Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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vielleicht sogar dessen Lebenspartner/Liebhaber. Georges Canetti war homosexuell.

      Dass viele Kontakte aus dem Kontext des Hauses Asriel – insbesondere was die Brüder Waldinger betrifft – bis in die Exilzeit von Bedeutung waren, offenbart ein Brief Veza Canettis an Wieland Herzfelde. Wie sie darin schreibt, hat sie sich tatsächlich zuerst bei dem mit den Felonen assoziierten Ernst Waldinger (1896–1970), dem um acht Jahre älteren Bruder von Fredl Waldinger, erkundigt, ob sie Wieland Herzfeldes „Marken“ für sein Markengeschäft in New York schicken soll.259 Ernst Waldinger, Dichter und Literaturwissenschaftler, war nicht wie sein Bruder Fredl nach Israel migriert, sondern in die USA. Vielleicht wirft diese Erst-Kontaktnahme nach dem Krieg auch ein Licht darauf, wie Veza Taubners Beziehung zum Malik-Verlag entstanden sein könnte. Die Wurzeln dieser wären im Kreis der Felonen und der mit ihnen assoziierten Dichter und Künstler zu suchen. Ein nicht zu unterschätzendes Ereignis rückt Ernst Waldinger ebenfalls in die Nähe von Veza Taubner, hat er doch durch eine schwere Kopfverletzung am Ende des Ersten Weltkrieges sein Sprachvermögen verloren, das er sich mühsam wieder neu erarbeiten musste.260 Ein Schicksal, das ein bisschen an Aspekte der historisch dokumentierten Figur des Kaspar Hauser erinnert. Veza Taubner wird einen ihrer Romane Kaspar Hauser nennen, ob sie sich von Ernst Waldinger inspirieren hat lassen, ist gut möglich. Auf jeden Fall ist ihr sein Schicksal sicher nicht entgangen, gerade auch weil ein Teil seiner rechten Hand gelähmt blieb und er nie mehr gut schreiben konnte. Ob er mit der verbleibenden Hand Maschine geschrieben hat wie Veza Taubner selbst, ist unbekannt. Ernst Waldinger arbeitete nach dem Studium beim Allgemeinen Tarifanzeiger, einem Verlag, der vom Bruder von Sigmund Freud, Alexander Freud, geführt wurde. 1923 heiratete Ernst Waldinger eine Nichte Sigmund Freuds, die Klavierlehrerin Beatrice (Rosi) Winternitz.261 Theodor Waldinger schreibt in seinen Erinnerungen an den Bruder, dass Rosi Waldinger an schweren Depressionen gelitten habe, die sich durch die Ermordung ihrer Mutter, der Schwester Sigmund Freuds, im KZ Theresienstadt noch verschärften: „Viele Jahre nach Kriegsende las sie (Rosi Waldinger-Winternitz, Anm. va) eines Tages das nach Dokumenten gearbeitete Stück ‚Der Stellvertreter‘ von Rolf Hochhuth. In diesem findet sich auch eine Szene, in der ein gebildeter KZ-Arzt aus Otto Weinigers Schriften zitiert und auf die Vorhaltung ‚Sie lesen Wiener Juden? ‘ stolz antwortet: ‚Na, ich verbrenne sie ja auch. / Am Dienstag hab ich die Schwester von Sigmund Freud durch den Kamin gepfiffen.‘“262

      Auch Eduard März und andere Kritiker von Elias Canetti haben schon betont, dass sein Kontakt zu Wieland Herzfelde nicht, wie in den Publizierten Lebenserinnerungen beschrieben, über die Dichterin Ibby Gordon erfolgte. Dieser Verdacht wird dadurch erhärtet, dass in den Unpublizierten Lebenserinnerungen die Übergänge zwischen den Aussagen Ibby Gordons und denen von Veza Taubner fliessend sind, sodass unklar ist, welche der zwei Frauen gemeint ist, beispielsweise im Bild mit der explodierenden Dichterin263. Eduard März schreibt 1987 dazu: „Diese Vermutung wird auch erhärtet durch die nicht sehr glaubwürdige Art, in der Canetti im zweiten Band seiner Erinnerungen seine Kontaktaufnahme mit dem Brecht-Kreis in Berlin motiviert. Er gibt an, durch eine Freundin (Ibby Gordon, Anm. va) in die Gruppe um Herzfelde, Bert Brecht und Isaak Babel eingeführt worden zu sein (wobei er die KPD-Nähe von Herzfeldes Malik-Verlag natürlich unerwähnt lässt). Viel wahrscheinlicher ist es aber, dass es vor allem die Empfehlung durch den beinahe ‚totgeschwiegenen‘ engen Freund Ernst Fischer war, die Canetti in Berlin die entsprechenden Türen öffnete.“264 Da Ernst Fischer seinen Arbeits- und Lebensort erst 1927 von Graz nach Wien verschoben hatte und die Felonen bereits ab 1918 politisch und künstlerisch aktiv waren, wie jüngst der Grünewald-Biograf Volker Bühn bestätigt hat265 – zudem Malik schon 1924 für kurze Zeit eine Zweigniederlassung in Wien unterhalten hat –, ist anzunehmen, dass der Kontakt eher über die Felonen oder dann über Veza Taubner direkt erfolgte. Von den Felonen kommt für einen Kontakt zu Wieland Herzfelde eigentlich nur der Literaturwissenschaftler Ernst Waldinger in Frage. Dieser gehört zudem zu den Autoren, die im Exilland USA 1944 Wieland Herzfelde beim Aufbau des Auroraverlags, des Nachfolgeverlags von Malik, geholfen haben. Wieland Herzfelde verkaufte diesen Verlag 1948 an den Aufbau-Verlag. Ernst Waldinger gehört zu den wenigen Autoren der Zwischenkriegszeit, die den Julius-Reich-Preis erhielten. „Beim ersten Autorenabend der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller am 18. Mai 1933, der unter dem Motto ‚Literarischer Rechenschaftsbericht 1932‘ stand, (…) erhielt er (Adolf Unger, Anm. va) gemeinsam mit Hilde Spiel, Ernst Waldinger und Ludo Gerwald den Julius Reich-Dichter-Preis des Jahres 1933.“266

      Seine ersten Gedichte hatte Ernst Waldinger 1924267 in der Wiener Zeitschrift Die Waage oder Die Wage publiziert.268 Politisch und kulturell hat der mit den Felonen assoziierte Ernst Waldinger ein sehr ähnliches Profil wie Veza Taubner. Wie die Canettis auch bleibt er seinem Exilland treu und wird 1947 Professor für deutsche Sprache und Literatur am Skidmore College in Saratoga Springs.269

      Wie ungleich schwerer es sozialistische Dichterinnen im Wien der Zwischenkriegszeit hatten, kann bei Heimito von Doderer nachgelesen werden. Schlaggenberg, eine Figur im Roman Die Dämonen, erwähnt in einem Nebensatz die Dichterin Rosi Malik, das Wort Dichterin ist dabei unmissverständlich in Anführungszeichen gesetzt: „(…) ‚denn ich weiss, dass Gyurkicz eine Abmachung mit der ‚Dichterin‘ Rosi Malik und mit dem Redakteur Holder getroffen hat, ich war dabei zufällig anwesend. Die Malik soll von Gyurkicz gezeichnet werden, und das Bild kommt dann in alle Allianz-Blätter wegen der bevorstehenden Aufführung ihres Stückes ‚Kapitän Strichpunkt‘ oder wie der Schmarrn heisst.“270

      Zu den das Proletariat aufhetzenden Personen vor dem Justizpalast 1927 schreibt Heimito von Doderer: „Von den Weibern – die übrigens alle damenhaft angezogen waren und gar nicht ‚proletarisch‘ – erkannte ich die erste, welche ich ins Blickfeld des Glases bekam. Es war die Dichterin Rose Malik. Sie hatte von den ‚Massen‘ einen Abstand von ungefähr zehn Schritten, gebärdete sich ganz wild und warf einmal beide Arme zugleich über den Kopf. Die Malik trug ein klein-getupftes Sommerkleid in Grün und Weiss, aber keinen Hut auf ihrem roten ‚Bubikopf‘, während die beiden anderen Agitatorinnen Hütchen in einer damals eben üblichen Topfform hatten, die eine ein weisses, ich konnte sie gut sehen, es war eine ganz kleine zierliche Person mit tiefschwarzem Haar. (…) Die Malik war eine galizianische Megäre.“271 Ob Doderer da vor seinem inneren Auge beim Notieren der Szene vor dem Justizpalast Veza Taubner vor sich gesehen hat, bleibt Geheimnis, passen würde es: eine ganz kleine zierliche Person mit tiefschwarzem Haar, das Hütchen in Topfform. Nicht nur Elias Canetti erwähnt in seinen Lebenserinnerungen den Hut Vezas, auch ein Bild im Band Elias Canetti. Bilder aus seinem Leben zeigt Veza Taubner mit Hut in Topfform.272 Aber eben die Malik, ihre Dichter-Kollegin, eine Megäre.

      Zusammenfassend kann zum Asriel-Waldinger-Komplex gesagt werden, dass die jungen Intellektuellen im Hause der Asriels kommunistisch orientiert waren, sich sehr für kulturelle Strömungen in Dichtung und Musik interessiert haben, dem Sport oder zumindest dem Schwimmen und Bergwandern frönten, darüber hinaus auch Dichterlesungen veranstalteten und Kontakte zu anderen kulturellen Gruppierungen pflegten, wie zu den Kreisen um Karl Kraus oder zu den Dichtern und Künstlern des Café Museum. Nebstdem spielten Grundfragen des Lebens eine wichtige Rolle, nämlich leben oder nicht leben.

      In den Briefen Fredl Waldingers, des bekennenden Buddhisten aus dem Kreis der Felonen, die sich im Nachlass Elias Canettis erhalten haben, ist nie direkt die Rede von Veza Canetti. Das Thema scheint irgendwie tabu zu sein. Eine Ausnahme bildet Fredl Waldingers Bemerkung, dass er von Veza her noch wisse, dass er, Elias Canetti, nur ungern Privatbriefe schreibe. Eine möglicherweise indirekte Kritik an der Tatsache, dass Veza Canetti in den Publizierten Lebenserinnerungen wenig Raum einnimmt, ist aus folgender Passage aus einem Brief von 1984 aber herauszuhören: „Ich habe verstanden, warum Du in Deinen geschriebenen Erinnerungen nichts über Fritz Jerusalem geschrieben hast und auch keinen Versuch gemacht hast die Geschichte der Familie Asriel zu beginnen, aber es wundert mich, dass Du die Schwester von Alice, Tony Wely (früher natürlich Levy) die Du gewiss in ihrem Hause trafst und auch anderswo, in Coffeehäusern z. B. wo wir uns nach Chorproben


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