BEUTEZEIT - Manche Legenden sind wahr. Lee Murray

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Verwandten hielt – dem alten Mann beruhigend eine Hand auf die Schulter legte. McKenna nutzte den Moment, um sich vor de Haas zu schieben. Jules bezweifelte, dass er dabei den Schutz des Einsatzleiters im Sinn hatte.

      »Und nun?«, fragte sie Eriksen.

      Der Soldat zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Sie sind wie Elefanten – die Leute, die hier leben, meine ich. Kommen nie über eine Sache hinweg. Würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellt, dass irgendjemand vor einem halben Jahrhundert mit der Urgroßoma des alten Knackers durchgebrannt ist und er deswegen noch immer sauer ist.«

      Der alte Mann schien sich auf de Haas stürzen zu wollen.

      »Aha«, sagte Eriksen. »Ich hatte recht. Die gute Urgroßoma ist wohl wirklich fremdgegangen.«

      Jules unterdrückte sich eine Bemerkung auf Eriksens pietätlose Anspielung. Aber der Streit überraschte sie. De Haas war gereizt, aber genügte das, um den alten Mann zu einer Rauferei zu provozieren? In so kurzer Zeit?

      Der Schlag des alten Mannes traf ins Leere, oder vielmehr auf die Wand aus McKennas Körper. Der Verwandte zog den alten Mann zurück.

      »Kriegt euch wieder ein, Jungs«, murmelte Eriksen.

      McKenna drehte sich zu de Haas, um den Geologen ganz offensichtlich daran zu hindern, den Streit noch mehr eskalieren zu lassen, während der jüngere Mann den Alten in Schach hielt. Eine Pattsituation.

      Nathan Kerei war in dem zweiten Lastwagen mitgefahren. Er stieg aus dem Fahrzeug und lief nach vorn. Es schien, als würde er die Blockierenden kennen. Der Führer sprach einige Augenblicke mit dem jüngeren Mann, der wiederum mit seinem älteren Begleiter redete. Einige angespannte Minuten vergingen, dann gaben die beiden auf und die Absperrung aus Klappstühlen wurde entfernt.

      McKenna war der Letzte, der wieder in den Lastwagen schlüpfte. Er legte einen Gang ein und fuhr los.

      Jules auf dem Beifahrersitz hielt die Spannung nicht mehr aus. »Was war da los? Was wollten diese Leute?«

      McKenna hob seinen Blick nicht von der tiefen Spurrinne in der Straße vor ihm. »Der Name des alten Mannes lautet Rawiri Temera, und der andere ist sein Großneffe, Wayne. Sie gehören dem örtlichen Stamm an. Es sind Tūhoe.«

      Er riss das Lenkrad hart nach rechts. Jules musste sich am Armaturenbrett festhalten, als der Laster durchgerüttelt wurde. Nach ein paar Metern, als die Fahrt weniger ruckelig wurde, hakte Jules noch einmal nach. »Und was wollten sie?«

      »Temera wollte, dass wir umkehren.«

      »Das ist mal wieder so typisch, oder?«, ächzte Eriksen von hinten. »Da wird ein streng geheimes Einsatzkommando zusammengestellt, und am nächsten Tag wissen bereits Hinz und Kunz darüber Bescheid.«

      »Ich glaube nicht, dass sie etwas von der Sondereinheit wussten. Wir wissen es ja auch erst seit gestern«, antwortete McKenna.

      »Aber es war auch nicht schwer zu erraten, dass die Regierung irgendetwas unternehmen wird, nachdem man die Goldklumpen gefunden hat, oder?«, meldete sich Trigger.

      McKenna wich einer Spurrille aus. »Der Neffe beteuerte allerdings, dass die beiden schon seit dem Sommer immer wieder hier raufkommen und parken. Offenbar hatte Temera eine Art Vision. Er behauptet, er hätte einen Taniwha durch die Wälder streifen sehen und will die Menschen davor warnen, sie zu betreten.«

      »Einen Taniwha?«, fragte Jules, die Hände noch immer am Armaturenbrett. Ein Monster aus der Sagenwelt? Glaubte McKenna das wirklich? Sie sah zu ihm hinüber, doch sein Gesicht blieb regungslos.

      »Für mich hört sich das eher so an, als hätte der alte Knacker nicht mehr alle«, sagte Eriksen hinter ihnen.

      »Der Neffe behauptet etwas anderes.«

      »Dann hat der auch nicht mehr alle.«

      Coolie legte eine Hand auf die vordere Handablage und zog sich nach vorn. »Nehmt euch in Acht, dort draußen lauern Drachen«, murmelte er, und bei dem Klang seiner Stimme lief es Jules kalt den Rücken hinunter.

      »Was sagtest du da über Drachen?«, erkundigte sich Read ungeduldig aus dem hinteren Teil des Lastwagens. Es war ein Wunder, dass er über das Dröhnen des Motors hinweg überhaupt etwas von ihrer Unterhaltung verstanden hatte.

      »Dort draußen lauern Drachen«, wiederholte Coolie, dieses Mal lauter. »Kartographen schrieben früher Zeilen wie diese auf ihre Seekarten, wenn ihnen ein Gebiet gänzlich unbekannt war. Sie zeichneten eine Seeschlange dazu, markierten so das unerforschte Territorium. Und warnten auf diese Weise die Seefahrer, auf der Hut zu sein. Einige Leute glauben, dass die Legenden der Maori über den Taniwha den gleichen Zweck erfüllen. Du weißt schon, als Warnung vor einer Gefahr.«

      »Ich dachte, Taniwhas hängen eher in Flüssen und Sümpfen ab«, sagte Read.

      McKenna hob das Kinn und sah den Private durch den Rückspiegel hindurch an. »Meistens, aber nicht immer.«

      »Außerdem gibt es reichlich Flüsse in den Ureweras«, gab Trigger zu bedenken.

      Eriksen schnaubte. »Das ist doch alles nur dummer Aberglaube!«

      »Ist alles irgendwie Auslegungssache, oder?«, entgegnete Coolie nachdenklich. »Du magst die Maori für abergläubisch halten, andere würden argumentieren, sie hätten einen siebten Sinn für solche Dinge.«

      »Ja klar«, spottete Eriksen. »Auslegungssache. So, wie ich das sehe, hat der alte Kauz dieselben Nachrichten wie wir verfolgt. Er ist der Ansicht, dass die Tūhoe das goldene Ei für sich beanspruchen sollten und zaubert deshalb einen verdammten frei erfundenen Drachen aus dem Hut.«

      »Ich bin derselben Meinung wie Eriksen«, sagte Trigger. »Es ist nur ein Versuch der Maori, um an Kohle zu kommen.«

      Jules sah ihn scharf an. »Hat er denn nach Geld gefragt?«, wollte sie von McKenna wissen.

      »Nein«, antwortete McKenna. »Er erwähnte weder eine Entschädigung noch das Abkommen. Er wollte uns nur warnen, dass es zu gefährlich sei, weiterzufahren.«

      »Diese Wälder sind stets gefährlich, wenn man nicht weiß, wie man sich zu verhalten hat«, sagte Coolie. »Es gibt gefrierende Nebel, Felsstürze, überflutete Flüsse, Erdrutsche …«

      Trigger grunzte. »Und wir sind die Armee. Dann gibt es eben ein paar Steinschläge. Davon lassen wir uns nicht aufhalten.«

      Jules hörte, wie Triggers Sitz knarzte, als er sich wieder zurücklehnte. Er hatte seinen Standpunkt klargemacht. Ein Blick über ihre Schulter zeigte ihn gutmütig zusammengesunken auf seinem Platz. Read hatte sich bereits wieder seine Kopfhörer in die Ohren gestopft. Jules sah zu McKenna. Mit zusammengekniffenen Lippen navigierte er ihr Fahrzeug über das holperige Terrain.

      Dann war das Thema damit also beendet.

      Jules lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Wald um sie herum rückte immer näher heran. Baumstämme standen in Reih und Glied, wie Einheiten von Soldaten, die das düstere und dichte Landesinnere bewachten. Der Stamm, der hier lebte, wurde Kinder des Nebels genannt, nach den Nebelschwaden, die wie der Hauch eines Drachen durch die Täler zogen. Vielleicht war an der Warnung des alten Mannes ja doch etwas dran. Jules war nicht abergläubisch, aber sie wusste, dass die Wälder tückisch sein konnten. Die dunklen Pfade verhießen Abenteuer, und doch konnte sich nur ein falscher Schritt als verhängnisvoll, sogar tödlich erweisen.

      Der Motor heulte angestrengt auf, als das Fahrzeug einen Berghang erklomm und Jules einen Blick auf den zarten Dunstschleier gewährte, der über den Berggipfeln hing und sich in das Tal hinabsenkte. Sie unterdrückte das ängstliche Zittern, das sie dabei befiel.

      McKenna stoppte den Lastwagen und zog die Handbremse an. »Endstation Leute. Drachen hin oder her, von hier an müssen wir zu Fuß gehen.«

      ***

      Die folgenden fünfzehn Minuten entpuppten sich als Albtraum. Vorahnung und Angst ließen es Jules mulmig zumute werden. Mit festgezurrten Schnürsenkeln


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