Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

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      Kraus investierte eigenen Angaben zufolge rund 6.700 Stunden in die Recherche zu Békessy, um ihm Erpressung, Betrügerei, Meineid, Dokumentenfälschung und Verleumdung nachzuweisen, und forderte „Hinaus mit dem Schuft“ und konkreter „Imre Bekessy ist ein Schuft“.388

      In der Zeit des austrofaschistischen Ständestaates konnte Veza Canetti gleich zwei Erzählungen in dem ehemaligen Békessy-Organ Die Stunde publizieren. Beide Erzählungen sind erstaunlicherweise posthum nicht aus dem Nachlass heraus veröffentlicht worden, sondern in Text und Kritik. Es handelt sich um die Erzählungen Geld-Geld-Geld und Das Schweigegeld. Diese beiden Erzählungen waren bereits Ende 90er Jahre von Eckart Früh ausgegraben und 2001 in einer kleinen Broschüre im Eigenverlag mit dem Titel noch mehr publiziert worden.389 Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei der von Veza Canetti in einem Brief an Georges 1937 erwähnten Redaktion, bei der sie nicht hinaufdürfe, um das Redaktionsbüro der Zeitung Die Stunde. „Und dennoch darf ich nicht auf die Redaktion hinauf, dabei geh ich nur gern hin, weil man mich dort wie eine Schriftstellerin behandelt, ganz Respekt und Konvention.“ (BaG 91) Dieser Ende November geschriebene Brief würde darauf hinweisen, dass Veza Canetti womöglich durch die Eifersucht ihres Mannes daran gehindert wurde, nach der erfolgreichen Publikation zweier Erzählungen im Frühling des gleichen Jahres in einer Zeitung wie Die Stunde weitere Texte zu veröffentlichen.

      Zu den Gegnern von Karl Kraus gehört auch Anton Kuh. Nicht nur, dass er für das von Karl Kraus gehasste Blatt Die Stunde gearbeitet hat.390 Er hat exakt im Jahre 1925 mit dem Affen Zarathustras ein Werk vorgelegt, in dem er in einer Art Stegreifrede Karl Kraus polemisch angreift. Anton Kuhs Angriffe gegen Karl Kraus, die auf dessen „Schauspieleitelkeit und Publikumsverachtung“ zielten, werden von Rezensenten als „unter der Gürtellinie“ bezeichnet.391 Er kämpft darin gegen den Kraus-Kult; gegen die an Nebensächlichkeiten verschwendete Sprachvirtuosität oder die Druckfehler- und Berichtigungsmanie von Karl Kraus. Anton Kuh versucht Karl Kraus als Gott intellektueller Zeitgenossen zu entlarven: „Ich habe Ihnen früher notdürftig eine Charakteristik des Typus gegeben, den ich als Intelligenzplebejer bezeichnet habe und habe zum Schluss die Frage aufgeworfen: was ist es, das die Erscheinung des Karl Kraus zu einem Abgott dieser Figuren macht, wie ähnlich schon der verstorbene Philosoph Otto Weininger ein Abgott dieser Menschen ist und war?“392

      Genau hier greift das unpublizierte Manuskript Elias Canettis, nämlich das der Affenoper, ein und zeigt das Agieren eines als Menschen verkleideten Zirkusaffen als Machthaber, der sogenannte Konzentrator.393 Der Aufstieg zur Macht gelingt dem Konzentrator, indem er mit Geld protzt und sich von einem Sekretär und einer Dame assistieren lässt. Der Machthaber ist hier ein verkleideter Zirkusaffe. Seine inhaltslosen Auftritte, ein reines Zelebrieren von Macht, reissen das Publikum mit. Zum Text-Konglomerat Affenoper gehören auch Versuche über Masse und Macht aus den 50er Jahren.394

      Wie sehr sich Elias Canetti mit Anton Kuh auseinandergesetzt haben muss, zeigen einige Seiten in den Notizbüchern aus dem Jahr 1929, geschrieben in Berlin. „Anton Kuh: Versuch zu äusserer Eleganz bei unglaublichem Schmutz und extremster Verwahrlosung. … Mit guten zarten …(?) runden Tönen lässt sich die Bestie leicht zum Mensch verschönen. Menschenergründung erfordert Bitterkeit, Kühle, Intensität des Nachspürens (auch der Verlorensten) und keift wie ein altes Affenweib auf diesem Wort und nichts sonst herum.“395 Möglicherweise hat Elias Canetti Anton Kuh im Romanischen Café am Breitscheidplatz – dem wichtigsten Künstlertreffpunkt Berlins der 20er Jahre – getroffen, wie das Ende der Notiz – wegen der Nähe des Breitscheidplatzes zum Berliner Zoo – interpretiert werden kann.

      Ein weiterer Gegner von Karl Kraus, der im Salon Spitz verkehrt haben könnte, ist Siegmund Salzmann, der sich ab 1906 Felix Salten nannte. Der 1869 geborene Ungar arbeitet als Journalist, Redakteur und Schriftsteller. Er ist auch schon während des Ersten Weltkrieges im Filmgeschäft tätig. Bereits 1906 hatte er eine Blossstellung seiner Person in der Fackel mit einer Ohrfeige an Karl Kraus quittiert. Ab 1919 war er für das Sonntagsfeuilleton der Neuen Freien Presse tätig. Die Neue Freie Presse gilt als die Tageszeitung Wiens, die von Karl Kraus am häufigsten polemisch angegriffen wurde. Felix Salten publizierte in den 20er Jahren einige populäre Romane. Heute ist er vor allem bekannt als Autor der Tiergeschichte Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Wald von 1923, die durch Walt Disney zu einem Welterfolg wurde. Politisch ist Felix Salten schwer einzuordnen, zwischen den Kriegen zeigte er sich gegenüber dem Roten Wien nicht abgeneigt, nach 1934 nimmt er Partei für den austrofaschistischen Ständestaat.

      Ganz unbekannt ist, weshalb Veza Magd in ihrer ersten in der Arbeiter-Zeitung veröffentlichten Erzählung Der Sieger der Figur des unternehmerisch höchst ungeschickten Fabrikdirektors ausgerechnet den Namen Siegfried Salzmann gibt. Dieser Direktor, der für den eigenen Hund einen Koch beschäftigt, zeigt kein Herz, wenn es darum geht, seine tüchtigste Angestellte, Anna Seidler, zu entlassen. Seine Auswahlkriterien bei der Entlassung sind das Aussehen der Angestellten und ihre sexuelle Verfügbarkeit. Ausserordentlicher Arbeitseinsatz hingegen zählt nicht. Die Entlassung wird Anna – wegen des Unglücks, das die Arbeitslosigkeit über ihre Familie bringt – in den Tod treiben. (GbR 49 ff.) Dass der reale Siegmund Salzmann alias Felix Salten tatsächlich ein grosser Hundenarr und ein passionierter Schürzenjäger war,396 ist verbrieft. Hunde waren dem passionierten Jäger397 Salten nicht nur für die Jagd wichtig, wie einige Bilder im Band zur Ausstellung Felix Salten dokumentieren, wo er seine Vierbeiner wie Babys in den Armen hält, sondern hatten den Status von sehr vertrauten Familienmitgliedern.398 Vielen zeitgenössischen Lesern der Erzählung Der Sieger dürfte der Seitenhieb Veza Canettis auf Siegmund Salzmann alias Felix Salten, den Sieger, aufgefallen sein. Die Dichterin evoziert damit eine zusätzliche Bedeutungsebene, nämlich die, dass in Schreibstuben der Presse Ausbeuterverhältnisse herrschen können wie in Fabriken auch. Natürlich stellt sich hier aus biografischer Perspektive die Frage: Hat Veza Taubner allenfalls für die Neue Freie Presse gearbeitet oder kennt sie die Verhältnisse nur vom Hörensagen? Ein weiterer Berührungspunkt Veza Taubners mit Felix Salten könnte der Zsolnay-Verlag gewesen sein. Hat sie dort einen Teil seiner Bücher lektoriert oder womöglich deren Übersetzungen ins Englische getätigt? Felix Salten veröffentlicht im Zsolnay-Verlag in der Zwischenkriegszeit 17 Titel mit einer Gesamtauflage von insgesamt 160.690 Exemplaren.399 Der Verlag muss aber im Gegenzug sehr von Felix Saltens Tätigkeit als Feuilletonredakteur der Sonntagsbeilage der Neuen Freien Presse profitiert haben, da alle neu erscheinenden Zsolnay-Bücher darin besprochen wurden.400 Darüber spekuliert darf werden, weshalb Veza Taubner den Vornamen Siegmund zu Siegfried gewandelt hat – also aus dem siegreichen Verteidiger einen Drachentöter gemacht hat. Bei dem bunten, ja sarkastischen Spiel mit Namen, das Veza Canetti in ihren Texten treibt, bestimmt kein Zufall.

      Eine weitere Besonderheit hinsichtlich eines potenziellen – wenn auch nur intertextuell nachweisbaren – Beziehungsgeflechts zwischen Veza Taubner und Felix Salten bilden die beiden Langnovellen Die kleine Veronika und Olga Frohgemuth, beide sind 1903 entstanden.401 Das Schicksal von Veronika in Die kleine Veronika korrespondiert gleich mehrfach mit Erzählungen Veza Canettis, beispielsweise mit dem Schicksal des Dienstmädchens Emma Adenberger in der Erzählung Der Kanal, das genau wie Veronika ohne sein Wissen an eine Bordelldame402 vermittelt wird, das sich aber in letzter Minute, bereits zur salonfähigen Dirne Kitty zurechtgestutzt – im Gegensatz zur Veronika von Salten –, noch retten kann. Ein anderes Dienstmädchen aus Veza Canettis Erzählung, Emilie Jaksch, probiert den Selbstmord erfolglos im städtischen Donaukanal aus, während das Mädchen Veronika aus Saltens Die kleine Veronika sich im heimatlichen Dorfbach umbringt. Emma Adenberger nun spielt auch in einer anderen Erzählung Veza Canettis, Der Fund, eine wichtige Rolle. Hier wird sie vom ehemaligen Geliebten, einem Arzt, schnöde zurückgewiesen mit dem Hinweis auf ihren Stand. Die Figur der Emma Adenberger nun weist nicht nur auf die Kleine Veronika von Felix Salten zurück, sondern zudem auf dessen Olga Frohgemuth in der gleichnamigen Langnovelle. Die Professorentochter


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