Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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Nestroy nicht wirklich lag (…). Aber von ihr zu Nestroy war ein ungeheuer weiter Abstand, sein Witz entzückte sie, doch ihr fehlte jede Derbheit.“336 Von der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde schon verschiedentlich auf die Nähe von Johann Nestroys Zu ebener Erde und erster Stock oder die Launen des Glücks zu Veza Canettis Geduld bringt Rosen hingewiesen. Beide Texte leben von der dramatischen Kontrastierung von Arm und Reich. „Während das Theaterstück von Nestroy ein gütliches Ende nimmt, der arme Liebhaber wird reich und kann seine verarmte, ursprünglich reiche Geliebte heiraten, endet die Erzählung Geduld bringt Rosen mit einem verschärften Gegensatz von Arm und Reich. An dem Tag, an dem die schon reiche Tamara Prokop einen noch reicheren Mann heiratet, wird der armen Frau Mäusles geliebte Tochter, der einzige Reichtum, der ihr noch geblieben war, zu Grabe getragen. Auslöser der verschärften Armut der Familie Mäusle und indirekt damit auch Auslöser des Todes von Tochter und Familienvater ist die vom Abstieg bedrohte, reiche Familie Prokop.“337 Im Gegensatz zu Johann Nestroy legt Veza Canetti – ganz ihrer Zeit entsprechend – den Fokus auf einen materialistischen Diskurs der Verhältnisse. Auch Elias Canettis Theaterstück Die Hochzeit wurde schon verschiedentlich mit Johann Nestroys Zu ebener Erde und erster Stock oder die Launen des Glücks in Verbindung gebracht, nicht nur wegen der verwendeten Sprachsatire. Johann Nestroy scheint nun im Gegensatz zu Peter Altenberg ein Teil des Lokalkolorits beider Canettis zu sein. Eine ausführliche Untersuchung dieses Sachverhaltes im Dreieck Elias Canetti – Nestroy – Veza Canetti steht aus, wäre aber aus kulturgeschichtlicher Perspektive höchst spannend.

      Die Verzahnung von Lokalkolorit und Bild geht indessen noch weiter. Nicht nur Peter Altenberg muss gerne dem Kind Veza beim Spielen – auf halbem Weg zu den Cousinen an der Seilerstätte – zugeschaut haben. Auch Elias Canetti behauptet, Veza Taubner hätte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass sie ihm nur durch seine Passion für Bilder überhaupt aufgefallen sei. „Für den Aufenthalt in der Villa ‚Yalta‘ empfinde sie (Veza, Anm. va) Dankbarkeit, weil dort die Passion für Bilder erwacht sei. Ohne diese hätte ich sie nie bemerkt, wie oft hätte ich ihr nicht gesagt, dass sie für mich ein Bild sei, wie hätte sie mir ohne diese Gewöhnung an Bilder auffallen sollen?“338 Elias Canetti schmückte in der Frankfurter Pension seine Wände mit den Bildern Anselm Feuerbachs, unter anderem der Nanna. Veza Taubner nun muss diesem Bild der Anna Risi, der Muse und Geliebten Anselm Feuerbachs, genau entsprochen haben. „Viel schlimmer war, in meinen Augen, dass sie mich an Feuerbachs ‚Nana‘ erinnerte. Denn was diesen Maler anlangte, so war bei mir allerhand passiert. In Frankfurt hatte ich die Wände unserer Zimmer in der Pension ‚Bettina‘ mit Reproduktionen aus der Kunstwartmappe austapeziert, und zwar mit allem, was es in dieser Mappe gab, nicht nur mit den Bildern, die mir wirklich gefielen. Das ‚Konzert‘ sagte mir gar nichts, aber dass es unter den anderen da hing, brachte mir bei dem gar ästhetisch eingestellten Teil der Pensionsbewohner grosse Ehre ein. Frl. Adler, die mit ihrem Bruder, einem asthmatischen jüdischen Herrn deutschnationaler Gesinnung da wohnte, besuchte uns einmal, sie war sehr fein, eine ältliche Jungfer, die nur von besonderen Dingen, Musik oder Bildern sprach, aber es mussten ausgewählte Werke von stiller Grösse sein, sie vertrug nichts Lautes, zitterte vor heftigen Regungen und sprach ihre ausgewählten Worte innig durch die Nase. Sie kam also, mit einer ausgewählten, einzelnen Rose für die Mutter und war so erstaunt über die Feuerbachschen Wände, dass sie die wiederholten Aufforderungen der Mutter, Platz zu nehmen, überhörte und kopfschüttelnd von Bild zu Bild ging. Vor dem ‚Konzert‘ aber blieb sie wie angewurzelt stehen, sagte dreimal hintereinander inniger noch als üblich: ‚Nein! Nein! Nein!‘ und erklärte sich dann zur Mutter, wobei mir war, als ob sie mit Mühe ein Schluchzen unterdrücke: ‚Dass er dieses Bild hier hat! Dieses Bild! Die andern – das kommt vor. Das ist nicht so ungewöhnlich. Aber dieses! Dieses! Das erschüttert mich. Und er ist erst siebzehn.‘“339

      Pikanterweise fällt der durch das Bild der Nanna geschärfte Blick von Elias Canetti auf Veza Taubner, den Veza bei Elias Canetti festgestellt haben will, mit dem Blick zusammen, den Elias Canetti bei Richard Billinger im Anblick von Veza Taubner beobachtet haben will. Elias Canetti schreibt über den Dichter Richard Billinger als einem der Gäste von Camilla Spitz-Calderon: „Der Dichter Billinger aber sprach wenig, dass er sich mit Worten nicht leicht tat, machte ihn ja als Dichter aus, in so einer Gesellschaft sass er massiv und stumm da und glotzte begierig auf jemand, der ihm auffiel. Veza fiel ihm das erstemal auf, er wendete keinen Blick von ihr und sagte schliesslich den einzigen Satz: ‚Sind Sie Malerin, Sie schauen so verinnerlicht aus.‘ Für eine Malerin hielt sie jeder, der je ein Bild von Feuerbach gesehen hatte, denn sie trug ihr Haar, das rabenschwarz war, nach Art seiner Römerinnen, und zwar nicht so, als hätte sie’s denen abgesehen, sondern als wären sie’s. Sie bewegte sich wenig und sass sehr still, für seine schwerfällige Betrachtung – eilige städtische Bewegungen irritierten ihn – war sie wie geschaffen. Wenn sie auch keine Malerin war, obwohl sie schon früh eine Anlage dazu gezeigt hatte, so war sie doch immerhin gemalt, und zwar von einem Maler, der lange vor ihrer Zeit gelebt hatte. Seine Nana sah man damals überall reproduziert, sie war beinahe so beliebt wie später die Sonnenblumen von Van Gogh.“340 Da kann man sich natürlich fragen, ob Veza Taubner selbst auch so eine grosse Reputation genossen hat wie das beliebte Bild Anselm Feuerbachs, was durchaus nicht auszuschliessen ist. Richard Billinger wurde wie viele andere Wiener Künstler von der Tänzerin Grete Wiesenthal in den Salon der Camilla Spitz eingeführt. Elias Canetti notiert, bezogen auf diesen Treffpunkt Veza Taubners, in den Unpublizierten Lebenserinnerungen: „Sie bewegte sich unter jungen Leuten, die älter waren als ich, Camilla, ihre jüngste Tante, die an der Seilerstätte, gegenüber vom Ronacher, wohnte, führte eine Art von Salon. Ihre Tochter Lilli war Tänzerin und schon früh zur Grete Wiesental gekommen (…). Grete Wiesental, die sehr gesellig war, besuchte die Gesellschaft bei der Camilla Spitz, sie brachte auch Leute dorthin mit, einmal den Dichter Richard Billinger, den sie eben entdeckt hatte, einen oberösterreichischen Bauernkoloss, der ihr Gedichte widmete.“341 Erstaunt ist Elias Canetti im Zusammenhang mit dem Salon Spitz darüber, wie es kommen konnte, „dass sie mir, dem noch nicht 20-jährigen Eindruck machen wollte?“342, wenn Veza Taubner doch bereits über den Salon Spitz mit Kunstschaffenden im Kontakt stand.

      Der Blick von Richard Billinger auf die schöne Malerin ist einer der Zugänge zu Veza Canetti, die sich Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen erlaubt hatte. „Viel früher habe ich einmal versucht sie mit den Augen Richard Billingers zu sehen.“ 343

      Elias Canetti schreibt im Jahr 1977 in den Entwürfen zu den Lebenserinnerungen zu Veza Taubner: „Ich mag den eklen Teil nicht darstellen, ich will sie nicht in ihrer Kleinlichkeit darstellen. (…) Wie soll ich ihre Schönheit fassen, wie den Zauber, der von ihr ausging.“344

      Die Nanna wird in vielen Bildern345 von Anselm Feuerbach (1829–1880) mit weissem Bauernhemd und schweren schwarzen Haaren, die zu einem Zopf geknotet sind, dargestellt. Exakt dieses Bild verwendet auch Veza Canetti in der Erzählung Pastora, wenn sie die Bauernmagd Pastora darstellt, die die Geliebte des Sohnes ihres Dienstherrn wird. Auch hier liegt der Fokus auf dem Blick von aussen – hier der des Liebhabers – auf Pastora. „Gerade da trat Don Anibal aus dem Haus, und als er den Kopf hob, fiel sein Blick auf das kleine Fenster unter dem Dach. Ins Zimmer gewendet stand Pastora und flocht mit weichen Fingern den Zopf, der über die roten Nelken auf dem Fensterbrett fiel, und es sah aus, als wüchsen sie aus ihren Haaren heraus. Das weisse Kleid liess die Schulter sehen und die Linie des Halses. Don Anibal lachte gut gelaunt und schwang grüssend den Handschuh hinauf, dann bog er rasch um die Ecke und versäumte den Anblick der Freude, deren Ursache er war.“ (DF 169 f.) Die rurale Schönheit der von Feuerbach gemalten Nanna – oft von der Seite346 oder später gar leicht hinten dargestellt – bleibt sich über mehr als ein Jahrzehnt gleich. Der Haarschmuck der Nanna auf dem Bild347 von 1870 ist eine kleine Diamanten-Spange, die aus dem geflochtenen und geknoteten Zopf herauswächst. Das Bild trägt den Titel Iphigenie. Noch 1863 hatte Anselm Feuerbach die Nanna mit einem Lorbeerkranz im Haar gemalt und das Bild erhielt den Titel Poesie. Veza Canetti nun setzt mit dem Bild der nur scheinbar aus den Haaren der Pastora herauswachsenden Nelken als Symbol für den Sozialismus ein ganz anderes Zeichen. Gleichheit (égalité)


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