Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler
indirekt zurück auf die 1935 aufgeführte Komödie Mädchenhände von Felix Salten. Wachsfiguren bei „The New Madame Tussauds“ (DF 31) werden in der Erzählung London der Zoo in Kontrast gesetzt zu den gefangenen Tieren im Zoo; während die Tiere des Zoos auf die Ich-Erzählerin harmlos wirken und sogar menschenähnliche Eigenschaften haben und darin den Tieren in Felix Saltens Roman eines zoologischen Gartens gleichen, entpuppen sich die Wachsfiguren im Wachsfigurenkabinett als gefährlich und versetzen die Ich-Erzählerin in Angst und Schrecken. Dies bewirken nicht nur die vielen Mörder, die hier dargestellt sind, sondern darüber hinaus Personen mit adligem Aussehen: „Einem andern aber mit adeligem Äussern bin ich hineingefallen. Gemeiner Mord.“ (DF 32) Akkurat dieser Ansicht ist auch die Hauptfigur der Erzählung Herr Hoe im Zoo: „Es gibt keine Raubtiere, sondern nur Raubmenschen.“ (DF 33)
Von Interesse bezüglich Felix Salten und dessen Verbindung mit dem Salon von Camilla Spitz ist eine Aufzeichnung von Elias Canetti aus dem Jahre 1968:
„Viel Süssigkeiten bei Schnitzlers Liebeserlebnissen. Seine arme Stickerin endlich in einem Zimmer mit Aussicht auf die Strasse: das ist ihm behaglicher. Sehr aufmerksam sind die jungen Lebemänner auf Paralytiker, er erwähnt mehrere. Die Angst vor Syphilis ist das einzige, buchstäblich das einzige Hindernis vor unaufhörlichem Geschlechtsverkehr. Sein Arztzimmer in der Klinik, wo die Geliebte bei ihm übernachtet. Er geht zum Dienst, kommt zurück, findet sie noch im Bett, wo sie auf ihn wartet. Lästiger ist noch niemand ein Dienst gefallen. –
Eine solche unaufhörliche Geschlechtsatmosphäre gab es auch bei Vezas Tante Camilla, wo allerhand Leute verkehrten, auch die Grete Wiesenthal und Billinger z. B. –“410
Diese Passage zeigt einerseits, wie Elias Canetti nach dem Tod von Veza versucht, mit Hilfe von Tagebüchern und Texten von Wiener Autoren wie eben Arthur Schnitzler, aber auch Hermann Broch oder Heimito von Doderer diese literarisch-künstlerische Welt zu verstehen, zu der er erst relativ spät – ungefähr ab 1924 – langsam Zugang bekam. Andererseits greift Elias Canetti mit dieser unaufhörlichen Geschlechtsatmosphäre etwas auf, das gerade mit den Felix Salten zugeschriebenen Bekenntnissen der Dirne Josefine Mutzenbacher in Wien bereits 1906 für Furore gesorgt hatte.
E. Salons – Künstlerzirkel
Auf der einen Seite hatten Frauen nach dem Ersten Weltkrieg viel mehr Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen: „Der Kampf um die Emanzipation zeigt nach dem Ersten Weltkrieg erste Erfolge, die Frauen erhalten das Wahlrecht, viele Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten stehen ihnen in der Ersten Republik offen“411, auf der anderen Seite funktionierten viele gesellschaftlich relevante Begegnungsorte wie vermutlich auch der Salon Spitz nach alten Regeln. So dass Elias Canetti treffsicher das Bild Vezas als Analogie zum kultur- und gesellschaftspolitisch geprägten Bild einer Frau des 19. Jahrhunderts, der Bildikone Nanna von Anselm Feuerbach, hier einsetzen konnte. Gleichsam die Thematik erweiternd hat Elias Canetti in seinen Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen das Bild Ländliches Konzert Anselm von Feuerbachs gleich mehrfach verwendet. Dieses Bild, das das ältliche ungarische Fräulein in der Pension in Frankfurt so begeistert haben muss, und zwar nicht als Bild, sondern aufgrund der Tatsache, dass der tatsächlich noch sehr junge Elias Canetti ausgerechnet dieses Bild zwischen die Bilder der vielen Nannas von Feuerbach an die Wand geheftet hatte. „Frl. Adler (…) eine ungarische alte Jungfer, die über das ‚Konzert‘ von Feuerbach, den ich in unserem Wohnzimmer aufgehängt hatte, in Entzücken geriet.“412 Genau dieses Bild mit den zwei Musikern und den zwei nackten Musen deutet auf einen Sachverhalt hin, der über das ikonografisch bei Feuerbach Gezeigte hinausweist. Hält doch nicht der zweite Musiker die Flöte in der Hand, sondern die den beiden zugewandte Muse. Entsprechend führt Elias Canetti hinsichtlich der Ebenbildlichkeit von Veza und Nanna dann weiter ins Treffen: „Wenn sie auch keine Malerin war, obwohl sie schon früh eine Anlage dazu gezeigt hatte, so war sie doch immerhin gemalt, und zwar von einem Maler, der lange vor ihrer Zeit gelebt hatte. Seine Nana sah man damals überall reproduziert, sie war beinahe so beliebt wie später die Sonnenblumen von Van Gogh.“413
Kurz gesagt, wenn schon Nanna beziehungsweise Veza keine Malerin ist, dann aber mindestens das Bild oder die Muse eines Malers. Exakt diese Gegebenheit nimmt Elias Canetti auf, wenn er anfangs der 90er Jahre rückblickend in einem Text über Vezas Schreiben notiert: „Sie war in allen manuellen Dingen äusserster Geschicklichkeit, sie nähte, sie schrieb, sie malte, als wäre es nichts.“414 Die Erwähnung von Schreiben in dieser seriellen Aufzählung weist wiederum auf das Bild der Muse zurück, die die Flöte in der Hand hält, jedoch mindestens auf dem Bild nicht spielt. Im Kontrast dazu steht die Erzählung Pastora von Veza Canetti. Mit der Figur der Pastora und ihrer ästhetischen Gleichsetzung mit der Nanna von Anselm Feuerbach eröffnete Veza Canetti nicht nur den sozialkritischen Diskurs um die Magd oder Kontoristin an sich, sondern damit auch den Diskurs um die Figur der Muse allgemein und den um die Nanna insbesondere.
Vollends anders als Elias Canetti werten Gürtler und Schmid-Bortenschlager hingegen die Rolle von Frauen in verschiedenen Salons der Zwischenkriegszeit. Sie schreiben entsprechend in ihrem Band Erfolg und Verfolgung bezüglich der österreichischen Schriftstellerinnen von 1918–1945: „Autorinnen nehmen ihren Platz in den Künstlerzirkeln von Wien, München oder Berlin ein (…) wo sie die traditionelle Rolle der Freundin wichtiger Männer spielen, wo ihre intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten aber auch Anerkennung finden.“415 Ganz so optimistisch gibt sich Veza Canetti selbst zur Szene der Salons nicht, wenn sie im Theaterstück Der Tiger nur zwei unabhängige Künstlerinnen im Salon der Opernsängerin Pasta auftreten lässt: die junge Bildhauerin Diana sowie die Tänzerin Buff. Die Gäste des Salons Spitz wie auch des Salons von Pasta, der explizit in den Worten der Autorin im Alten Wien angesiedelt ist, lassen ausserdem nicht auf einen dezidiert linken Salon oder Künstlerzirkel schliessen.
Es lassen sich zudem zwei weitere Künstlerzirkel nachweisen, in denen Veza Taubner verkehrt haben muss und die ebenfalls Affinitäten zu den Salons des Alten Wien zeigen, nämlich der Salon von Trude Schmidl-Waehner und das Künstleratelier von Carry Hauser mit der Officina Vindobonensis.
E1. Bohèmenhafter Künstlersalon Trude Schmidl-Waehner
„Als Malerin und Grafikerin richtet sich Trude Waehner Anfang der 1920er Jahre ein Atelier im Elternhaus ein, welches zum Treffpunkt für Künstler, Gelehrte, Schriftsteller und Kunsthistoriker wird. Die Kunsthistoriker Ernst Kris und Ernst H. Buschbeck, der Mathematiker Karl Menger, der Nationalökonom und Soziologe Otto Neurath, der Philosoph Karl Popper und viele andere zählen zu den ständigen Besuchern dieser Treffen.“416 Desgleichen schreibt Paul Lützeler in Hermann Broch und die Moderne: „Einen bohèmenhaften Künstlersalon in Wien führte Trude Waehner in der elterlichen Wohnung im achten Bezirk. (…) auch im New Yorker Exil gehörte sie zum Freundeskreis Brochs.“417
Trude Schmidl-Waehner (1900–1979) scheint nicht nur Hermann Broch, sondern genauso Veza Canetti gut gekannt zu haben, wie drei Briefe Veza Canettis an Trude Schmidl-Waehner im Österreichischen Literaturarchiv sowie der Einsatz von Trude Schmidl-Waehner für die Affidavits der beiden Canettis für ein Exil in den USA deutlich machen.418 Veza Canetti schreibt an Trude Schmidl-Waehner: „I always had great admiration for your vitality and acitve mind, I’m sure your book will succeed and Broch would never praise your ideas, without cause.“419
Sie fügt in diesem Brief in seltener Offenheit an, wie zunehmend kritisch sie ihre eigene Rolle im Leben gesehen haben muss: „What concerns myself, all my masts are broken, and I myself am my greatest disappointment. On your very interesting views about art (I think you are perfectly right.) I am forbidden to comment, for that is where Canetti comes in. He has for same time forsaken poetry and dedicates himself entirely to the work of his life, his Mass-Psychology …“420 Die Briefe Veza Canettis an Trude Schmidl-Waehner in New York drehen sich jedoch sonst vor allem um die Verlagsproblematik im Exil allgemein und spezifisch den Roman Die Blendung betreffend. Dies hat seinen Grund darin, wie aus einem Brief von Trude Schmidl-Waehner in Exilarchiv in Frankfurt hervorgeht, dass Elias Canetti noch im März 1938 für den österreichischen Werkbund – eingeladen