Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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hinauskam. Es ist mir heute ein Rätsel wie die Kinder der Sache nicht gewahr wurden. Jedenfalls hat mich mein Schuldgefühl als Buddhist den Instinkten nachgegeben zu haben, dazu gebracht zwei Dinge zu unternehmen um mich frei zu machen. Ich beschleunigte meine Anstrengungen nach Palästina zu fahren und schrieb auch einen Brief nach Ceylon um Aufnahme in ein Kloster (Alice hatte die ernstliche Absicht Geld aufzutreiben um in Österreich eine Farm zu kaufen, wo ich mit ihrer Familie meiner Landneigung leben könnte). Aus all dem wurde nichts und ich konnte rechtzeitig nach Palästina fahren.“286

      Was Fredl Waldinger hier nicht erwähnt287, ist, dass er nicht alleine nach Israel migriert ist, sondern mit seiner Frau, der Wiener Individualpsychologin und Ärztin Rosa Seidmann (1897–1970), sie hatten 1931 geheiratet. Rosa Seidmann gilt als Schülerin von Alfred Adler, sie wird im Band von Clara Kenner Der zerrissene Himmel: Emigration und Exil der Wiener Individualpsychologie mit einem kleinen Porträt vorgestellt.288 Dieses Porträt ist insofern von Bedeutung, da es einen Bogen schlägt zu einer weiteren Individualpsychologin adlerscher Prägung, nämlich Alice Rühle-Gerstel, zu deren Theorien das Werk Veza Canettis intertextuell nachweislich eine grosse Nähe aufweist.289 Der deutsche Individualpsychologe Paul Rom schreibt in diesem Porträt der Ärztin Rosa Seidmann, dass er bei seiner eigenen Migration 1933 nach England Der Weg zum Wir von Alice Rühle-Gerstel in Deutschland zurücklassen musste wie andere Bücher auch und dass er genau dieses Buch dann 1961 anlässlich seines Besuchs bei Rosa Seidmann in Jerusalem wiedergefunden habe.290 Die Verflechtung des Buches Der Weg zum Wir von Alice Rühle-Gerstel aus dem Jahr 1927 mit dem Werk von Veza Canetti kann exemplarisch anhand der Erzählung Pastora von Veza Canetti gezeigt werden, wie ein Auszug aus meiner Dissertation aus dem Jahre 2017 zeigt:

      „Pastora hat viel Mut bewiesen, das ihr feindlich gesinnte System zu unterlaufen und ihre Liebe selbst bestimmt zu leben, ist damit aber tragisch gescheitert. Marxisten und Individualpsychologen wie Alice Rühle-Gerstel hätten Pastoras Frage ‚Habe ich denn recht und alle haben Unrecht?‘ mit Ja beantwortet. Die spätfeudalistische Gesellschaft in der Erzählung hatte Pastoras Frage, allerdings bereits bevor sie gestellt wurde, mit Nein beantwortet. Pastora bleibt damit als einziger offener Weg der Gang ins Kloster und der auch nur, weil sie da für den Aufenthalt zahlen kann. ‚Der Weg zum Wir‘ und damit in eine klassenlose Gesellschaft, in der Frauen und Männer gleichberechtigt nebeneinander leben, bleibt für Pastora verschlossen. Weitsichtig wie Veza Canetti hat auch Alice Rühle-Gerstel im 1927 erschienenen Band ‚Der Weg zum Wir‘ geschrieben: ‚Die Möglichkeit zum Mut stösst bald an die Grenze der gesellschaftlich präformierten Möglichkeiten und kann nur im Zusammenhang mit diesen gefördert werden.‘ Diese Erkenntnis sei gemäss einer Aussage des Individualpsychologen Alfred Adler aber eine belastende Lebensaufgabe, schreibt Alice Rühle-Gerstel: ‚Voranzugehen beim Abbau des Strebens nach Macht und bei der Erziehung zur Gemeinschaft.‘ Kurz zusammengefasst gehe es dem sich gesellschaftlich verantwortlich fühlenden Menschen oder Psychologen – als derjenige, der es wagt, voranzugehen – um die Bereiche Heilen und Bilden. Heilen von den Neurosen, die durch die Ungleichheit entstanden seien, um daran anschliessend ein Bilden überhaupt möglich zu machen. Bei Pastora läuft dieser Vorgang in die genau umgekehrte Richtung. Krankheiten, die durch die gesellschaftliche Zurücksetzung entstanden sind und nicht adäquat auch psychologisch behandelt werden, werfen sie jedes Mal weiter zurück in eine totale Abhängigkeit von der Familie des Geliebten oder der Gesellschaft allgemein. Nach Alice Rühle-Gerstel wäre dieses zugleich gesellschaftlich Gebunden- und Freisein mittels der materialistischen Dialektik und der Kompensationstheorie (Teil der Individualpsychologie) aufhellbar. Marxismus und Individualpsychologie seien dadurch bestens geeignet, Menschen Mittel und Wege zu weisen, sich selbst zu befreien. Genau dieser ‚Handlanger zur Befreiung‘ fehlt Pastora, geblendet von ihrer Liebe zu Don Anibal deutet sie die Zeichen falsch. ‚Ins Zimmer gewendet stand Pastora und flocht mit weichen Fingern den Zopf, der über die roten Nelken auf dem Fensterbrett fiel, und es sah aus, als wüchsen sie aus ihren Haaren heraus. Das weisse Kleid liess die Schulter sehen und die Linie des Halses. Don Anibal lachte gut gelaunt und schwang grüssend den Handschuh hinauf, dann bog er rasch um die Ecke und versäumte den Anblick der Freude, deren Ursache er war.‘ Das von Pastoras nacktem Rücken gebildete weisse Kreuz, geschmückt mit den roten Nelken als Symbol für den Sozialismus, scheint seiner Trägerin in dessen Zwiespältigkeit wenig bewusst zu sein, wie ihr anschliessender Griff zur Rotweinflasche beweist, der den schönen Moment noch etwas verlängern soll. Die Ernüchterung folgt für Pastora postwendend mit der Ankündigung der bevorstehenden Migration der Herrschaften nach Amerika, dafür, dass Pastora nicht dabei sein wird, sorgt die Señora Consuelo Gonsalez y Soto geschickt vor. Der Mut, der Pastoras Verhalten ausgezeichnet hatte, hat sich in sein Gegenteil gekehrt, Demut wird von ihr beim Eintritt ins Kloster verlangt: ‚Demut ziemt uns‘, erklärt die Nonne. Alice Rühle-Gerstel im fiktiven Streitgespräch mit einem Marxisten: ‚Ihr sagt, wir wollten euch zur Demut erziehen. Nein, wir sind keine Christengläubigen. Wir wollen euch zum Mut erziehen.‘“291

      Veza Canetti hat in ihrem Werk aber nicht nur die Grundideen des Bandes Der Weg zum Wir diskutiert, sondern die verschiedenen Frauenkategorien aus Alice Rühle-Gerstels 1932 erschienenen Hauptwerk Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz. 292 Der Fokus ihrer mit literarischen Mitteln getätigten Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse liegt auf Rühle-Gerstels Kernsatz: „Die Frauen sind recht eigentlich die Proletarier des Geschlechts.“293

      Was spezifisch auffällt, ist, dass sich Veza Canetti auch mit Sinn und Unsinn der fürsorgerischen Unterbringung von Proletarierkindern auseinandergesetzt hat. Damit greift sie ein Thema auf, das die beiden Frauen der Brüder Waldinger – nämlich die ein Kinderheim führende Ärztin und Psychologin Rosa Seidmann und die Kinderärztin Clara Kossmann – beruflich sehr beschäftigt haben muss. Es ist zudem ein Thema, dessen sich Alice Rühle-Gerstels Ehemann Otto Rühle, der Pädagoge und spätere sozialistische Politiker sowie Kriegsgegner, bereits 1911 mit dem Band Das proletarische Kind angenommen hatte.

      Otto Rühle fordert darin die Gesellschaft dazu auf, die Mädchen zu selbstständigem Handeln und freiem Denken zu erziehen und zu Charakteren, die zielbewusst dem Edlen zustreben.294 Was Veza Canetti mit kulturgeschichtlichem Bezug zu Schiller und Kant – die erhabenen Zeichen der Seele ins Gesicht gebrannt – in der Erzählung Der Zwinger sarkastisch persifliert. Das Heimkind Helli Wunderer wird vom Mob, den Komiteedamen, als sittlich Gefährdete buchstäblich zurück in den Zwinger, das Kinderheim, geprügelt. Otto Rühle hatte entsprechend zu solchen Vorgängen notiert: „Besonders in der Behandlung von Mädchen, die als sittlich Gefährdete oder Prostituierte in Fürsorgeerziehung kommen, feiert die Lieblosigkeit – vereint mit muckerisch-prüdem Pharisäismus – wahre Orgien. Man hält sie zwei bis sechs Jahre wie Gefangene fest, als ob sie mindestens einen Totschlag begangen hätten, und spickt die sonnenlose Öde ihres verfehlten Daseins täglich mit tausend ausgesuchten Bosheiten.“295 Die Erzählung Der Zwinger wurde in abgemilderter Form in den Roman Die gelbe Strasse eingearbeitet und ist posthum separat nicht mehr publiziert worden.296

      Nicht nur das Denken vieler Intellektueller – seien das Psychologinnen, Medizinerinnen oder Dichterinnen – wurde von der Individualpsychologie Alfred Adlers geprägt, sondern es wurden auch breitere Bevölkerungskreise – dank der Volksbildungspolitik der Austromarxisten – mit den Ideen Alfred Adlers vertraut gemacht. „Alfred Adler leitete um 1926 einige Erziehungsberatungsstellen und hielt Kurse, Seminare und Vorträge vor Lehrern, Ärzten, Pädagogen und interessierten Laien. Es gab am Pädagogischen Institut der Stadt Wien vom Wintersemester 1923 bis zum Sommersemester 1926 wöchentlich Vorlesungen und wurde dort 1924 zum Professor ernannt. Ferner veranstaltete er Vortragszyklen, Seminare und Vorlesungen in der Wiener Volkshochschule Volksheim, in anderen Volkshochschulen, in der Urania, bei dem Arbeiterverein Kinderfreunde und in Arbeiterbildungsvereinen.“297 Als Klassiker der Individualpsychologie gelten die Werke, die Adler in den 20er Jahren veröffentlicht hat, zum Beispiel das Buch Menschenkenntnis, in dem er psychische Störungen exemplarisch auf das fehlende Gemeinschaftsgefühl zurückführt.298

      Bezüglich Veza Canetti ist ein weiterer Schüler von Alfred Adler von Interesse, nämlich Manès Sperber (1905–1984). Sperber ist nicht nur Schüler Adlers, sondern auch dessen Sekretär. Seine Jugend und Adoleszenz verbringt


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