Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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ist, dass die erwähnten Frauenfiguren bei Veza Canetti sich aus eigener Kraft retten oder durch staatliche Eingriffe sowie durch die Hilfe von Mitmenschen gerettet werden können. Zum Beispiel kann der Selbstmörderin Emilie Jaksch durch ein städtisches Programm für obdachlose Dienstmädchen aus der Misere geholfen werden. Felix Salten verwendet in verschiedenen Novellen Figuren mit dem Namen Mizzi, meist sind es Edelprostituierte wie die Mizzi Manhard aus der Novelle Das Manhard-Zimmer von 1897, das in der Fabel dem einaktigen Lustspiel Schöne Seelen von 1925 entspricht.403 Veza Canetti hingegen variiert diese Thematik in der Erzählung Der Kanal und im gleichnamigen Kapitel des Romans Die Gelbe Strasse gleichsam modern mit der Figur der Mizzi Schadn. Diese wird von der Dienstbotenvermittlung direkt an eine Baronin vermittelt, die sich als Lesbe kein Dienstmädchen, sondern ein Mädchen für das Bett erhofft hatte. Trotz des ihr von der Baronin angebotenen Luxus flüchtet Mizzi Schadn verstört und reiht sich wieder auf der langen Bank der Arbeit suchenden Dienstmädchen ein.

      Mizzi heisst gemäss Wörterbuch des Wiener Dialekts von 1929 Marie, also Maria.404 Diese Aussage korrespondiert mit der mehrfachen Aussage von Elias Canetti, dass Veza über eine Madonnensammlung verfügt habe,405 die sie ihm aber nie gezeigt habe. Im Roman Die Schildkröten wird Veza Canetti die Figur der Nazigattin, ein aufgestiegenes ehemaliges Dienstmädchen, im okkupierten Wohnraum der Dichtergattin das Bild der Madonna auf Wunsch ihres Mannes durch ein Bild Adolf Hitlers ersetzen lassen. (Sch 116) „Auch jetzt glaube sie noch an Ausnahmen, zum Beispiel dieser Schriftsteller hier in der Wohnung sei im Dorf geachtet, sogar beliebt. Die Frau dürfte auch nicht die Schlimmste sein, hier hatte sie sogar ein Madonnenbild hängen.

      Die hat sie hier, weil sie ihren Stamm (der Schriftsteller und seine Frau sind jüdisch, Anm. va) verleugnen will. Ein alter Trick im übrigen mag sie sich doch ansehen, was diese Leute hier pflegen. Je hässlicher das Motiv, desto mehr sagt es ihnen. Das war das Zersetzende. Dieser Krüppel hier! Krüppel zu malen! ‚Das nimmst du weg und in den Rahmen kommt der Führer.‘“ (Sch 116)

      Veza Canetti und Felix Salten greifen in ihren Mizzi-Figuren, wienerisch für Maria, eine zeittypische Sichtweise auf, die 1914 von A. J. Störfer im Band Marias jungfräuliche Mutterschaft zusammengefasst wurden. A. J. Störfer, der zusammen mit Ernst Polak und Milan Dubrovic auch in den Unpublizierten Lebenserinnerungen von Elias Canetti Erwähnung findet,406 schreibt: „Dem Auferstehungsmythus folgt der Marienmythus. Er wird vom 4. Jahrhundert an allmählich zum wichtigsten des christlichen Mythenkomplexes. Da die tatsächliche (historisch-wirtschaftliche) Revolution missglückt ist (indem die Kirche, mit der weltlichen Macht verbündet, selbst ein Imperium errichtet), tritt der Sieg der antipatriarchalischen Bestrebungen in der psychischen Realität, im Mythus ein. Marias Jungfräulichkeit bedeutet bloss ihre Ehelosigkeit, bedeutet bloss, dass Maria ausserhalb der vaterrechtlich eingeengten Sexualordnung steht. Der Hetärismus ist in der Phantasie wieder hergestellt: Es gibt keinen Vater mehr.“407

      Dazu passt Felix Saltens 1935 uraufgeführte Komödie Mädchenhände, in der ein Mädchen, Mizzi Pointer, den unter Lebensüberdruss und Zwangsvorstellungen leidenden Sohn Karl des ehemaligen Geliebten ihrer Mutter mit einer vorgespielten Liebschaft, gegen Anfrage und Entgelt durch dessen Vater, heilen soll, was auch gelingt. Das Mädchen Mizzi hingegen, das sich unerwarteterweise selbst in Karl verliebt, weigert sich das Geld anzunehmen. Ob diese Mädchenhände etwas mit den „abgehackten Händen (…) an den Wurzeln noch rosig von frischem Blut“ (DF 23) in der von Veza Magd 1937 publizierten Erzählung Hellseher zu tun haben könnten, bleibt unsicher. Die abgehackten Hände entpuppen sich in Veza Canettis Text als Wachshände, die den Ich-Erzähler – ein Schriftsteller, dessen Blatt wegen der Zeitumstände leer bleiben muss – sehr erschreckt hatten. „‚Hier sind die Hände!‘ Die Pianistin hatte sie rasch geholt, die Hände des Magnetiseurs, die Hände aus Wachs, die mich erst so erschreckt hatten. Es war symbolisch für alles, was später kam, erst lähmender Schreck, der zu Wachs wurde.“ (DF 28)

      Eine ganz andere Mizzi präsentiert Felix Salten in seiner 1932 im gleichnamigen Novellenband veröffentlichten Erzählung. Diese Mizzi, eine Vorstadtschönheit, „sie sah aus wie ein Schubertlied aussehen müsste“408, wird einzig kraft ihres Aussehens, aber ohne Talent eine berühmte Schauspielerin in Wien. Ihr gelingt in der Folge der gesellschaftliche Aufstieg bis zur Ehefrau eines Grossindustriellen und baronisierten Patriziers mit Namen Erwein. Leider verliebt sie sich nach wenigen Ehejahren in einem Heurigenlokal in einen Bänkelsänger namens Poldi, für den sie Mann und Kind verlässt. Nach einigen Jahren als glückliche Wirtin in einem Heurigenlokal bringt sie den notorischen Ehebrecher Poldi und dessen neue Geliebte, eine Bänkelsängerin, und sich selbst mit Rattengift um.

      Felix Salten ist heute der Allgemeinheit nur noch als Autor von Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde in Erinnerung. Das Buch wurde 1923 im Ullstein-Verlag veröffentlicht und bereits 1928 ins Englische übersetzt. Richtig berühmt wurde die Erzählung jedoch erst durch die Verfilmung im Jahre 1942 durch Walt Disney.

      Dass Veza Canetti tatsächlich noch in einer weiteren vergleichbaren Branche tätig gewesen sein könnte wie Felix Salten, offenbart eine Briefpassage von 1948, wo sie Georges, dem Bruder von Elias Canetti, mitteilt, dass sie „Kurzgeschichten für die Jugend für eine engl. Zeitschrift“ schreibe, „die Clement illustriert“. (BaG 359) Mit Clement ist Clement Glock gemeint, die illustrierten Kurzgeschichten gelten leider als verschollen. (BaG 412) Ob Veza Canetti hier an ein Tätigkeitsfeld angeknüpft hat, das sie schon in Wien gepflegt haben könnte, ist unsicher, aber erwägenswert. Die frühen Erfolge Veza Taubners, die Elias Canetti anspricht, könnten womöglich im Bereich Kinderbuch angesiedelt gewesen sein. Vielleicht hat Veza Taubner die Texte für illustrierte Kurzgeschichten geliefert, die dann unter Pseudonym oder unter dem Namen des Illustrators oder der Illustratorin publiziert wurden.

      Beinahe sarkastisch in Bezug auf den Welterfolg von Felix Saltens Bambi mutet an, dass der Übersetzer-Name Veronika Knecht auf einem Band aus dem Hause von Walt Disney mit dem Titel Donald Duck und das doppelte Gespenst an Veza Canettis Pseudonym für Drei Helden und eine Frau erinnert. Ob die Übersetzung des Disney-Bandes aus dem Jahre 1974 – unbekannt ist, ob es sich um die erste Auflage handelt – tatsächlich aus der Feder von Veza Canetti stammen könnte, ist schwer nachzuweisen. In Anbetracht dessen, dass Veza Canetti Kindergeschichten zusammen mit Clement Glock veröffentlicht haben muss, ist selbst eine Übersetzertätigkeit in diesem Bereich nicht auszuschliessen.

      Im Zusammenhang mit Felix Salten lassen sich aber noch weitere Themenbereiche finden, die ihn kontrovers mit Veza Canetti verbinden. Während Felix Saltens im Jahre 1908 herausgegebener Novellenband Künstlerfrauen nicht als Sammlung von Porträts von Frauen, die als Künstlerin tätig sind, gestaltet ist, sondern als Frauen von Künstlern wie Maler, Dichter oder Musiker, denen er gleichsam reportagehafte Authentizität gibt, sind Frauen bei Veza Canetti auch selbst Künstlerinnen, wie beispielsweise die Bildhauerin Diana und die Sängerin Pasta im Theaterstück Der Tiger oder die Bildhauerin Agatha Valorbes im Theaterstück Der Palankin oder ferner die Tänzerin Bella Buff. Da viele Erzählungen Veza Canettis im Künstlermilieu spielen, hat sie zudem immer wieder Künstler-Ehefrauen dargestellt, wie die Dichtergattinnen Eva Kain im Roman Die Schildkröten oder Rosina im Palankin. Mit der Erzählung Drei Viertel diskutiert Veza Canetti die Beziehung eines Künstlers zu Frauen, die für ihn Modell stehen und für ihn im erweiterten Sinne Musen darstellen. Während Felix Salten das Spektrum der Frauenrollen in Bezug auf einen Künstler-Ehemann in den Bereichen Ehefrau, Mutter der Kinder, Wirtschafterin bis zu einem Aufstieg ins Milieu der Adligen auslotet, gehen Veza Canettis Darstellungen von Frauen im Künstlermilieu darüber hinaus; eigenständige Künstlerinnen werden neben Ehefrauen von Dichtern gezeigt, die sich mit Erwerbsarbeit und anderweitiger Unterstützung für ihren Gatten einsetzen. Diese Frauen weisen wiederum eine grosse Nähe zu Saltens Künstlerfrauen auf.

      1931 hat Felix Salten einen weiteren Text publiziert, der in Zusammenhang mit Veza Taubner gebracht werden kann, nämlich: Zoo: Freunde aus aller Welt – Roman eines zoologischen Gartens. In diesem Roman steht im Zentrum das Fühlen und die Erlebnisse der gefangenen Tiere, in denen sich der Mensch wiedererkennen kann. Auch Veza Canetti hat zwei Erzählungen dem Thema Zoo gewidmet: London der Zoo und Herr Hoe im Zoo. Diese zwei Erzählungen gehören zusammen mit der Erzählung Der Hellseher zum autobiografisch konnotierten Wachs-Fragment.409


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