Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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Zuckmayer, Alice Herdan-Zuckmayer

      Carl Zuckmayer gehört zu den möglichen sogenannt „grossen Autoren“, denen Veza Taubner ihren Kaspar-Hauser-Roman geschickt haben könnte. Carl Zuckmayer erhielt 1929 den Georg-Büchner-Preis. Er war ab 1925 mit der Wiener Schauspielerin und späteren Autorin Alice Herdan (1901–1991) verheiratet. Alice Herdan wohnte anfangs der 20er Jahre und vor ihrer Heirat in Berlin mit den Schauspielerinnen Helene Weigel (1900–1971), der späteren Ehefrau und Mitarbeiterin von Bertolt Brecht, und Elisabeth Neumann (1900–1994), der späteren Ehefrau von Berthold Viertel, zusammen. Die drei Schauspielerinnen sind Absolventinnen der Schwarzwaldschule in Wien. Anlässlich der Schweizer Reise zwei Jahre vor ihrem Tod muss Veza Canetti in Zürich ihre alte Jugendfreundin, die Schauspielerin Gerti Spitz, getroffen haben, die aus Amerika angereist war.378 Aus einem Brief Veza Canettis an Rudolf Hartung erfährt man, dass sie zu erschöpft war, um ins Wallis zu einer weiteren Freundin zu fahren. „Wir blieben in Zürich, ich war zu erschöpft, um nach Austria zu fahren, oder ins Wallis, wo mich eine Freundin erwartete.“379 Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist mit der Freundin die Schauspielerin und Autorin Alice Herdan-Zuckmayer gemeint. Das Ehepaar Carl und Alice Zuckmayer lebte ab 1957 in Saas-Fee. Die Zuckmayers waren spätestens seit ihrer Zeit in Henndorf bei Salzburg (1933–1938) auch mit Stefan Zweig und Franz Theodor Csokor befreundet.380

      Mit den Schauspielerfreundinnen von Alice Herdan, Helene Weigel und Elisabeth Neumann – die als Freundinnen oder gute Bekannte von Veza Taubner bezeichnet werden können –, eröffnet sich ein weiterer Personenkreis im Umfeld von Veza Taubner, der im Salon Spitz verkehrt haben könnte oder mindestens damit assoziiert war.

      Die Bekanntschaft mit den Wiener Schauspielerinnen ergibt eine früh anzusetzende Schnittstelle der Personenkreise des Salons von Camilla Spitz und der Schwarzwaldschule von Dr. Eugenie Schwarzwald. Da Alice Herdan bereits 1919 nach Berlin übersiedelte, ist davon auszugehen, dass die Kontakte schon während und vor dem Ersten Weltkrieg bestanden.

      Die drei Schauspielerinnen Alice Herdan, Helene Weigel und Elisabeth Neumann wurden an der Schwarzwaldschule von Auguste Lazar, einer promovierten Germanistin und Schriftstellerin, unterrichtet. Nicht nur die drei Exschülerinnen und Schauspielerinnen zog es nach Deutschland, auch Auguste Lazar lebte mit ihrem Mann Karl Wieghardt, einem Mathematiker, ab 1920 in Dresden. Deutlich bekannter als Auguste ist ihre acht Jahre jüngere Schwester Maria Lazar, ebenfalls Absolventin der Schwarzwaldschule und Schriftstellerin. Bei Maria Lazar muss Elias Canetti 1932 im privaten Rahmen die Komödie Die Hochzeit gelesen und dabei Hermann Broch kennengelernt haben, wie er schreibt: „Ich sollte bei der Maria Lazar, die wir beide kannten, – ich sehr gut –, vor einigen Gästen ‚Hochzeit‘ vorlesen. Ernst Fischer und seine Frau Ruth waren eingeladen.“381

      Im Jahre 1935 leben im Exil in Dänemark Bertolt Brecht und Helene Weigel im Haus neben dem von Maria Lazar, die ebenfalls in den Norden migriert war. „Grüsse an Maria Lazar“382, schreibt Wieland Herzfelde in einem Brief an Bertolt Brecht. Maria Lazar und die Brechts lebten in Thurø/Dänemark auf dem Grundstück von Karin Michaëlis, einer dänischen Schriftstellerin und Theaterkritikerin, die sehr eng mit Eugenie Schwarzwald, der Direktorin der Schwarzwaldschule, befreundet war. Karin Michaëlis hatte sich bereits während des Ersten Weltkrieges viel in Wien aufgehalten und sich zusammen mit Eugenie Schwarzwald caritativ für die hungernden Wiener Kinder eingesetzt. Aus dieser Zeit stammte die Freundschaft zwischen Helene Weigel und Karin Michaëlis.

      Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass Veza Taubner die Schwestern und Schriftstellerinnen Maria und Auguste Lazar sowie die mit ihnen befreundete Schauspielerin Helene Weigel schon während oder kurz nach dem Ersten Weltkrieg gut gekannt haben muss. Gerade auch wegen Veza Canettis Jugendfreundin Gerti Spitz, geborene Fuchs, die fast gleich alt wie Helene Weigel zur selben Schauspielerinnengeneration in Wien gehört. Leider kann dies bisher durch keine Quellen direkt belegt werden. Da Helene Weigel ab 1922 in Berlin tätig war und ab 1924 mit Bertolt Brecht liiert ist, könnte dies unter Umständen einer der möglichen Wege sein, auf denen Veza Taubner zur Tätigkeit als Lektorin und Übersetzerin für den Berliner Malik-Verlag gekommen ist.

      In ihren Lebenserinnerungen Arabesken skizziert Auguste Lazar 1961 eine treffende Charakterisierung der Kreise, die zur Schwarzwaldschule gehörten, und ihrem eigenen eher konservativen Elternhaus: „Bei Schwarzwald verkehrten Menschen aller Glaubens- und aller politischen Richtungen. Nach dem Sturz der ungarischen Räterepublik waren flüchtige Kommunisten aus Budapest gekommen, und in den dreissiger Jahren war der berühmte Jesuitenpater Muckermann ein häufiger Gast. Gewiss, man konnte nicht vorurteilsloser scheinen als die Schwarzwalds.

      Am besten lässt sich das Verhältnis zwischen dem Haus Schwarzwald und meiner eigenen Familie in einer Gleichung ausdrücken. Die Schwarzwalds verhielten sich zu meiner Familie wie Karl Kraus zu Stefan Zweig. An vielem Überlebten, Abgestorbenen hielten die einen noch fest, während die anderen es zwar als überlebt, abgestorben erkannten, aber doch nichts daran ändern konnten, weil sie dem gemeinsamen Boden, dem Bürgertum verhaftet blieben.“383

      Wie das Elternhaus von Auguste Lazar kann wahrscheinlich auch der Salon von Camilla Spitz gesehen werden. Akkurat an dieser Scheide zwischen Alt und Neu steht Veza Canettis Roman Die Gelbe Strasse in seiner dezidierten Abgrenzung zum Drama Die Rote Strasse von Franz Theodor Csokor.

      Zu den Schwestern Maria und Auguste Lazar gibt es bis in die Exilzeit hinein potenzielle Berührungspunkte mit Veza Canetti. Lebte doch Auguste Lazar den grösseren Teil ihrer Exilzeit – wie Veza Canetti – in Hampstead. Sie wird allerdings 1949 wieder in die Heimat ihres verstorbenen Mannes nach Dresden übersiedeln. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war ihre schwer kranke Schwester Maria Lazar für einige Monate zu ihr nach Hampstead gezogen, um sich wegen ihrer als unheilbar geltenden Knochenkrankheit behandeln zu lassen. Auch für diese Zeit ist kein Kontakt mit den Canettis bezeugt, was doch sehr erstaunt.384

      In einem weiteren Entwurf zu den Lebenserinnerungen, der verworfen wurde, schreibt Elias Canetti: „Sie war manchmal in Gesellschaften eingeladen, wo sie Künstler der unterschiedlichsten Art traf, besonders eine Verwandte von ihr, die in der Seilerstätte wohnte, empfing regelmässig interessante Gäste. Ich war auch eingeladen, doch ich ging nicht hin, weil sich da Leute einfanden, die mein Abgott verbannt hatte. Veza störte das nicht, so wenig wie die Lektüre von Heine, sie ging gern hin und wenn sie jemand dort mochte, war es ihr gleichgültig, was der Abgott über ihn gesagt hatte. Ich begann sie auszufragen und liess mir jeden Satz wiederholen, den sie im Gespräch mit andern gewechselt hatte. Es konnte lang dauern und wenn der beste Teil eines Besuches bei ihr damit vergangen war, packte mich die Wut und da ich sie nicht kränken mochte, entlud sich die Wut über mich selbst und ich machte mir die bittersten Vorwürfe.“385

      Mit der Verwandten von ihr, die in der Seilerstätte wohnte, ist natürlich wiederum der Salon von Veza Taubners Tante, der Juweliersgattin Camilla Spitz-Calderon, gemeint. Es ist davon auszugehen, dass Elias Canetti mit Abgott Karl Kraus gemeint hat. Nun, Karl Kraus hatte 1926 eine grosse Schlammschlacht gegen Imre Békessy, den Herausgeber und Redakteur der österreichischen Tageszeitung Die Stunde, geführt. Die Stunde gilt als erste moderne Boulevardzeitung Österreichs, sie erschien von 1923 bis 1938 und publizierte durchaus auf der Linie der Sozialdemokratie. Die Stunde verfügte neben dem Chefredakteur Karl Tschuppik, der zuvor das Prager Tagblatt geleitet hatte, durchaus über sehr interessante Mitarbeiter wie den jungen Billy Wilder, Egon Friedell, Anton Kuh, Erik von Krünes oder Alexander Sandor Nadas und wurde schnell zur auflagenstärksten Zeitung im Lande.386

      „Karl Kraus attackierte sie (Die Stunde, Anm. va) wegen des reisserischen Tons und der Doppelmoral ihrer ‚Bordellpublizistik‘. Insbesondere wegen ihres Besitzers Imre Békessy, den


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