Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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Fritz Jerusalem hätte Mitte 30er Jahre bei Arbeiterfrauen Abtreibungen durchgeführt, wenn sie aus ökonomischen Gründen keine Kinder kriegen wollten oder konnten.243 Möglicherweise hat sich Veza Canetti vom Engagement Fritz Jerusalems als Arzt im Spanischen Bürgerkrieg zu den Texten im spanischen Korpus244 – Pastora, Der Seher und Der Palankin – inspirieren lassen, unter Umständen war es aber auch nur der spaniolische Anteil der eigenen Herkunft. Pastora, die historisch gesehen mythenumrankte Freiheitsheldin, wird bei Veza Canetti zur Magd Pastora, die weniger am nicht erfolgten Aufstieg im feudalen Herrschaftshaus zerbricht denn an enttäuschter Liebe. Pastora stösst mit ihrer letzten Frage, „Habe ich denn recht und alle haben Unrecht?“, mitten in den Diskurs der Marxisten und Individualpsychologen der Zeit vor. In der Erzählung zerbricht die Liebe Pastoras und Don Anibals an der feudalen Praxis der Gegenwart, in der Ehen unter ökonomischen Gesichtspunkten geschlossen werden oder geschlossen werden müssen.245

      Von den Felonen wird berichtet, dass ihre Interessen nicht nur auf Politik und Kultur fixiert waren, sondern sportliche Wettkämpfe und Bergwanderungen auf Ötscher und Rax sowie Badevergnügen an der Donau dazugehörten.246

      Auch Veza Taubner muss sich oft auf der Raxalp erholt haben, immer dann, „wenn die Atmosphäre in der Wiener Wohnung so gespannt war“, dass Vezas Mutter um das seelische Gleichgewicht ihrer Tochter gefürchtet habe.247 Hier traf sie sich mit ihrer Freundin Lucile, wahrscheinlich das ehemalige Kindermädchen von Elias aus Die gerettete Zunge, wie ein kleiner Schibboleth in den Unpublizierten Lebenserinnerungen den Sachverhalt beweist. Lucile muss sich da von den Strapazen bei der Pflege ihres todkranken Ehemannes erholt haben, eines Philosophen, der sich mit den Segnungen des Todes auseinandergesetzt hatte. Noch mehr habe sich die Lucile aber mit Rainer Maria Rilke beschäftigt, der ihr Briefe geschrieben habe.248 Mit Lucile könnte die 1901 geborene Geigerin Lucie Wedekind-Simon gemeint sein, der Rainer Maria Rilke 1924 das Gedicht Musik gewidmet hat, das offenbart, wie man mit Musizieren die Toten erreichen kann. Lucie hatte jung die Schwester und Freundin verloren.

      Folgender Satz aus einem Brief von Veza Taubner an Elias aus dem Jahre 1926/27 vom Knappenhof Raxalp muss ihn – auch 60 Jahre später aufs Neue – enorm beschäftigt haben, wie aus den Unpublizierten Lebenserinnerungen hervorgeht: „Nichts macht auf mich nur annähernd solchen Eindruck als die Millionen uralte Tote aus welchen die Rax besteht. Sie machen mich erstarren und ziehen mich mächtig an.“249 In immer neuen Anläufen versucht Elias Canetti dieser Periode im Leben Veza Taubners in irgendeiner Form sprachlich gerecht zu werden. Vieles in dieser Auseinandersetzung erinnert an Rainer Maria Rilkes Aussage zu den Ideen des Kosmikers Alfred Schuler in einem Brief von 1915 „(…) von einer intuitiven Einsicht ins kalte kaiserliche Rom her, eine Welterklärung zu geben unternahm, welche die Toten als die eigentlich Seienden, das Toten-Reich als ein einziges unerhörtes Dasein, unsere Lebensfrist aber als eine Art Ausnahme davon darstellte: dies alles gestützt durch eine unermessliche Belesenheit …“250 Lakonisch schreibt Elias Canetti, er hätte darauf bestanden, dass Veza sich von Lucile zurückziehe: „Ich müsse wissen, was ihr wichtiger sei: der Tod oder ich. Sie verstand meine Forderung und nahm sie mir nicht übel. Sie entschied sich für mich. Vielleicht hatte sie sich eine Befreiung von Lucile gewünscht. Sie verzichtete aber nicht auf den Knappenhof und fuhr manchmal noch hin, ohne ihre Freundin dorthin einzuladen, aber auch ohne mich. Rilke starb acht Monate später, im Dezember.“251

      Gut bekannt sind den Lesern von Elias Canettis Lebenserinnerungen die Bergferien. Mit Veza Taubner hat er in den Ferien täglich Homers Odyssee gelesen, in den Wanderferien mit Hans Asriel im Karwendelgebirge spielte das Schweigen eine grosse Rolle. Dass da auch mit anderen Mitgliedern der Felonen gewandert worden ist, scheint plausibel, hat aber keinen Niederschlag in literarischen Zeugnissen gefunden.

      Zum Schwimmvergnügen in der Donau hingegen gibt es in Elias Canettis Unpublizierten Lebenserinnerungen eine Stelle, wo klar wird, dass Schwimmen nicht nur eine harmlose Betätigung gewesen sein musste. „Schon vorher, er war noch in Wien, war es zweimal zum Bruch zwischen uns (mit Hans Asriel, Anm. va) gekommen, äusserlich immer von ihm provoziert. Das erstemal bei einem Ausflug in der Wachau, wo er wortlos immer weiter in die Strömung der Donau hinausging – er wusste, dass ich nicht schwimmen konnte – und mir auf diese Weise schweigend mit Selbstmord drohte.“252 Ob Veza Taubner an den Schwimmvergnügungen teilgenommen hat, ist nicht bekannt. Eine Stelle in der autobiografisch konnotierten Erzählung Drei Viertel thematisiert ganz sarkastisch, wie der Erfolg als Schwimmerin und der Erfolg bei Männern nicht zwingend zusammenhängen müssen, wenn es sich beim Mann um einen Künstler handelt. Die schöne Britta äussert sich gegenüber Bent, dem Maler, folgendermassen: „Ich bin schrecklich froh, dass ich als schönste Schwimmerin den Preis bekommen habe, ich würd mich sonst nicht mit Ihnen im Trikot ins Boot traun, Maler sind so kritisch. Sie müssen durch Ihre Modelle schrecklich verwöhnt sein, da kann man nicht genug glänzen.“ (DF 70) Als Modell zieht der Maler Bent jedoch eindeutig das weniger Perfekte vor. Beispielsweise stellt er eines seiner liebsten Modelle, Anna, das Mädchen ohne Gesicht, so dar, „als hinge sie mit einer Schnur am Hals von der Decke herunter.“ (DF 65) Eifrig erklärt der Maler der enttäuschten Anna, dass ihr Gesicht nur so aussehe, weil ihr Porträt die erste Sonne des Jahres nicht ertrage. Der dargestellte Selbstmord hingegen scheint im Gegensatz zum fehlenden Gesicht kein Thema zu sein.

      Dass indessen nicht nur Hans Asriel mit Selbstmord drohte, sondern explizit auch Elias Canetti – ob als Spiel oder nicht –, enthüllt eine Passage in Eduard März’ Abrechnung mit diesem in der Wiener Zeitung von 1987, wo er ein Ereignis in einem weiteren linken Freundeskreis, dem von Hans Schwarz, beschreibt: „Schwarz, ein ‚ewiger Student‘ aus sehr wohlhabendem Haus, enorm belesen und kultiviert, aber ein wenig naiv, hatte Canetti in vielleicht etwas spöttischer Art gefragt, was er denn als Schriftsteller bisher geschrieben habe. Canetti spielte daraufhin eine ‚grosse Szene‘. Er erklärte, er schreibe, um gegen schwerste seelische Störungen anzukämpfen, und sei in ständiger Versuchung, Selbstmord zu begehen. Um die Dramatik dieser Störungen zu illustrieren, zog er aus der Hosentasche eine Schnur und behauptete, sie stets bei sich zu tragen, um sich bei Bedarf daran aufzuknüpfen. Schwarz war tiefbetroffen und beschwor Canetti, doch diese Schnur wegzuwerfen; er stelle ihm seinen Papierkorb zur Verfügung. In gespielter Empörung wandte sich Canetti an Fritz Jerusalem, warum denn dieser als Arzt ihm noch nicht die Lösung mit dem Papierkorb angeboten habe. Dieser ging auf den Scherz ein und meinte, das wäre ja nur eine Symptombehandlung, und Gelegenheiten, Selbstmord zu begehen, gäbe es ja auch sonst genug – worauf sich Canetti in gespielter Verzweiflung an Schwarz wandte und ihn um einen besseren Rat fragte. So ging es noch eine Weile weiter, und die ganze Gesellschaft konnte bereits das Lachen kaum mehr zurückhalten. (…) Die Szene endete übrigens in einem Eklat, als der Verhöhnte endlich doch das Theaterspiel Canettis durchschaute.“253

      Einiges in Bezug auf Selbstmord muss aber bei Elias und Veza Canetti gleichwohl im Schwange gewesen sein, wie ein Textausschnitt aus den Unpublizierten Lebenserinnerungen zeigt: „Vorher, im ersten Grinzinger Jahr kam das Erscheinen der ‚Blendung‘, meine erste wirkliche ‚Öffentlichkeit‘ sozusagen und unmittelbar danach die schreckliche Enttäuschung über unsere materielle Lage, die eine verzweifelte war. Es kam zu Vezas ‚System‘: Sie fasste geheim den Plan, durch Selbstmord auf meine verzweifelte Lage aufmerksam zu machen. Während Wochen setzte sie Briefe auf an Leute wie Thomas Mann, aber auch an nahestehende Freunde und Bekannte, in denen sie erklärte, was sie vorhabe und darum bat, dass man mich schützen und für mich sorgen möge. Sie hatte einen kleinen blauen Koffer, in dem sie alle Entwürfe zu solchen Briefen beisammen hielt. Den Schlüssel dazu trug sie immer bei sich. Ein kleiner ovaler Stein lag unter den Papieren, er stand für sie, für das Türmchen, wie ich ihren Kopf nannte. An einem furchtbaren Tag kam das Ganze heraus, ich wurde misstrauisch und erbrach den Koffer und las das Ganze. Noch einige wenige Tage und sie hätte ihren Vorsatz ausgeführt. In ihrem kleinen Grinzinger Holzzimmer brach sie zusammen und gestand mir den ganzen Plan. In meinem tödlichen Entsetzen nahm ich sie in die Arme und wir weinten wie zwei Kinder.“254

      Wenn man diese unpublizierte Passage von Elias Canetti in Beziehung setzt zu Eduard März’ Erinnerungen


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