Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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Genaues in Bezug auf die schriftstellerischen Tätigkeiten Elias Canettis weiss Trude Schmidl-Waehner indessen nicht, auch nicht über den Inhalt des Romans Die Blendung. Sie irrt sich zudem, wenn sie meint, Elias Canetti hätte schon viele kleinere Arbeiten in Zeitschriften publiziert, da verwechselt sie ihn wohl mit Veza Canetti. Vielleicht hat dieses Vorkommnis seinen Grund darin, dass Trude Schmidl-Waehner ab 1928 an der Kunstklasse von Paul Klee in Dessau studierte. Bereits 1933 musste sie allerdings wieder nach Österreich zurückkehren, weil sie sich in Deutschland sehr kritisch gegen den Faschismus geäussert hatte.422 Womöglich wollte Schmidl-Waehner aber auch Veza Canettis Arbeiten, die in erster Linie in linken Organen veröffentlicht worden waren, gar nicht erwähnen, um ein allfälliges Affidavit für die USA nicht zu gefährden.

      Der Sarkasmus in den Briefen Veza Canettis an die Freundin in Amerika – „And its about time. For to me personally something outrageous happened: – I grew old. What concerns Canetti, he is still young, though his health is poor“423 – sowie das Einbringen von Respekt und Bewunderung gegenüber dem Werk der fast gleichaltrigen Trude Schmidl-Waehner offenbaren mehr Vertrautheit zwischen den beiden Frauen, als es allein aufgrund der Briefe rund um das Affidavit für die USA zu erwarten gewesen wäre. Veza Canetti schreibt beispielsweise an Trude Schmidl-Waehner im Mai 1944: „I have a very egoistic project with you, when we meet again, I want you to portray Canetti.“424 Aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind keine Kontakte zwischen den beiden Frauen bekannt. Trude Schmidl-Waehner muss in den 50er Jahren die Vereinigten Staaten verlassen haben, daraufhin auf einem Bauerngut in Frankreich und später in Venedig gelebt haben, bevor sie nach Wien zurückkehrte.425 Wohnhaus und Atelier in der Buchfeldgasse in Wien – ihr Elternhaus, das sie beim Gang ins Exil fluchtartig verlassen musste –, konnte sie nach dem Zweiten Weltkrieg nur mit langwierigen juristischen Mitteln zurückerkämpfen. Nicht vollständig geklärt ist das unrühmliche Verhalten Heimito von Doderers im Streit um das Wohnobjekt Buchfeldgasse, hatte er doch das Atelier von Trude Schmidl-Waehner zusammen mit Albert Paris Gütersloh schon 1938 bezogen, so wollte er es bei der Rückkehr von Trude Schmidl-Waehner nach Ende des Krieges vorerst nicht an die rechtmässige Besitzerin zurückgeben.426

      Der Salon von Trude Schmidl-Waehner in der Zeit des Roten Wien verbindet die Welt der Künstler, Dichter mit der Welt der Wissenschaftler, wie die Gästeliste zeigt, die einerseits zwischen dem Wissenschaftstheoretiker und Soziologen Otto Neurath, dem Mathematiker Karl Menger, dem Philosophen Karl Popper sowie den Kunsthistorikern Ernst Kris, Hans Tietze, dem Architekten Josef Frank und den Dichtern Hermann Broch, Veza und Elias Canetti und weiteren changiert. Eine etwas kryptische Aufzeichnung Elias Canettis aus dem Jahr 1984, die Exilzeit in Hampstead betreffend, macht deutlich, dass dieser den Leuten des Wiener Kreises sehr kritisch gegenübergestanden ist: „Immer wieder gerät er an die Geschichte der Wiener Täter: Popper, Wittgenstein, jetzt sogar Neurath. (Dieser: ein Physiker als eine Art von Neanderthaler.)“427 Ganz unverständlich ist in dieser Reihe von Namen der Hass auf Otto Neurath, hat sich doch Veza Canetti mit dessen Felicitologie in ihrem literarischen Werk auseinandergesetzt. Otto Neurath hat sich nicht nur als Mitglied des Wiener Kreises und als einer der Verfasser der Wissenschaftlichen Weltauffassung einen Namen gemacht, sondern er gilt als Sozialist der ersten Stunde, war er de facto bereits in der Bayerischen Räterepublik tätig gewesen und hat sich danach sehr für den Austromarxismus engagiert.

      Im Gegensatz zum Salon von Trude Schmidl-Waehner war der Salon Spitz mit hoher Wahrscheinlichkeit eher geprägt von der Journalisten-Zunft und von Dichtern der Wiener Moderne oder des Jung Wien.

      Der dritte Künstlertreffpunkt oder Salon, in dem Veza Taubner schon in den 20er Jahren verkehrt haben muss, ist derjenige in der Officina vindobonensis; so wurde das Atelierhaus des Fotografen Robert Haas (1898–1997) und des Malers Carry Hauser (1895–1985) genannt.428 Nicht nur zu den Atelierfesten in der Officina Vindobonensis trafen sich ab 1925 vor allem bildende Künstler wie Fritz Wotruba, Alfred Kubin, Anton Faistauer, sondern überdies Schriftsteller wie Franz Theodor Csokor.429 Von Carry Hauser und Georg Ehrlich ist bekannt, dass sie sich wie Trude Schmidl-Waehner in der Künstlervereinigung Hagenbund engagierten. Bis 1938 druckte das Grafikatelier Officina Vindobonensis insgesamt 21 künstlerisch gestaltete Bücher wie zum Beispiel Werke von Hugo von Hofmannsthal, Ferdinand von Saar oder dem katholischen Geistlichen und Dichter Heinrich Suso Waldeck.430

      Der Maler Carry Hauser hatte 1918 für Franz Theodor Csokors Die rote Strasse das Bühnenbild entworfen. Unter Umständen eine erste eindrückliche Begegnung Veza Taubners mit dem Theaterstück Csokors, dem eine sozialkritische Auseinandersetzung im Roman Die gelbe Strasse gefolgt ist. Natalie Lorenz hat in ihrer Forschungsarbeit zu Veza Canettis Roman, wie schon erwähnt, auf den ironischen Seitenhieb der Autorin auf Franz Theodor Csokor aufmerksam gemacht. Der Name Vlk, das tschechische Wort für Wolf, das die Autorin für den Kapitalisten verwendet, entspricht der Tatsache, dass sich Csokor selbst gerne als Wolf bezeichnet hat. Nathalie Lorenz geht aber noch weiter, wenn sie schreibt: „Zum einen verdeutlicht Herrn Vlks Verhalten, dass auch auf dem Gebiet des Glaubens das Geld regiert und man sich die Aufmerksamkeit der Kirche erkaufen kann. Zum anderen wird gezeigt, dass sich der Geistliche als unfähig erweist, auf die zwar absurden, aber dennoch Hilfe suchenden Fragen von Herrn Vlk einzugehen. Religion erscheint so als blosse Hülse, die den rein formalen Fragen inhaltlich nichts zu entgegnen vermag. Des Weiteren wird besonders durch die Diskrepanz zwischen dem sich bekreuzigenden Privatmann Vlk und dem in der Öffentlichkeit rücksichtslos handelnden Kapitalisten Vlk auf die Wirkungslosigkeit institutionell propagierter Nächstenliebe verwiesen.“431

      Über eine ähnliche Diskrepanz zwischen dem Denken und Handeln des Dramatikers Franz Theodor Csokor schreibt Veza Canetti an Dr. Schönwiese im Jahre 1955:

      „Ich habe vier Theaterstücke geschrieben und mit einer edelmütigen Empfehlung von Franz Czokor sind sie gelesen und gelobt, aber abgelehnt worden.“432 Ab dem Jahre 1947 war Franz Theodor Csokor Präsident des österreichischen P.E.N.-Clubs. Leider scheinen sich direkte Quellen zum Kontakt zwischen Veza Canetti und Franz Theodor Csokor, wie Briefe, nicht erhalten zu haben. Dieser indirekte Hinweis auf den Dramatiker weist aber darauf hin, dass Veza Canetti diesen relativ gut gekannt haben muss. Csokor ist die Figur, die bereits in frühen Netzwerken oder Freundeskreisen Veza Taubners auftaucht, wie im Asriel-Waldinger-Komplex als Freund der Dichter Ernst Waldinger und Alfred Grünewald oder im Salon der Camilla Spitz als Freund von Richard Billinger und eben im Atelierhaus Vindobonensis als Freund von Carry Hauser.

      Es stellt sich natürlich nun die Frage, war Franz Theodor Csokor bekannt, dass Veza Canetti ihn und sein Werk Die rote Strasse im Roman Die gelbe Strasse sozialkritisch dekonstruiert hat, und wenn ja, was hat das für Auswirkungen auf seinen Einsatz für Veza Canetti als Dichterin gehabt? Da die Figur des Kapitalisten Vlk im Roman Die gelbe Strasse ausschliesslich in den Teilen entwickelt wird, die nicht schon als Erzählungen in den 30er Jahren publiziert worden sind, ist sehr gut möglich, dass Veza Canetti diese Figur relativ spät, beispielweise während des Exils konstruiert und in den Roman eingebaut hat. Dies wiederum könnte im Zusammenhang stehen mit dem bereits zitierten Briefausschnitt an Dr. Schönwiese, der von Veza Canetti folgendermassen weitergeführt wird: „(…) aber abgelehnt worden – Jetzt ist ein Roman fertig und ich möchte bitten: können Sie mir in Oesterreich einen Verlag empfehlen lassen, der Romane bringt, die nicht ‚für the happ few‘ sind, nicht highbrow sondern nur Unterhaltungsromane mit Niveau?“433 Dieser Sachverhalt kann nicht geprüft werden, da die Manuskript-Vorstufen zum Roman fehlen.

      Wie Franz Theodor Csokor kehrte auch Carry Hauser kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Exil nach Wien zurück. Der Fotograf und Grafiker Robert Haas hingegen blieb im amerikanischen Exil. Er wurde bis zu seinem Tod im Nachkriegs-Österreich weder ausgestellt noch berücksichtigt. 434 Dieses Schicksal verbindet ihn mit Veza Canetti, wie ferner die Tatsache, dass er während der Zeit des austrofaschistischen Ständestaates der Beilage des Wiener Tag, nämlich in Der Sonntag, veröffentlichen konnte. Hier veröffentlichte Veza Canetti 1937 die Erzählung Der Hellseher.435 Der Sonntag galt als letzte Publikationsmöglichkeit für viele liberale und eher linke Künstler. Die Sonntags-Beilage galt als sogenannter


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