BEUTEZEIT - Manche Legenden sind wahr. Lee Murray

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und betete, dass sie sich dabei beeilen mochten. Mit ihren Stiefeln scharrte sie im Dreck.

       Bringen wir es hinter uns.

      Aber das Röhren eines Motors – waren das wieder Temera und sein Neffe? – ließ sie alle herumfahren.

      Ein weißer und mit lehmigen Schlammspuren verdreckter Nissan Pathfinder rollte heran. Wie ein jugendlicher Fahrschüler kam der Fahrer schlitternd zu stehen und wirbelte dabei mit einem nassen Knirschen den Kies auf.

      Jules lief auf den Wagen zu und riss die Fahrertür auf. »Richard! Was machst du denn hier?«

      »Du sagtest, es könnte kalt werden. Also hab ich dir meine Ersatzmütze gebracht«, zog er sie auf und schwang seine Beine aus dem Geländewagen.

      »Richard, ich meine es ernst«, schalt sie ihn.

      Mit einer Hand auf der Tür stieg Richard aus dem Fahrzeug. »Ich hatte noch etwas Urlaub, und nachdem du fort warst, war es so einsam bei der Arbeit, also dachte ich, wieso nicht einfach etwas spontan sein?« Er sah sich um. »Welcher der Burschen ist de Haas?«

      Wie vor den Kopf geschlagen deutete Jules auf den Geologen, der gerade einen Pickel an der Seite seines Rucksackes festzurrte. Richard war in wenigen Schritten bei ihm und streckte ihm die Hand entgegen.

      »De Haas? Richard Foster, CEO bei Landsafe. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich habe natürlich einige Ihrer Publikationen gelesen. Grundlegendes Hintergrundwissen für unsere Boden- und Gesteinsforschungen.«

      De Haas, der offensichtlich genauso überrumpelt war wie Jules, schüttelte Richards Hand und wartete darauf, dass dieser zum Punkt kam.

      »Hören Sie, es tut mir leid, dass ich hier so unangemeldet aufschlage, aber ich würde mich Ihnen gern anschließen, wenn es Ihnen nichts ausmacht?«

       Richard wollte sie ablösen? Fantastisch!

      Jules konnte bereits spüren, wie die Anspannung von ihr abfiel.

      »Natürlich nicht in offizieller Funktion, sondern als Freiwilliger«, erklärte Richard. »Als Jules Vorgesetzter wurde ich bereits in alles eingeweiht …«

      Jules biss sich auf die Zunge. Wenn Richard sich der Expedition unbedingt anschließen wollte, wieso dann dieses ganze Trara gestern, dass er angeblich niemand anderen entbehren konnte und ihre Kollegen zu beschäftigt seien? Richard wusste, was sie durchgemacht hatte, wusste, was sie angesichts dieser Feldforschung empfand. Sie hatte in der letzten Nacht kein Auge zugemacht, weil sie die ganze Zeit an die vor ihr liegende Woche im Wald denken musste! Und auf einmal tauchte er hier auf und erzählte etwas von Urlaub?

      »Jules ist ein wenig eingerostet, was Untersuchungen vor Ort anbelangt«, fuhr Richard fort. Er trat ein paar Schritte zurück und legte einen Arm um ihre Schulter. »Ich bin sicher, sie wird etwas Unterstützung zu schätzen wissen.«

      Unterstützung? Jetzt untergrub er auch noch ihre Fähigkeiten als Wissenschaftlerin?

      Jules wandte sich aus Richards Umarmung und nestelte an den Trageriemen ihres Rucksacks herum, obwohl dieser bereits perfekt saß. Diese Gedanken … waren unangemessen. Richard hatte sie in ihrer Karriere stets unterstützt. Wenn er glaubte, dass ihr das nötige Selbstvertrauen fehlte, dann sicher deshalb, weil sie sich hinter ihrer Laborarbeit versteckt hatte. Höchstwahrscheinlich wollte er ihr die Angst nehmen, wieder in den Wäldern zu sein, und ihr mit seiner Anwesenheit die Möglichkeit geben, sich stärker auf ihre Studien konzentrieren zu können. Jules runzelte die Stirn. Aber wenn das der Fall war, ging sein Handeln über das Verhalten eines besorgten Chefs weit hinaus. Wahrscheinlich sollte sie das im Hinterkopf behalten, denn im Moment war dafür keine Zeit. De Haas hatte Richards Bitte offenbar stattgegeben, denn dieser zerrte bereits seine Ausrüstung aus dem Kofferraum des Pathfinders.

      »Das werden Sie aber nicht brauchen, Foster«, sagte de Haas und deutete auf die rechteckige Ausbuchtung in Richards Hemdtasche. »Da, wo wir hingehen, werden sie keinen Empfang haben.«

      Richards verzog das Gesicht zu einem dümmlichen Grinsen. »Ich nehme es trotzdem mit, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich bin gewissermaßen süchtig nach Angry Birds.«

      »Wie Sie wollen«, erwiderte de Haas, drehte sich um und gab Kerei ein Zeichen, voranzugehen.

      Kapitel 7

       Te Urewera, Tag eins

      Nach nur einer halben Stunde waren Jules Handflächen bereits feucht und kalt. Schweißtropfen rannen zwischen ihren Brüsten hinunter. Während sie sich auf den Weg und die gleichmäßigen Schritte von Private Wrights – oder Leftys – Stiefeln vor sich konzentrierte, fühlte sie sich in diesem Moment wie in einem Horrorfilm, wenn man zu lange den Atem anhielt, weil man mit dem nächsten Schrecken rechnete. Sie zwang sich, langsam wieder auszuatmen, und hoffte, dass niemand sie verdächtigte, kurz davor zu sein, in Panik zu geraten. Am Ende hielten sie sie noch für untauglich.

       Anstatt zu Tode verängstigt.

      Jeder Schritt führte sie tiefer in den Nebel hinein. Bislang war die Wanderung wenig beschwerlich und der Pfad noch gut ausgetreten und einigermaßen eben gewesen, aber bald schon würden sie die tiefen Täler und steilen Berggipfel erreichen, für die der Nationalpark bekannt war. Trügerische, gnadenlose Bergkämme, die in steile Schluchten hinabfielen und sie an jene lange Nacht erinnerten, als sie sich an die Felsklippe klammerte und auf den verletzten und verdrehten Körper ihrer Freundin hinuntersah, der regungslos am Fuße des Abgrunds lag …

      Sie brauchte eine Ablenkung. Aber es war aussichtslos, einen heiteren Plausch mit Richard, Louise oder selbst Lefty führen zu können. Der Pfad war zu schmal und zwang sie daher, im Gänsemarsch hintereinander zu laufen, so wie Peter Pans verlorene Jungen. Jules heftete ihren Blick auf ihre Stiefel und den Pfad und lauschte stattdessen den Geräuschen des Waldes. In den Ureweras wimmelte es von Vögeln. Das ist es! Sie würde sich damit beschäftigen, die Stimmen der einzelnen Vogelarten zu identifizieren. Eine Denkaufgabe. Genau das brauchte sie jetzt.

      Angestrengt versuchte sie die einzelnen Vogelgesänge über das Klappern der Rucksäcke und den schweren Schritten der Stiefel hinweg zu isolieren. Das ausgelassene Zwitschern der Tui und Glocken-Schwatzvögel und das schrille Zirpen eines Fächerschwanzes herauszuhören, war einfach. In der Nähe schnalzte ein Kaka. Hin und wieder drang das truthahn-ähnliche Kollern der einheimischen Ringeltauben durch die Bäume, und dann … auch wenn sie sich nicht ganz sicher war … obwohl es möglich war … da war es wieder … das herzzerreißende Klagen eines silbernen Kōkako, etwas weiter entfernt, aber unverkennbar schön. Jules strengte sich an, den Ruf noch einmal zu vernehmen … und erinnerte sich in diesem Moment wieder daran, wieso sie den Wald so liebte. Er war so prächtig, so emsig.

       So voller Leben!

      Sie sah in den Himmel, bestaunte die mit graugrünen Flechten behangenen Zweige einer Silberbuche und atmete den reichen, feuchten Duft von Laub ein.

      Wie dumm! Wie hatte sie das aufgeben können? In der Natur zu sein? Die Reinheit, die Ruhe. Die ganze Zeit über hatte sie dem Wald die Schuld gegeben für das, was Sarah widerfahren war. Für die furchtbare Nacht an dieser Klippe. Der Unfall aber war ein einmaliges Ereignis gewesen. Ein Zufall. Ein unvorhersehbarer Akt Gottes. Der Wald hatte damit nichts zu tun. Wenn sie nicht so stur gewesen wäre, hätte sie das alles weiter genießen können, anstatt sich dessen zu verweigern. Vielleicht hätte es auf sie heilsam wirken können.

      Ja, natürlich hatte sie Angst. Wer hätte die nicht, nach allem, was sie durchmachen musste? Die Wälder konnten gefährlich sein. Aber vielleicht war es an der Zeit, ihren Groll zu begraben?

      Jules erhaschte einen Blick auf das bunt schillernde Gefieder eines Tuis, der in die lederigen Zweige eines Fünf-Finger-Baums hüpfte, und trotz des Gewichts ihres Rucksacks fühlten sich ihre Schritte nun etwas leichter an.

      ***

      Jugraj Singh klammerte sich fest. Es war nicht das erste Mal an diesem Tag,


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