Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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ist sie Kunstlehrerin und Fotografin, 437 der Kontakt ihrer Mutter Gertrud Weiss438 zu englischen Freunden hat dazu geführt, dass sie zusammen mit Robert Haas ins Erstexilland England ausreisen konnte. Zu Gusti Weiss, die – was Beachtung verdient – im Namen gleich zwei wichtige Reflektorfiguren aus dem Werk Veza Canettis der 30er Jahre in sich vereint, nämlich erstens den der Gusti, der aus sozialistischer Perspektive agierenden Figur, und zweitens den der Weiss, deren Name für gerechte Urteile steht.439 Ob die Kunstlehrerin Gusti Weiss in irgendeinem Zusammenhang steht mit der Gusti Weiss, die 1934 im Franz-Schneider-Verlag das Kinderbuch Im Mittelpunkt Renate440 veröffentlicht hat, ist schwer nachzuweisen. Das Buch ist geschmückt mit ungefähr zehn gezeichneten Illustrationen. Falls tatsächlich die Wiener Kunstlehrerin Gusti Weiss als Autorin oder Zeichnerin des Buches in Betracht kommt, bringt das unter Umständen Veza Canetti mit einem Ghostwriting für die Textpassagen oder einem allfälligen Lektorat ins Spiel. Die Verwendung von viel direkter Rede spricht dafür, der Handlungsort Deutschland eher nicht. Im Zentrum des Geschehens in dieser Geschichte, einem Entwicklungsroman im weitesten Sinne, steht ein Lotto-Gewinn, mit dem Renate versucht, das Geldproblem in ihrer Familie zu lösen. Eine wichtige Figur für Renate ist ihre Tante Hedwig, diese schenkt ihr ein Tagebuch. Akkurat in diesem Tagebuch aber hat Renate ihr Los versteckt und es leider sofort wieder vergessen, sodass sie den Gewinn nicht einlösen kann. Im letzten Moment findet Renate, als sie ihr Ungemach dem Tagebuch anvertrauen will, auch das Los wieder: „Sie setzt sich bequem hin, taucht die Feder ein und öffnet das liebe gute Tagebuch. Und da – Reni stösst einen leisen Schrei aus – da liegt das verlorene Los. Da liegt es glatt und bunt zwischen den letzten beschriebenen Seiten.“441 Nicht nur damit, dass Reni nun mit ihrer Mutter eine Reise antreten kann, wird ihr Glück perfektioniert, sondern es kehrt zudem noch der seit einigen Jahren verschollene Vater zurück. Aus dem Briefwechsel von Veza Canetti mit Ernst Schönwiese geht hervor, dass Hedwig für Veza Canetti ein besonderer Name ist. „(…) lieber Geschichten über Hausfrauen schreiben, besonders wenn sie den schönen Namen Hedwig haben (…)“442

      Die Bedienerin mit dem Namen Hedwig, genau Hedwig Adenberger, spielt in zwei Erzählungen Veza Canettis aus den 30er Jahren eine Rolle, allerdings auf den ersten Blick nur am Rande des Geschehens, erstens in der Erzählung Ein Kind rollt Gold und zweitens in der Erzählung Der Zwinger. Sie ist die Mutter des Kindes, das Gold rollt, nämlich der Hedi – wahrscheinlich eine Kurzform von Hedwig –, viel mehr ist über ihre Lebensumstände nicht bekannt mit Ausnahme davon, dass sie so nett war, den Hund Grimm ihres verstorbenen ehemaligen Arbeitgebers, eines Sprachforschers, aufzunehmen, weil niemand ihn haben wollte; „so ein grosses Tier frisst und kostet viel“443. Exakt dieses Tier lernt von ihrer Tochter, der Hedi, also der kleinen Hedwig, Essen fair zu teilen. In der Erzählung Der Zwinger tritt Hedwig Adenberger hingegen nur in einem Nebensatz als Geberin der Groschen auf, die Hedi gerne an das Anstaltskind Helli spendet. Beide Erzählungen wurden für den Roman Die Gelbe Strasse verwendet, das heisst in dessen Kapitel Der Zwinger eingearbeitet. Mit der Erzählung Ein Kind rollt Gold hatte Veza Taubner 1933 den zweiten Preis beim Preisausschreiben der Arbeiter-Zeitung gewonnen. Den Namen Adenberger trägt auch eine zweite Figur im Erzählkosmos Veza Canettis in den 30er Jahren. Es ist das Dienstmädchen Emma Adenberger, sie ist die Schwester Hedwigs. In der Erzählung Der Kanal und im gleichnamigen Kapitel im Roman Die gelbe Strasse wird sie von der Dienstbotenvermittlung fast zu einer Prostituierten gemacht. In der Erzählung Der Fund – die nicht Eingang in Die gelbe Strasse gefunden hat – wird sie von einem Arzt, in den sie sich verliebt hat, schnöde zurückgewiesen, dafür verliebt sich der Dichter Tell in sie. In beiden Erzählungen wird Emma Adenberger von ihrer Schwester, der Bedienerin Hedwig, getröstet. Diese wie ihre gleichnamige Tochter Hedi sind in ihrer pragmatisch helfenden Art wahrscheinlich die einzigen Figuren in den Erzählungen der 30er Jahre, die ohne Schattenseiten gezeigt werden.

      Intertextuell passen die Figur der Tante Hedwig im Kinderbuch Im Mittelpunkt Renate und die Figur der Hedwig Adenberger in verschiedenen Erzählungen Veza Canettis sehr gut zusammen; als Beweis dafür, dass Veza Canetti dieses Kinderbuch beispielweise zusammen mit Gusti Weiss verfasst hat, genügt das aber wohl nicht.

      Immerhin notiert der Holocaust-Überlebende H. G. Adler in seinem autobiografisch konnotierten Band Die Wand bezüglich der Autorin Inge Bergmann, die unschwer als Veza Canetti zu erkennen ist: „Einmal verlebten wir mit ihm (Elias Canetti alias Oswald Bergmann, Anm. va) einen Sommer im Süden, da schloss sich uns auch Inge an, ein geistreich glitzerndes Geschöpf, zierlich und schön; sie mochte uns, wir mochten sie und konnten endlos miteinander plaudern. Sie schrieb kurze Landschaftsgedichte, herbe und mitunter etwas spröde Gebilde, auf die sie viel hielt, mehr als auf ihre knappen phantastischen Erzählungen, in denen die unerbittliche Führung der Handlung mit sprunghaft launischen Einfällen wetteiferte, alles in straffen verhaltenen Sätzen. Liebenswürdig spannend waren ihre Kinderbücher, mit denen sie gerade so viel verdiente, um bescheiden leben und Oswald, den oft Geldnöte plagten, kleinere Beträge zustecken zu können. Jene Sommerreise, zwei Jahre vor Kriegsbeginn, beendete aber leider nicht nur unsere kurze Verbindung mit Inge, sondern auch mit Oswald. Beide schrieben uns kaum mehr, und dann hörten wir, dass sie glücklich ins Ausland entkommen waren.“444

      Welche der Gesellschaften Elias Canetti gemeint hat, wenn er in den Unpublizierten Lebenserinnerungen schreibt: „Sie war manchmal in Gesellschaften eingeladen, wo sie Künstler der unterschiedlichsten Art traf“445, ist bei der unsicheren Quellenlage nicht abschliessend zu bestimmen. Ins Auge gefasst werden könnte diesbezüglich der Besuch des Salons der Alma Mahler. Nicht nur, weil Elias Canetti Franz Werfel schon zu Beginn seines Wienaufenthaltes Mitte der 20er Jahre gekannt haben muss, wie Sven Hanuschek, aus Entwürfen Elias Canettis zitierend, angibt,446 sondern weil der Mix aus Musikern, Literaten und Künstlern im Theaterstück Der Tiger explizit auch auf den Salon der Alma Mahler zutrifft.

      Die ganze Einschätzung dieser Kontakte Veza Canettis, was die Zeit vor ihrer Beziehung mit Elias Canetti in Wien betrifft, wird durch Kommentare überlagert, in denen von verschiedenen Biografen, Rezensenten und weiteren – insbesondere mit Hochkonjunktur in der Zeit nach dem Gewinn des Nobelpreises durch Elias Canetti 1981 – immer wieder darauf hingewiesen wird, welche Wiener Autoren, Autorinnen oder Künstler und Künstlerinnen auch noch Bekannte Elias Canettis gewesen seien. Erst ab Mitte der 90er Jahre und nach der Publikation der Texte Veza Canettis wurden die beiden zunehmend gemeinsam im Zusammenhang mit Künstlern und Autoren der Zwischenkriegszeit genannt. Viele Reaktionen hatte es auf die Publizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis gegeben, wo er sehr ausführlich die sich für ihn nach und nach neu ergebenden Bekanntschaften mit berühmten Wiener Grössen beschreibt. Einige in den späten 80er und den 90er Jahren noch lebende Zeitzeugen – vor allem Frauen wie Hilde Spiel und Anna Mahler – haben schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass alles anders gewesen sei als durch Elias Canetti beschrieben. Hilde Spiel äussert sich in einem Interview im Jahr 1990 darüber, wie Veza Canetti anfangs 30er Jahre in den Literatenkreisen Wiens eingeschätzt wurde, mit folgenden Worten: „Sie galt als brillantes Talent.“447 Dem entspricht auch, was Herta Blaukopf im Sammelband – Anna Mahler. Ich bin in mir selbst zu Hause – aus einem Brief Anna Mahlers zitierend zusammenfassend schreibt: „Den ersten Teil der Lebenserinnerungen (Die gerettete Zunge) hatte sie (Anna Mahler, Anm. va) gelten lassen, aber bereits vom zweiten Band (Die Fackel im Ohr) gemeint, er hätte ‚gar keinen Charakter‘, nicht zuletzt weil Canettis Frau Veza, mit der Anna befreundet gewesen war, darin ‚unkenntlich‘ sei. Auch er selbst, der Canetti der 1930er Jahre, sei ganz anders gewesen, als er sich selbst darstellte: ‚Wie ich ihn in Wien kannte, voller Gift, Hass und Neid (gegen Erfolgreichere), war er viel interessanter.‘“448

      In den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis gibt es keinen Hinweis darauf, dass Veza Taubner schon früh – vor 1924 – den Salon der Alma Mahler besucht haben könnte. Mehrere Indizien weisen indessen darauf hin, dass die Autorin in ihrer Jugendzeit – somit vor oder während des Ersten Weltkriegs – in Kontakt mit den Kreisen um Alma Mahler gekommen sein muss, nicht nur über den Bruno-Walter-Chor und die da aktiven Schwestern Levy (Alice Asriel und Tony Wely) sowie Hans Asriel und Fredl Waldinger.

      Eine


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