Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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Bacher-Rieger in Sperbers messianische Hoffnung schreibt.

      „Die Person des Messias trat in den Hintergrund zugunsten der Hoffnung auf ein bevorstehendes diesseitsbezogenes messianisches Zeitalter. Unter Nationalisten schlug sie sich in zionistischen Bewegungen nieder. An einem universalen Heilsverständnis hielten hingegen namhafte Philosophen jüdischer Herkunft von Hermann Cohen bis Walter Benjamin fest. Karl Marx’ politischer, säkularer Messianismus stellte für viele des jahrhundertelangen Wartens auf den Messias müde gewordenen Juden eine derart grosse Hoffnung dar, dass sie ihn sogar gleichsam als Essenz ihres herkömmlichen religiösen Glaubens, den sie in ihren neuen politisch-sozialen Lebensumständen verloren hatten, beibehielten. Wie sagt Sperber? (…) ‚Unser messianisches Gegenstück hiess revolutionäre Aktivität.‘“299

      Manès Sperber war mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht Mitglied der Felonen, obwohl einige Eckdaten seines Lebens dafür sprechen würden. Zum Beispiel wurde er schon 1927 Mitglied der KPD, nachdem er im Auftrag Alfred Adlers nach Berlin gezogen war. 1932 entzweiten sich Adler und Sperber aufgrund des Engagements Sperbers in der Verbindung von Individualpsychologie und Marxismus. Interessanterweise wird aber von der Forschung die inhaltliche Nähe von Manès Sperbers Arbeiten und denen von Alice Rühle-Gerstel und Otto Rühle bereits für das Jahr 1927 hervorgehoben.300

      Dies bestätigt Manès Sperber auch gleich selbst, wenn er in den autobiografischen Erinnerungen schreibt: „Anlässlich einer internationalen Tagung der Individualpsychologen fanden wir marxistischen Adlerianer uns zu längeren Diskussionen zusammen, um uns über die Grundsätze zu einigen, die wir in unserer psychologischen Tätigkeit und im Rahmen der Arbeiterparteien und sonstigen linken Organisationen vertreten wollten. Wurde zwar bei unseren Besprechungen der Einfluss des Austromarxisten Max Adler spürbar, an dessen Arbeitsgemeinschaften viele der begabtesten marxistischen Pädagogen und Führer der sozialistischen Jugendbewegung seit Jahren teilnahmen, so machte jedoch Alice Rühle-Gerstel auf uns alle den stärksten Eindruck.“301

      Neue Forschungsansätze in der Literaturwissenschaft weisen nicht nur auf die Nähe von Veza Canetti zu Alice Rühle-Gerstel hin,302 sondern auch auf die von Elias Canettis Masse und Macht zu den Konzepten Manès Sperbers zur Selbstläufigkeit von Macht:

      „Die optimistische Geschichte des Fortschritts in der Zeit wird also durch eine andere eher tragische Erzählung durchbrochen, die ein wenig an die narrative Figur der Wiederkehr des Gleichen erinnert. In ihrem Zentrum befindet sich die Geschichte der Macht und jener Menschen, die sie ausüben, weil sie vom Phantasma der absoluten Verfügbarkeit durchdrungen sind; es ist die ‚Herrschsucht‘, die Sperber andernorts als eine Kompensation der eigenen Schwäche und Unsicherheit begreift. Die Macht hat eine Eigenlogik: dass sie nach immer mehr Macht strebt. Sperbers kluge Einsichten in die Selbstläufigkeit der Macht, die der Machthaber spiralförmig vermehren muss, um sie zu erhalten, und die mit dem totalen Misstrauen gegen alle Menschen einhergeht, die als potentielle Rivalen gesehen werden mit den Befunden, die Canetti, ein Raum- und Zeitgenosse Sperbers (und in den 1920 Jahren sicherlich ein wenn auch nicht klar deklarierter Anhänger der Linken) in seinem Makro-Essay Masse und Macht vorgelegt hat.“303

      Unter Berücksichtigung dessen, dass die Zusammenarbeit von Veza und Elias Canetti bei Masse und Macht dringend neu definiert werden müsste, ist davon auszugehen, dass die marxistisch geprägte Individualpsychologie auch für dieses Werk aus dem Hause Canetti/Taubner noch virulent war und die Nähe zu den Ideen Sperbers eklatant.

      Manès Sperber hat aber bereits 1930 im Grossessay Kultur ist Mittel kein Zweck notiert, die Dichter hätten gesehen, dass „manche auf der Strecke bleiben“, „nicht gut mitkönnen“, und „sich gefragt warum“.304 Gute Dichter hätten dafür Gründe, die Abgründe seien, dafür gefunden. Es seien jedoch nicht die gleichen Abgründe, die schon Dostojewski gefunden habe, sondern eher diejenigen von Tolstoi und Gorki. Die Psychologie dieser Literatur sei „nicht Selbstzweck“, sei „nicht auf die Nuancen versessen“.305 „Sie ist eine Sozialpsychologie.“306

      Manès Sperber gerät mit dieser von ihm geforderten deduktiven Gestaltung des Individuums aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang heraus – das heisst bei ihm, wenn der Held kein Held mehr ist, sondern ein Komparse im Hinblick auf seinen Hintergrund und seine Mitspieler – sehr nahe an die auch als Darstellungsprinzip zu lesende Aussage Veza Canettis, „Der Verräter an den Mägden ist ihr Blick. Die Wahrheit darin, ist verschüttet, das Ziel ist ausgepeitscht.“ (GSt 97), wie gerade jüngst nachgewiesen wurde. „Mit der Perspektive des Romans, einem gleichsam ‚Schreiben aus der gelben Strasse heraus‘, gelingt es Veza Canetti, genau diesen gesellschaftlichen Zusammenhang bezüglich des Individuums, der Anti-Heldin oder Komparsin – beispielsweise das Dienstmädchen –, differenziert zu beleuchten. Die Erzählerin lässt nicht nur verschiedene Bewohner das alltägliche Geschehen aus je anderer Perspektive – oft in direkter Rede307 – kommentieren; sondern sie lässt auch mittels verschiedener Reflektorfiguren politisches oder akademisches Wissen zur Erklärung des Geschehens kontrastierend einwirken.“308

      So nahe sich Veza Taubner und Manès Sperber in ihren theoretischen Konzepten sind, so wenig ist darüber bekannt, ob sich die beiden Bewohner der Leopoldstadt gekannt haben. Überdies gibt es keinen Hinweis darauf, dass Manès Sperber auch im Hause Asriel verkehrt haben könnte, bestimmt hat er aber Fredl Waldingers Ehefrau Rosa Seidmann, die ebenfalls Schülerin von Alfred Adler gewesen war, gekannt.

      Im Jahr 1930 rekapituliert Elias Canetti in seinen Notizblöcken eine Diskussion mit Veza Taubner, wo er ihr vorwirft, „sie könne sich ausschliesslich ihrer psychologischen Betätigung widmen usw.“, im Gegensatz zu ihm selber, wo „ein grosser Teil“ seiner Zeit auf sein „grosses Wissenschaftliches Werk“ gehe.309 Hier offenbart sich ganz direkt, was auch bezüglich den Erzählungen Veza Canettis gezeigt werden kann, ihre theoretische Auseinandersetzung mit Psychologie. Für den jungen Elias Canetti hingegen ist Psychologie nicht Wissenschaft, ein Fakt, der wahrscheinlich dem damaligen Volksempfinden entsprach.

      Die Familie von Alice Asriel ist nicht nur mit den Calderons über Alices Schwester Sarina verwandtschaftlich verbunden, sondern auch freundschaftlich mit der Familie Canetti über Mathilde, die Mutter von Elias Canetti, wie ferner durch die Freundschaft von Veza Taubner zu Alice Asriel. Dieser erweiterte Familienkosmos Veza Taubners in Richtung Asriel muss seine Anfänge deutlich vor dem Ersten Weltkrieg gehabt haben, deshalb ist davon auszugehen, dass sich Veza Taubner und Elias Canetti schon als Kinder gekannt haben müssen. Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass die Wurzeln der Freundschaft zwischen Veza Taubner und Elias Canetti in diesem erweiterten Familienkosmos liegen. In der Lesart von Elias Canetti hat das etwas mit dem Ungenügen von Mathilde Canetti im Umgang mit ihren Söhnen zu tun, wie Elias an Georges am 15. November 1935 schreibt: „Auf verschiedene Weise ist die Mama mein und Dein Schicksal geworden. Mich hat die Veza, die ein ebenso interessanter, aber besserer Mensch als die Mama ist, gerettet; Dich Deine Krankheit. Das sind höchst merkwürdige Dinge.“ (BaG 48)

      Mit Sicherheit ist hingegen davon auszugehen, dass das Haus Asriel als Katalysator für die Liebesbeziehung zwischen Elias Canetti und Veza Taubner gewirkt haben muss. Wie weit die Übersetzertätigkeit von Alice Asriel für Veza als berufliches Vorbild gedient haben könnte, ist mit keinen Quellen zu bestätigen, aber durchaus naheliegend.

      Mit der Mitgliedschaft von Alice Asriels Schwester Tony Levy im Chor von Bruno Walter, der sich dem Werk vom Gustav Mahler verschrieben hat, und dem späteren Nachzug von Alice und Hans Asriel wie auch Fredl Waldinger in diesen Chor kommt eine frühe Bekanntschaft der Asriels und damit auch Veza Taubners mit der Familie Mahler ins Spiel.

      Mit den Felonen, den jungen Kommunisten, die im Hause Asriel verkehrt haben, gerät neben dem Musikalischen auch das Thema Sozialismus in den Fokus. Da nur die Felonen in ihren sozialistischen Aktivitäten quellengestützt fassbar sind, ist nicht mehr bestimmbar, ob es vielleicht nicht umgekehrt war und sich die Felonen im sozialistisch konnotierten Hause Asriel zu ihrem ideologischen Engagement inspirieren liessen.

      Mit den Studienrichtungen der Frauen der Felonen – Psychologie und Medizin


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