Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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bleibt trotz ihres Namens, nämlich dem der berühmten spanischen Freiheitsheldin Pastora, wie erwähnt, nur der Gang ins Kloster. Eric Hobsbawm schreibt, dass die roten Blumen zur Ritualisierung des Maifeiertages schon im 18. Jahrhundert an verschiedenen Orten verwendet wurden, die rote Nelke hätte in den Ländern der Habsburger und in Italien ihren offiziellen Status als Symbol für den Sozialismus indessen erst ungefähr um die Jahrhundertwende, also 1900, erhalten.348

      Im Nachlass von Elias Canetti gibt es ein Bild349 Veza Taubners, wo sie wie die Nanna Feuerbachs von der Seite her dargestellt wird, gekleidet mit einem weissen Bauernhemd und einem geknoteten Zopf im Nacken. Die Ähnlichkeit zur Muse des Malers Anselm Feuerbach ist frappierend. Veza Taubner trägt aber weder eine Diamanten-Spange noch wachsen aus ihrem Zopf rote Nelken wie bei Pastora, noch trägt sie wie im Bild Poesie einen Lorbeerkranz.350 Mit der Neuverwendung des Bildes der Nanna, einer Bildikone der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, setzt Veza Canetti einen neusachlichen Akzent als Rückblende auf das Leben der realen Anna Risi – Geliebte, Modell und Muse vieler Maler –, einer Römerin, die für Anselm Feuerbach den Ehemann, einen einfachen Schuster, und die Kinder verlassen haben soll.351

      Auch der sozialistische Schriftsteller und Politiker Ernst Fischer greift das Bild der Nanna auf, indem er schreibt: „(…) ihre Güte als Destillat einer dunkel glühenden Leidenschaft. Schönes weisses Gesicht; Schnee bedeckt den Vulkan. Schwarze Handschuhe (…), Dienst als Würde, (…) Ihre Fähigkeit zu lieben, auf Besitz verzichtend (…).“352

      Elias Canetti schreibt in den Unpublizierten Lebenserinnerungen, dass nach einem Lob von seinem Freund, dem Kunstmaler Georg Merkel, über Veza Canettis Schönheit der Lyriker Dr. Sonne geantwortet habe: „Es ist noch viel mehr dahinter.“353

      Pastora in der Erzählung Der Seher, die ebenfalls zum spanischen Corpus gehört, wird vom blinden Bettler auf dem Bauernmarkt aufgrund ihres Nelkendufts erkannt und erhält ihr schönes Seidentuch zurück, das ihr zuvor gestohlen worden war. Die Marktgesellschaft hingegen hatte zuvor Pastora selbst des Diebstahles des Tuches verdächtigt, einzig darum, weil ein so schönes Stück der Bauernmagd nicht zieme. (DF 90 f.) Auch von Anselm Feuerbach gibt es das Bild einer Nanna mit einem schönen Seidentuch über der Bauernbluse.

      Zufall oder nicht? Der erste Roman der Dichterin mit dem Aussehen der Bildikone Nanna trägt den Titel Kaspar Hauser. Der Maler Anselm Feuerbach war ein Enkel des Juristen Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach, bei dem er wegen des Todes seiner Mutter seine früheste Kindheit verbrachte. Der Jurist Feuerbach hat als Erster 1832 das Schicksal Kaspar Hausers – Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen – publik gemacht. Die Publikation dieser Schrift fällt in die Zeit, als der Enkel und zukünftige Maler Anselm Feuerbach in seinem Hause lebte. Eine Bearbeitung dieses Stoffes legte auch der Dichter Jakob Wassermann 1908 mit dem Roman Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens vor.

      Grete Wiesenthal schreibt 1947 an Lily Spitz nach Amerika: „Wenn ich einen Filmstreifen hätte, würde ich für Dich das Haus an der Seilerstätte, in dem Ihr gelebt habt, fotografieren. Es ist ganz unbeschädigt, und so oft ich daran vorübergehe schaue ich hinauf zu Eurem Balkon und erinnere mich der Besuche bei Euch, und des schönen, runden grossen Balkonzimmers.“354 Die Erwähnung des Filmstreifens, der fehlt, zeigt metaphorisch die volle Diskrepanz der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Einerseits steht das Haus noch, man kann es von aussen filmen und sich sagen „zum Glück“, aber andererseits ist dessen Innenleben, seien das Menschen oder seien das Ideen, durch den Austrofaschismus und die Hitlerzeit gründlich durcheinandergeraten. Einiges an Turbulenzen war jedoch schon in den 20er Jahren angelegt.

      Von Richard Billinger ist tatsächlich bekannt, dass er 1922 beim Gedichte-Rezitieren im Café Central von Grete Wiesenthal entdeckt355 wurde und dass sie ihm die Freundschaft Hugo von Hofmannsthals, mit dem sie selber eng befreundet war, vermittelt hat.

      Ob Hugo von Hofmannsthal regelmässig im Salon Spitz verkehrt hat, ist unsicher. Es ist aber davon auszugehen, dass Veza Taubner schon in sehr jungen Jahren Hofmannsthal kennengelernt haben muss. Ob er der grosse Dichter ist, dem Veza Taubner den Kaspar-Hauser-Roman geschickt hat, ist möglich, dies müsste indessen noch knapp vor seinem Tod im Jahr 1929 geschehen sein.356

      Mit Ausnahme der Freundschaft zwischen Hugo von Hofmannsthal und Grete Wiesenthal und ihrer Bedeutung für Lily Spitz und deren Familie lässt sich allerdings vorläufig keine quellengestützte direkte Verbindung des Dichters zu Veza Taubner finden.357 Dies passt auch zur Tatsache, dass gleicherweise zu Grete Wiesenthal – die immerhin die Geliebte Hugo von Hofmannsthals war – nur äusserst rudimentäre Aussagen in Biografien zu Hugo von Hofmannsthal zu finden sind.358 Wie bei den Felonen spielt auch hier das Café Museum gleichsam als Nebenschauplatz eine Rolle.

      Im Gegensatz zu den nicht zu belegenden Kontakten zwischen Veza Taubner und Hugo von Hofmannsthal ergeben sich literarisch gesehen bei dem Romanfragment Andreas oder die Vereinigten von Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahr 1932 vielfältige intertextuelle Bezüge zu verschiedenen Texten Veza Canettis aus den 30er Jahren, aber auch zu solchen Hermann Brochs aus der gleichen Zeit. Im weitesten Sinne kann dies als ein Sich-Abarbeiten der beiden jüngeren Autoren, Veza Canetti und Hermann Broch, an der Wiener Moderne gesehen werden,359 mehr dazu im Kapitel Hermann Broch.

      Bekannt sind zudem Veza Canettis Auseinandersetzungen mit dem Operettendiskurs, wie ihn Karl Kraus in Bezug auf die Werke von Jacques Offenbach angestossen hat.360 Veza Canetti verwendet im Drama Der Tiger, das im Alten Wien angesiedelt ist, nicht nur verschiedene Zitate aus Opern und Operetten, sondern greift mit diesem Werk in den Operettendiskurs von Karl Kraus ein. Sie positioniert sich in der Nähe der Position von Walter Benjamin in diesem Operettendiskurs, den Karl Kraus angestossen hat. Veza Canetti problematisiert im Theaterstück Der Tiger mit dem Einsatz einer wohlgesetzten Arie das Verramschen der Kunst in einem Kaffeehaus im Sinne einer Degradation von Kunst als Ware. Veza Canettis Einspruch wird in Form eines von „Pasta gesungenen Auszuges aus der Oper Carmen zum von Karl Kraus propagierten – und von Walter Benjamin pointiert formulierten – ‚Ersatz für Sprache‘, die ‚scheidende Gewalt‘ gewesen wäre“361, oder anders ausgedrückt, Musik wird „zu List und Ausflucht, Einspruch und Vertagung“362 der Problematik rund um „Kunst als Ware“.

      Von Hugo von Hofmannsthal ist zudem bekannt, dass er für Richard Strauss verschiedene Opernlibretti geschrieben hat. Im Zentrum dieser und anderer Opern von Richard Strauss stehen oft grosse Frauenfiguren aus Mythologie und Kulturgeschichte wie in Elektra, Ariadne auf Naxos, Salome, Die Frau ohne Schatten und weiteren. Richard Strauss greift mit der Darstellung von grossen Frauenfiguren eine Thematik auf, mit der nur wenige Jahrzehnte zuvor der Theaterautor Friedrich Hebbel (1813–1863) auf den Bühnen Wiens viele Erfolge gefeiert hat. Elias Canetti hat mehrfach erwähnt, dass Veza Canetti die Tagebücher von Friedrich Hebbel sehr geschätzt habe.363 Bemerkenswerterweise sind aber gerade die Tagebücher Friedrich Hebbels eigentliche Korrektive seines ehrfurchtsvollen Dichterblickes auf Frauen, denn in diesen persönlichen Aufzeichnungen tritt er Frauen eher abwertend entgegen. Beispielsweise in einem Eintrag vom 7. Dezember 1843: „Das echte Weib ist seinem eigenen Gefühl nach nichts für sich, es ist nur etwas in seinem Verhältnis zu Mann, Kind oder Geliebtem – wie zeigen dies Elisens Briefe!“364

      Richard Billinger ist nicht nur von Grete Wiesenthal entdeckt und von ihrem Freund und Geliebten Hugo von Hofmannsthal365 sehr gefördert worden, sondern auch vom Roten Wien. 1924 erhält Richard Billinger den Literaturpreis der Stadt Wien und im Konzerthaus wird sein Stück Spiel vom Knecht, ein Marionettenspiel, uraufgeführt.366 Dieses Stück ist das erste in einer Reihe von Texten, die im bäuerlichen Milieu angesiedelt sind, daraus entwickelte Richard Billinger für die Salzburger Festspiele von 1928 Das Perchtenspiel, ein sogenanntes Tanz- und Zauberspiel


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