Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler
macht auf seine/ihre Situation, sie als Druckmittel für sein Umfeld verwendet. Dass hinter dieser Inszenierung des Selbstmorddarstellers weit mehr sein kann, beschreibt Veza Taubner in der 1933 veröffentlichten Erzählung Der Kanal. Einerseits wird das schlecht vermittelbare Dienstmädchen Emilie Jaksch von der Dienstbotenvermittlerin Hatvany direkt dazu aufgefordert, sich doch umzubringen; andererseits weiss die Emilie nicht recht, wie das gemeint sein könnte, muss indessen feststellen, dass es um nichts, das sie trägt, schade ist – die Jacke, die Tasche, alles alt. „‚Und was das Leben anlangt, das man wagt, so kann sich ein armes Mädchen es eben nicht leisten so weit zu denken‘“, so der Kommentar als Zitat aus dem Off. (GSt 114) Gezielt springt Emilie dann tatsächlich vor den Augen des Wachmannes ins Wasser. „Emilie stak im Wasser, hilflos, rettungslos, wehrlos, sie hielt die Hand nach oben und winkte, aber gleichzeitig war sie sich bewusst, dass kein Mensch sie sehen würde, dass kein Mensch sie jetzt beachtete, wo sie fast tot war, wenn man sie doch früher nicht beachtet hatte, da sie noch lebte.“ (GSt 114) Emilie wird durch den Wachmann gerettet und kommt wie andere Dienstmädchen, die einen Selbstmord verübt hatten, auch ins Dienstbotenheim. Der Wachmann stirbt an Verkühlung, der korrupten Hatvany wird die Dienstbotenvermittlung geschlossen, da sie Dienstmädchen in den Tod getrieben habe. Der Selbstmordversuch hat aber nicht nur negative Folgen, wie es wiederum ein Kommentar aus dem Off auf den Punkt bringt, dieses Mal nicht als Zitat: „Ja, so geht es zu. Wer das Leben wagt, bekommt Kost und Quartier, und wenn’s gut geht, auch noch einen Posten.“ (GSt 116)
Einen vollkommen anderen Verlauf nimmt das Sich-Umbringen beim Dichter in der erst posthum publizierten Erzählung Veza Canettis Die Flucht vor der Erde. Die Enttäuschung über die Partnerin, über die Solidarität unter Menschen und über die Gesellschaft als Ganzes bringt den Wissenschaftler und Erfinder dazu, sich unter dem Deckmantel der Erforschung des Weltraumes den Bau einer Rakete finanzieren zu lassen, mit der er sich sein geheimes Ziel erfüllen kann, „(…) jedem Wiederwerden auf ewig zu entrinnen.“ (DF 47) Der Bau dieser Maschine oder Rakete wird von der Erzählerin als „raffinierteste Form der Selbstvernichtung“ bezeichnet. Gleichzeitig kommentiert auch hier eine Stimme aus dem Off – gleichsam aus psychologisch ironisierender Perspektive: „Möchte mit Beendigung des fürchterlichen Meisterwerks auch sein Wahn zu Ende sein.“ (DF 47) Der sogenannt krankhafte Wahn, aus dem der Protagonist sich befreien möchte, ist die Empathie. Die Erzählerin kommentiert: „Dieser Unglückliche quälte sich nicht nur mit seinem eigenen Dasein ab, sein kranker Geist zwang ihn, sich in alle Daseinsformen vom kleinsten Meerestier bis zum Menschen hineinzuversetzen und alle Martern zu ertragen, die jedes einzelne Dasein zu gewärtigen hatte.“ (DF 45) Die Rakete als Mordinstrument wird gewählt, weil der Wissenschaftler – ohne Ziel frei ins Universum hinausgeschossen – die Möglichkeit erhält, nach seinem Tod nie mehr auf der Erde wiedergeboren zu werden. „Und so gewährte ihm auch der Gedanke an den Tod keinen Trost, weil er sich mit grausamer Logik erklärte, wie er nach seinem Tode immer wieder in einer Form auf Erden zu sein verdammt sein würde, obwohl das Dasein ihm verhasst war.“ (DF 45 f.) Ob der Wissenschaftler allenfalls Buddhist ist, ein Indiz dafür wäre seine Furcht vor der Wiedergeburt, erfährt der Leser nicht.
C2.2 Hans Asriel
Der einzige Felone, von dem bekannt ist, dass er Selbstmord verübte, ist der gemeinsame Freund von Veza und Elias Canetti, Hans Asriel. Ob dies im Zusammenhang steht mit einer der von Elias Canetti eingebrachten Erklärungsmöglichkeiten, wie nicht ausgelebte Homosexualität oder eine allfällige Schizophrenie, steht zur Diskussion. Erwägenswert wäre auch ein Zerbrechen an der Tatsache, dass die von ihm einst geliebte Veza Taubner nicht nur mit seinem Gegner aus dem Karwendelgebirge, Elias Canetti, verheiratet war, sondern dieser mit der Publikation des Romans Die Blendung im Jahre 1936 zudem einen ersten Erfolg als Schriftsteller verbuchen konnte. Leider äussert sich Elias Canetti nicht dazu, aus welch konkreten Gründen Alice Asriel mit all ihren erwachsenen Kindern nach Paris migriert war, wo Hans Asriel sich im Jahre 1936 mit einem Sturz aus der gemeinsamen Wohnung umbrachte. Durch die Lektüre von Theodor Waldingers Lebenserinnerungen Zwischen Ottakring und Chicago werden die Rahmenbedingungen der Migration der Familie Asriel nach Paris – die sonst im Dunkeln verblieben wäre – etwas deutlicher. Theo Waldinger, der 1938 über Paris in die USA ins Exil ging, suchte in Paris sofort den Kontakt zu Alice Asriel, mit der Veza Taubner befreundet war, er schreibt: „Frau Asriel hatte mit ihrem Gatten in Wien in einer sonderbaren Ehe gelebt, die, wie es bei den sephardischen Juden üblich war, durch Vermittlung zustande gekommen war und schliesslich mit einer Trennung enden sollte. Sie hatte drei Kinder, Hans, Renée, die Nuni genannt wurde, und den geistig zurückgebliebenen Walter. Nach ihrer Scheidung verliess sie Wien mit ihren Kindern, zog nach Frankreich und liess sich im Pariser Arbeitervorort Levallois-Perret nieder. Sie gab Sprachunterricht und wurde finanziell von einer reichen Schwester unterstützt, die in England lebte. Alice Asriel war eine unendlich hilfsbereite Frau, der ein schweres Schicksal beschieden war. Um der Tragik ihres Wiener Lebens zu entrinnen, war sie nach Paris gegangen.“255 Ob wirklich Alice Asriels Scheidung der Grund für die Migration nach Frankreich war oder ob allenfalls ein zu gefährliches kommunistisches Engagement in Wien von ihr oder ihrem Sohn Hans im austrofaschistischen Ständestaat den Ausschlag gegeben haben könnte, ist nicht geklärt.
Veza Canetti wird sich am 20. März 1934 bei Elias Canettis Bruder Georges erkundigen: „Aber warum schimpfen Sie immer so über mich, wir beide können uns doch schmecken? Zu Renée und zu Tante Bellina?“ (BaG 31)256
Elias Canetti schreibt 1978 in den Unpublizierten Lebenserinnerungen zusammenfassend zu Hans Asriel: „Ich will versuchen, ihn jetzt zu verstehen, ihm bin ich wirklich etwas schuldig geblieben, wohl gab ich mir anfangs und noch eine ganze Weile danach grosse Mühe mit ihm, aber ich habe nie begriffen, wovon er bedroht war. Er wollte, nach einer kurzen Periode der Überlegenheit durch seine Lokalkenntnis Wiens diese Stellung auch weiterhin beibehalten, aber ich gestand sie ihm nicht zu und das führte zu seinem Unglück.“257 Wie sehr auch dies nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen sein kann, zeigen die vielen Versuche, ein Porträt von Hans Asriel zu zeichnen, in den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis. Leider sind die Briefe von Hans Asriel an Elias Canetti in dessen Nachlass nicht aufzufinden, was leicht einen ungefilterten Blick auf die Beziehung erlaubt hätte.
Ganz anders als Elias Canetti äussert sich Theo Waldinger zu Hans Asriel: „Ihr (Alice Asriels, Anm. va) Sohn Hans, ein gleichermassen intelligenter wie verschrobener Mensch, konnte in Paris nicht recht Fuss fassen. Eine Zeitlang war er bei linksextremen Organisationen aktiv, dann setzte er seinem Leben durch einen Sprung aus dem Fenster eines Hochhauses ein Ende.“258
Der Selbstmord von Hans Asriel hinterlässt seine Spuren auch in einem Brief Veza Canettis an Georges Canetti in Paris: „Liebster Georg! Die schreckliche Nachricht hat mich offenbar doch tiefer getroffen als ‚seine Schwester‘ (Renée Asriel, 1910–1942, Anm. va), denn seit zwei Tagen bin ich verstört und jetzt erst hab ich der heldenhaften kleinen Frau schreiben können. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns schrieben, was der arme Hans in seiner Verwirrung mit Ihnen gesprochen hat. Jeder Fetzen eines Satzes würde uns interessieren. Der Gedanke in Ihrem Brief, Canetti könnte sich Vorwürfe machen hat mich ein wenig mit den Gedanken Ihres früheren Briefes versöhnt. In der Tat, er war furchtbar unglücklich über diesen bestimmt unvermeidlichen Selbstmord und erklärte mir, er sei der Mörder. Was Ihre Gedanken in Ihrem vorletzten Brief anlangt, so nehme ich an, dass Sie sie nie gedacht haben. Anders könnt ich Sie nicht achten. Ich liebe Sie nach wie vor, aber ich werde Sie nicht achten, wenn Sie auf einem einzigen dieser Gedanken beharren. Ihr Bruder, der gütigste und nobelste Charakter den ich kenne konnte drei Nächte nicht schlafen. Dann beruhigte er sich und wollte, dass ich Ihnen schreibe er hätte den Brief nie bekommen, ich hätt ihn unterschlagen. Denn er wollte nicht, dass Sie Ihren besten Freund verlieren. (…) Und nochmals bitte mehr über Hans Asriel und seine Mutter.“ (BaG 62)
Wieso Elias Canetti auf die Idee kommt, er sei der Mörder von Hans Asriel, lässt Raum für viele Spekulationen. Hat er Hans Asriel Mitte 20er Jahre als Freund von Veza Taubner abgelöst oder hat sich Hans Asriel selbst in ihn verliebt, wie er irgendwie zu ahnen glaubt? Eine andere Perspektive auf den Tod von Hans Asriel nimmt Veza Canetti ein, wenn sie über Elias Canetti schreibt: „Denn er wollte nicht, dass Sie