Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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von Veza Taubner und Elias Canetti notiert dieser im Jahr 1990 in den Aufzeichnungen zu Vezas Schreiben. Das Schreiben habe sie auf einer kleinen Schreibmaschine, „von der sie sich nie mehr trennte“322, besorgt. „Da schrieb sie mit einer Hand rascher als die meisten mit zwei. Sie bestand darauf, dass ich ihr diktiere und wenn ich den Versuch machte, durch Arbeit mit einer Sekretärin ihr diese Mühe zu ersparen, stellte sie sich gekränkt. Ich hätte kein Vertrauen zu ihr, ich wolle nicht, dass sie wisse, was ich schreibe, – sie stellte sich so hartnäckig an, dass ich jede Sekretärin nach einigen Wochen aufgab und wieder ihr diktierte. Sie war so glücklich darüber, dass ich mir keine Vorwürfe machte, aber ausserdem war es eine Freude, weil sie an allem teilnahm, ohne sich in die Arbeit einzumischen und mir immer das Gefühl gab, man schreibe etwas Wichtiges, das niemand anderer auf solche Art fertigbrächte.“323

      Was nun allerdings einer kleinen Sensation gleichkommt, ist, dass Veza Taubner schon vor 1930 erfolgreich Texte verfasst haben muss. Wo und unter welchem allfälligen Pseudonym diese Texte publiziert wurden, ist bis anhin unbekannt. Elias Canetti notiert dazu am 22. August 1930: „(…) ihr früherer Erfolg, der zweifellos sei, rühre nur daher, dass ihre Schreibweise dem Zeitgeschmack entgegenkomme (…)“.324 Die früheste Publikation, die Veza Taubner zuzuordnen ist, datiert aber auf den 29. Juni 1932 mit der Erzählung Der Sieger in der Arbeiter-Zeitung. Die früheren Erfolge, wie Elias Canetti das Schreiben Vezas vor dem Jahre 1930 bezeichnet, bedeutet eine schriftstellerische, allenfalls journalistische Produktion von Texten – vor den bis anhin bekannten Publikationen in der Arbeiter-Zeitung –, und weist durch die Formulierung ihre Schreibweise dem Zeitgeschmack entgegenkomme auf ein eher populäres Medium325 hin. Die früheren Erfolge werfen eine ganz zentrale Frage auf: Was war vor Kaspar Hauser?

      Elias Canetti stellt sich noch 1990 die Frage, ob Veza Canetti sich als Dichterin gesehen hat oder nicht. Er notiert dazu in Abgrenzung zur literaturwissenschaftlichen Forschung, die Vezas Behinderung hin und wieder gleichgesetzt hatte mit den unterfüllten Wünschen der Autorin: „Goethes Prometheus, ein Gedicht, das sie über alles liebte, schien ihr angemessen für einen Dichter. Sie war, wie sie dachte, kein Dichter, auch als sie sich nach einigen Jahren zum Schreiben gedrängt fand, hätte sie sich (nicht) als Dichter bezeichnet. Das war, wie sie dachte, mein Teil und sie empfand eine Verpflichtung dafür zu sorgen, dass es mein Teil blieb. Sie ärgerte sich, wenn ich das Wort, das für sie das höchste Denkbare enthielt, auf sie bezog und sagte häufig: ‚Ich bin ein kleiner Schreiber.‘

      In allem war aber nichts von der Verkürzung eines Arms zu spüren. Diesen Irrtum hatte sie durch eigene Kraft richtig gestellt und es wäre eine dummdreiste Verfälschung gewesen, irgendetwas, was sich in ihr abspielte, darauf zu beziehen. In dieser Disziplin – man kann es nicht anders nennen – hat sich zeitlebens nie etwas bei ihr geändert. Sie fühlte sich intakt und war es aus innerer Kraft geworden. Ich fühlte solchen Respekt vor ihrer nie nachlassenden Kraft, die sich ohne jedes äusserliche Auftrumpfen ganz im Stillen abspielte, dass ich ihre Haltung übernahm.“326 Diese Passage entspricht auch der Einschätzung, die Elias Canetti zu Veza Canettis Behinderung präsentiert: „(…) statt des fehlenden linken Unterarms trug sie eine Prothese. Ich schreibe es jetzt nieder, worüber ich ein Leben lang schwieg. Von 1924, als wir uns kennen lernten, bis zu ihrem Tode 1963, 39 Jahre später, haben wir nie, kein einziges Mal davon gesprochen. Ich habe die Stelle des Arms, an die die Prothese sich fügte, nie gesehen, auch nicht die Prothese von innen, die sie sich Morgen für Morgen anschnallte. Der Ärmel hing nicht etwa lose herab, wie von augenlosen Bekannten behauptet wurde, sondern war von etwas Hartem erfüllt, über den er sich spannte. Die Finger der Prothese steckten in einem Handschuh, den sie immer trug. Damit das nicht zu sehr auffiel, steckte auch die rechte natürliche Hand (wenn sie nicht gerade bei sich zuhause unter nahen Freunden war) in einem Handschuh. Sie hatte es gelernt, sich mit vollkommener Natürlichkeit zu bewegen. Es gab Menschen, die sie während Jahren kannten und nichts von einer Prothese bemerkten. Allen fiel auf, dass sie immer Handschuhe trug, und so wenig vermutete man den wahren Grund dafür, dass ich manchmal später in England danach befragt wurde. (…) Sie war in allen manuellen Dingen äusserster Geschicklichkeit, sie nähte, sie schrieb, sie malte, als wäre es nichts.“327

      Diese Einschätzungen Elias Canettis hinsichtlich der Stärke, die aus einer Schwäche erwächst, machen die grosse Nähe der beiden Autoren im Urteil über die Wechselwirkung zwischen Behinderung und Lebenstüchtigkeit deutlich. Denn auch Veza Canetti schätzt in der autobiographisch konnotierten Erzählung Drei Viertel die Behinderung von Menschen gerade im künstlerischen Bereich als einen Mehrwert oder eine Stärke ein.

      Beim Urteil darüber, wer nun ein Dichter oder eine Dichterin sei, hat sich Elias Canetti womöglich vom viel dokumentierten Understatement Veza Canettis zu sehr leiten lassen und ihre Tätigkeit zu wenig explizit als die einer Dichterin benannt. Noch in den 30er Jahren hat sich Veza Canetti ohne Scheu als Schriftstellerin bezeichnet. In der Beglaubigung der Staatsbürgerschaft durch die Stadt Belgrad aus dem Jahr 1934 steht für Venetiana Taubner unter Beruf Schriftstellerin und drei Jahre später, 1937, schreibt Veza Canetti an Elias’ Bruder Georges: „Und dennoch darf ich nicht auf die Redaktion hinauf, dabei geh ich nur gern hin, weil man mich dort wie eine Schriftstellerin behandelt, ganz Respekt und Konvention.“ (BaG 91)

      Völlig anders als in den 30er Jahren äussert sich Elias Canetti 1968 – die Zeiten hatten sich auch geändert – im Schweizer Radio in einem Interview: „Sie (Veza Canetti, Anm. va) war selbst Schriftstellerin, sie verstand etwas vom Metier.“328

      In den unpublizierten Kapiteln aus Die Fackel im Ohr wird Veza Canettis diesbezügliche Professionalität noch ein wenig präziser erörtert und akzentuiert: „Alles was sie gebraucht hätte (Elias Canetti meint hier den Erfolg als Dichterin, Anm. va), hat sie mir vorausgesagt. Wer bin ich, dass ich dieses Leben angenommen habe. Wer hat ein Recht auf etwas, das auf alle Fälle mehr ist, als er je sein kann? Wenn eine Spur von Wahrheit sich in meinen Worten findet, so entstammt sie ihr.“329 Ein eigentlicher Höhepunkt im Urteil über Veza Canetti findet sich in den Jahre später entstandenen unpublizierten Kapiteln aus Das Augenspiel, hier notiert Elias Canetti beim Start ins Kapitel Der Zwerg: „Mein eigentlicher, mein intimster literarischer Freund war Veza.“330 Wer sich über viele Jahre immer wieder in grosser Selbstverständlichkeit nach dem Schreiben von Veza Canetti erkundigt, ist Hermann Broch. Er schreibt beispielweise 1934: „Ich bin betrübt, von Ihnen und Canetti überhaupt nichts zu hören. Was machen die Stücke – Alles Herzliche Ihres H. B.“331

      Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im Leben von Veza Canetti beziehungsweise Veza Taubner spielt der Salon ihrer Tante Camilla Spitz. Er steht für die Verbindung zwischen der Künstler- und Dichterszene Wiens und dem Familienkosmos der Calderons.

      Auf halbem Weg von der Wohnung der Familie von Rahel Taubner-Calderon in der Matthäusgasse 5 zur Familie ihrer Schwester Camilla Spitz-Calderon an der Seilerstätte liegt der Stadtpark. Hier muss Veza Taubner als Grundschulkind gespielt haben, wie Elias Canetti notiert. An der Seilerstätte gegenüber dem Ronacher-Theater wird 1907 Veza Taubners Cousine Veneziana Spitz geboren und dann 1911 Elise, die spätere Lily Spitz. Elias Canetti erzählt in den Unpublizierten Lebenserinnerungen vom Stadtpark, „wo sie als kleines Mädchen mit Reifen gespielt und ‚Peter‘ in seinen Sandalen verzückt zugeschaut hatte.“332 Genau diese Geschichte erzählt Peter Altenberg selbst in der Reihe mit dem Titel Revolutionär und darin in der Kurzerzählung Der Grieche mit dem Untertitel Der Revolutionär flieht aus dem Leben heraus. In dieser Erzählung hat das Mädchen ein sehr blasses Gesicht und aschblonde, lange Haare, es ist dreizehn Jahre alt und spielt mit einem Reifen im Stadtpark. Als es sich erschöpft vom Spiel neben den Griechen setzt, der ihm den Namen Diana gibt, erhält es einen Kuss auf die Stirn.333

      Elias Canetti erzählt weiter von einem Gespräch, wo Veza Canetti erwähnt, dass „Peter Altenberg“ ihr „Lokalkolorit“ gewesen sei.334 Dem eher skeptischen Elias Canetti hätte sie dann erklärt: „Immerhin sei sie nicht die Einzige, die ihn für einen Dichter hielte. Er war aber – schon gar damals – nichts für mich, ich hatte mich für Nestroy zu erwärmen begonnen, drei Minuten von ihrer


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