Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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freudsche Ansätze waren, die faszinierten, ergibt sich aus den politischen Profilen der Beteiligten.

      Wie viele Beziehungen Veza Canettis aus dem Familienkosmos endet auch diese mit der Shoa. Im Jahre 1968 schreibt Elias Canetti in seinen Notizen: „(..) Alice Asriel, die eine Jugendfreundin meiner Mutter war, ihre Tochter Nuni und der geistesschwache älteste Bruder der beiden Walter, von den Nazis abtransportiert und vergast. Ich weiss nur, dass sie umgekommen sind, sonst weiss ich von ihnen nichts.“310

      Etwas konkreter muss sich Fredl Waldinger gegenüber Elias Canetti 1973 zum Schicksal der Asriels geäussert haben, wie Elias Canetti dessen Wissen in den Notizblöcken von 1973 wiedergibt: „Sie (Alice Asriel, Anm. va) hätte sich retten können, sie hätte von Paris weg können, aber wegen ihres Sohnes, der zurückgeblieben war, wegen dem Walter, der etwas idiotisch war, ist sie nicht gegangen. So sind sie alle drei, Mutter und Tochter und Walter umgekommen.“311

      In den Notizblöcken Elias Canettis von 1930 finden sich in Bezug auf Veza Taubner einige sensationelle Aussagen. Elias Canetti betont, wie Veza Taubner durch die Lektüre der Lebenserinnerungen Wera Figners Nacht über Russland, erschienen im Malik-Verlag 1926, zur wirklichen Dichterin wird. „Sie (Veza, Anm. va) ist zum Künstler geworden.“312 Die russische Ärztin und Anarchistin der ersten Stunde, Wera Figner (1852–1942), hatte aufgrund ihres Engagements für bessere Lebensbedingungen der verarmten Landbevölkerung schon vor der russischen Revolution von 1917 rund 20 Jahre Gefängnis hinter sich. Wera Figner hatte kurz nach ihrem Medizinstudium in Zürich 1875 ein Landkrankenhaus in Saratow übernommen, das sie bereits 1879 wegen Verleumdungen wieder verlassen musste. Durch den erzwungenen Abgang verstärkte sie erneut ihr Engagement in den russischen Anarchistenkreisen – ein Engagement, das seine Wurzeln in der Zürcher Studienzeit hatte –, um wenige Jahre später dann wie viele ihrer Mitkämpfer verhaftet und eingekerkert zu werden. Nicht auszuschliessen ist, dass Veza Taubner Wera Figners Lebenserinnerungen Nacht über Russland nicht nur gelesen hat, sondern die deutsche Ausgabe für den Malik-Verlag auch lektoriert hat. Zudem verfügte der Malik-Verlag präzise in den zwei Jahren (1924–1926) vor dieser Publikation über eine Zweigniederlassung am Bauernmarkt 1 in Wien.

      Überrascht hatte Elias Canetti zudem kurze Zeit zuvor Veza Taubners Roman-Manuskript Kaspar Hauser. „Beim Lesen geriet ich in immer grösseres Entzücken. Ich schämte mich der Novelle, an der ich in der letzten Zeit gearbeitet habe. Was ich schreibe, sind dünne, blasse, blutarme Phantasieprodukte; bei ihr hat jedes Wort Hand und Fuss, jeder Gedanke einen Anfang und ein Ende, jede Szene ihren klaren, organischen Zweck. Nichts ist zu viel, nur weniges zu wenig. Welchen Eindruck müsste das auf mich machen, bei dem fast alles zu viel und das Wesentliche zu wenig ist! Ich las noch keine halbe Stunde, – als ich schon so ausgelaugt, erregt, stolz, neidisch verblüfft, wütend und verlegen war, dass ich im Zimmer auf und abging, strengere Vorsätze für meine eigene künstlerischen Arbeit fasste.“313

      Veza Taubner wäre nicht Veza Taubner, wenn sie sich eine Lobrede ihrer eigenen Arbeit durch jemand anderen einfach so anhören würde, entsprechend fällt ihre Reaktion auf das Lob des Kaspar-Hauser-Romans aus, wie Elias Canetti dokumentiert: „Ich kam also, von ihr beladen, auf sie gerichtet, durch sie gespannt, hin. Sie schnitt sofort die Rede ab. Sie blickte mit der echtesten, überzeugendsten Verachtung auf ihr eigenes Manuskript, das ich in der Hand hatte.“314 Veza Taubner wird in ihrer Antwort auf das Lob Elias Canettis etwas entwickeln, was für sie als Mensch und Dichterin gilt und genau das Gegenteil davon ist, was Elias Canetti für sich selbst zeit seines Lebens proklamieren wird. Präzise dieses Spannungsfeld nun, das sich mit Veza Taubners Antwort eröffnet, wird einerseits das Zusammenleben des Dichter-Ehepaares prägen und andererseits ihr eigenes Leben, ein prekärer Aufenthalt zwischen Leben und Werk, bestimmen, wie folgender Ausschnitt zeigt: „Sie will von diesem Dreck (Kaspar-Hauser-Roman, Anm. va) nichts wissen. Sie muss ein neues Leben beginnen. Sie muss unter Menschen. Sie muss etwas leisten. Lieber im Gefängnis zugrunde gehen als dieses Leben. Schreiben ist eine verächtliche, eitle, selbstgefällige Sache. Pfui Teufel, was geht sie der Kaspar Hauser an? – Sie sprach eine halbe Stunde lang mit der grössten Leidenschaft gegen sich, ihr Leben, ihren verächtlichen, feigen Charakter. Sie ist nichts weniger als rhetorisch begabt. Wirkliches Pathos geht ihr für gewöhnlich in der Rede völlig ab. Ihre angegriffene Lunge verbiete ihr längeres Sprechen. Umso mehr hatte der leidenschaftliche und auch äusserlich wirksame Erguss zu bedeuten. Eine ungeheuerliche Umwälzung ihrer Natur hat ein Buch bewirkt: die Erinnerungen der Wera Figner. Sie sprach von der Gemeinschaft, die die politischen Gefangenen sich in Schlüsselburg eingerichtet hatten und begann zu weinen. Sie will nach Russland. Als Lehrerin in einem Dorf oder nach Deutschland, um in der kommunistischen Partei zu arbeiten. Sie muss irgendetwas tun. Ihr bisheriges Leben ist eine Gemeinheit. Ich hatte die grösste Mühe, sie zu beruhigen. Es gelang mir nur langsam, die Sprache auf ihren Roman zu bringen. Anfangs setzte sie jedem Versuch heftigen Widerstand entgegen. Ihr sicherer Instinkt sagte ihr, dass eine künstlerische Begabung auf jeden Fall, – sie mag sogar soziale Ziele verfolgen, – ein Verharren, ein Baden, ein Verwurzeln in engster, persönlichster Eitelkeit bedeutet.“315

      Dieser Text, der mir für meine Dissertation noch nicht zur Verfügung stand, beweist den damals nur textimmanent nachgewiesenen autobiografischen Gehalt der Erzählung Flucht vor der Erde.

      Der Roman Kaspar Hauser selbst gilt als verschollen. Vieles muss Veza Canetti Mitte der 50er Jahre in einem Ansturm von Schwermut vernichtet haben, wie die biografischen Angaben ohne Quellenvermerk im Roman Die Schildkröten verzeichnen. (Sch 287) Möglicherweise war auch der Kaspar-Hauser-Roman darunter. Im Selbstporträt von Veza Magd im Band Dreissig Neue Erzähler des neuen Deutschland von 1932 hält Veza Taubner fest: „Mein erstes Buch war ein Kaspar Hauser-Roman, und ich schickte ihn begeistert einem grossen Schriftsteller. Der war so klug, mich so lange auf die Antwort warten zu lassen, bis ich sie mir selber gab.“316 Viel wurde in der Forschung zu Veza Canetti darüber spekuliert, wer der grosse Schriftsteller gewesen sein könnte, dem sie den Text geschickt haben könnte – beispielsweise Thomas Mann oder Hermann Kesten – leider gibt es weder für den einen noch den anderen Beweise. Von beiden Autoren ist bekannt, dass sie den ersten Roman von Elias Canetti Die Blendung zur Beurteilung erhalten haben – Thomas Mann muss Die Blendung als Manuskript gar nicht erst gelesen haben, sondern erst nach der Publikation von 1936. Von Hermann Kesten hat Elias Canetti nach der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 bereits am 25. Mai 1933 die Rückgabe des Roman-Manuskripts verlangt.317 Ein halbes Jahr zuvor, am 30. November 1932, hatte er sich für die Beurteilung eines Textes, wahrscheinlich eines Theaterstücks bedankt und hoffte nun, dass Hermann Kesten den 580-seitigen Roman ebenfalls irgendwann rezensieren würde. „Um beim Thema zu bleiben: Auch der Roman dessen Länge Sie abschreckt, behandelt die Geschichte eines verlorenen Verstandes. Der Träger ist interessant, sein Verstand noch mehr, wichtig war mir nur die Konsequenz, mit der er ihn verliert.“318 Aus dem Hause Canetti/Taubner müssten somit in den Jahren 1931 und 1932 mindestens zwei Romane und ein Theaterstück an einen oder mehrere berühmte Schriftsteller gegangen sein. Zu Veza Canettis Kaspar-Hauser-Roman hat sich bis heute keine Korrespondenz finden lassen.319

      Warum Elias Canetti ausgerechnet an Hermann Kesten im Jahre 1963 geschrieben hat,320 dass Veza Canettis geistiger Anteil an Masse und Macht ebenso gross sei wie sein eigener, bleibt in diesem Zusammenhang Geheimnis.

      Elias Canetti notiert 1981 zur Entstehung des Romans Die Blendung: „Diese Einbildung von mir, dass ich zum ersten Mal den Irrsinn erschöpfend dargestellt habe. Ob das nicht im ‚Lenz‘ auch schon da sei, und einem da nicht viel näher ginge? Gespräch mit Veza über den Roman, gegen den sie einen Groll hatte. (Die Leichtigkeit später, mit der sie das stenografische Original-Manuskript wegwarf, nachdem der Roman als Schreibmaschinen-Manuskript bestand. Wie ich in der Kohlenkiste drauf kam und einen Teil rettete.) Für sie seien die dramatischen Elemente des Romans das Beste daran. Das Verhör auf der Wachstube, ‚Privat-Eigentum‘ betitelt, hielt sie für das Beste des Buches.“321

      Spekulation muss bleiben, ob allenfalls der Kaspar-Hauser-Roman in den Roman Die Blendung eingearbeitet wurde. Peter Kien, der sprachlose


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