelassene Musik aus den Lautsprechern. Ein Junge mit einem Tablett voller Nüsse und Zigaretten ging zwischen den Tischen umher, gefolgt von Kindern, die ihre Hände nach den Resten auf unseren Tellerrändern ausstreckten. Als wir abfuhren, rannten sie in der Hoffnung auf Geld oder ein paar Krümel neben dem Auto her. Sie hatten die Hälfte unseres Essens abbekommen. Sowie der Verkehr es zuließ, beschleunigte unserer Fahrer und sie fielen zurück, wie riesige Motten still in der Dunkelheit herumhüpfend, um den Hieben der größeren Jungen auszuweichen. Die kleineren Jungen führten fast geistesabwesend ihre Tänze auf. Ab und an sauste ein unsichtbarer Schlag aus der Finsternis auf sie nieder.

      Unser Hotel war billig und lag in der Nähe der Straße zum Flughafen am Ende einer Gasse. Ein uniformierter Wächter döste in einem Stuhl vor dem Haupteingang. Mein Zimmer war sauber, auch wenn sich in der Wand bei der Dusche ein Loch befand, das groß genug für eine Ratte und ihre Beute war, was immer das sein konnte. Beim Einschlafen erinnerte ich mich an meine allererste Nacht in Kinshasa im Jahr 1975 während Mobutus Herrschaft, als die Stadt für ihre Extravaganz und hohen Preise bekannt war. Ich hatte in einem Restaurant unter lauter Europäern zu Abend gegessen, die in Kinshasa arbeiteten, aus Brüssel eingeflogene moules aßen und sich an einem guten französischen Muscadet betranken – Dinge, die ich mir nicht leisten konnte. Eigentlich hatte ich gar nicht in diesem Land übernachten wollen, und bis ich das Stadtzentrum erreicht hatte, gab es keine Hotelzimmer mehr. Schließlich fand ich ein Bett in einer billigen Absteige. Das Zimmer war voller Kakerlaken, die so groß wie kleine Vögel waren. Sowie ich das Licht löschte, begannen sie miteinander zu kommunizieren, flatterten umher und setzten zu Notlandungen neben dem Wasserglas an. Oder auf meinem Kissen. Schaltete ich das Licht an, verharrten sie mit ihren glänzenden und robusten Körpern regungslos an Ort und Stelle. Es war eine dieser unvergesslichen Nächte, in denen man sich fragt, warum zum Teufel man nicht in Europa geblieben ist. 1975 galt Kinshasa nachts als gefährlich, doch das Schlimmste, was ich erlebte, war ein Soldat, der mit einem Gewehr in mein Taxi stieg und mich darüber informierte, dass wir einen Umweg zu seinem Haus machen würden. Als er schließlich ausstieg, wollte er meine Olivetti Lettera 22 mitnehmen, eine hochmoderne tragbare Schreibmaschine. Der Taxifahrer zahlte ihm einen Obolus, und er ließ sie stehen.

      Papa Thomas war früh aufgestanden und wartete schon auf uns, um uns zum Zoo zu fahren. Im Auto lief das Radio. Ich stellte ihm wieder Fragen zur politischen Situation. Er musste keine Rücksicht auf eigene Interessen nehmen und war im Gegensatz zu gebildeteren Leuten bereit, offen über Politik zu sprechen.

      »Was war eigentlich mit dem letzten Präsidenten, Thomas, der so alt und müde war wie wir?«

      »Hihi.« Nach einer Weile hörte er auf, in sich hineinzukichern. »Der wurde hier in seinem Palast ermordet. In Kinshasa hat den sowieso keiner gewählt.«

      »Und wer hat ihn umgebracht?«

      »Das wissen wir nicht. Es heißt, dass er von dem Leibwächter ermordet worden ist, dem er am meisten vertraute.«

      »Aber waren das nicht alles Kinder?«

      »Doch. Angeblich hat dieser Junge etwas mehr Geld von ihm gefordert, und als er sich geweigert hat, hat er ihn erschossen.«

      Wir schwiegen nachdenklich. Ein Mann kommt aus dem Wald, aus dem Osten. Keiner aus dieser Gegend hat je in Kinshasa geherrscht. Mord und Totschlag, wohin seine Soldaten auch kommen. Sie vergewaltigen, plündern, bringen willkürlich Menschen um, nehmen sich, was sie kriegen können. Auch in Kinshasa. Mobutu ist geflohen. Dessen Männer reißen sich die Uniformen vom Leib und werfen die Gewehre weg. Viele nehmen die Fähre über den Fluss nach Brazzaville, der Hauptstadt eines anderen Landes, der (einst französischen) Volksrepublik Kongo. Und so wird Kabila Präsident, der Raubmörder aus dem Osten. Die afrikanischen Nachbarstaaten, deren Armeen das halbe Land gebrandschatzt haben, unterstützen ihn; er hat den Rückhalt der internationalen Gemeinschaft, denn er ist nicht der berüchtigte Tyrann Mobutu, der mittlerweile doch sehr unangenehm geworden ist. Er verspricht freie Wahlen und die Wiederherstellung der Demokratie. Alles soll anders werden. Er zieht in den Palast. Wo er von einem Kindersoldaten erschossen wird, den er zum Kämpfen gezwungen hat.

      »Was ist aus dem Jungen geworden, der ihn getötet hat?«

      »Den haben sie auch erschossen. Jetzt gibt es keine Kinder als Leibwächter mehr im Palast«, fügte Thomas hinzu. »Der neue Präsident hat sie sich vom Hals geschafft.«

      Wir waren am Zoo angekommen.

      Um in den Zoo von Kinshasa zu gelangen, muss man erst über matschiges Brachland waten, das einmal ein Park gewesen sein könnte. Dann kommt man zu den Drehkreuzen mit dem Schild: »Der größte Zoo in Zentralafrika. Eintritt: Erwachsene 500 F, Ausländer [»Expatriés«] 700 F.« Der Ticketverkäufer nuschelt: »Hier gibt es nicht mehr viel zu sehen. Wir sind pleite.«

      Vor meiner Abreise aus Belgien hatte ich dem vorbildlichen Zoo in Antwerpen einen Besuch abgestattet, der verkehrsgünstig in der Nähe des Bahnhofs lag. Es gab dort ein riesiges Gehege mit einer Schimpansen-Sippe. Eins der Tiere sah ziemlich bedrückt aus, und um die Öffentlichkeit zu beruhigen, war an der Glaswand des Geheges der Hinweis angebracht worden, dass die Besucher sich keine Sorgen um den traurigen Schimpansen machen müssten, denn er sei in psychologischer Behandlung.

      Aber das war in Antwerpen gewesen. In Kinshasa war es anders. Hinter dem Eingang empfing uns ein penetranter Geruch. Die meisten Käfige waren entweder abgerissen worden oder sie standen leer, und die übrigen waren seit längerem nicht gereinigt worden. Doch die Beschriftungen waren immer noch korrekt: »Wissenschaftlicher Name: Pan troglodytes. Üblicher Name: Schimpanse. Landessprachlicher Name: Soko Mutu. Herkunft: Demokratische Republik Kongo. Nahrung: Allesfresser. Lebensdauer: Über 40 Jahre.« Das Geschöpf hinter den Gittern würde dieses Alter wohl kaum erreichen. Es strich in seinem Drahtkäfig von der Größe eines kleinen Hotellifts hin und her und suchte Blickkontakt mit allen, die vorbeikamen. Der Draht war locker, im Boden war ein Loch, in dem sich Schmutz und Abfall gesammelt hatte: Karotten, Kothaufen, Brotkrusten und eine leere Sardinenbüchse. Soko Mutu hatte das meiste davon in eine Ecke geschoben, vielleicht in der Hoffnung, dass jemand kommen und es beseitigen würde. Er hatte sich auch eine Plastiktüte beschafft und in das Loch im Boden gestopft. Der baufällige Käfig nebenan schien leer zu sein. Doch auf den zweiten Blick erkannte ich, dass das Dach auf seinen Bewohner, einen winzigen Alligator, herabgefallen war.

      Das einzige Tier, das einen wohlgenährten Eindruck machte, war ein Leopard namens Maréchal, benannt nach Mobutus militärischem Rang eines Marschalls. Sein ehemaliger Besitzer hatte ein paar von den wilden Tieren, die sein Wappen schmückten, frei auf dem Palastgelände herumlaufen lassen. Nach seiner Flucht wurden die Überlebenden in den Zoo gebracht. Maréchal war groß und sah schnell und stark aus, allzeit bereit, die menschlichen Müßiggänger aufzufressen, die ihre Tage damit vertrödelten, ihn zu ärgern.

      Zwei Schulbusse fuhren aufs Gelände. Ein leiser Nieselregen setzte ein. Die Schulkinder waren ordentlich gekleidet, aufgeweckt, höflich und neugierig. Die Busse wirkten hingegen, als würden sie im nächsten Moment – wie die Fahrzeuge von Clowns in der Zirkusmanege – explodieren. Rauchwolken quollen aus den Ritzen, Funken schlugen aus den Auspuffrohren, als sie an uns vorbeiknatterten. Ein Wärter kam hinter der Kasse hervor, hob einen Zweig vom Boden und fegte den Müll um den Schimpansenkäfig zu einem neuen Haufen zusammen. Ein paar junge Männer in Rollstühlen dösten vor sich hin. Der Wärter erklärte uns, sie dürften den Zoo gratis besuchen, damit sie etwas frische Luft schnappen konnten.

      Zwei zerlumpte Männer näherten sich dem Regisseur, der gerade filmte. Sie behaupteten, Zivilpolizisten zu sein, und forderten ihn auf, seine Genehmigung vorzuzeigen. Als er nach ihrer Legitimation fragte, zogen sie abgegriffene, speckige Polizeiausweise hervor, die den Anschein erweckten, von Toten gestohlen worden zu sein – was durchaus


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