Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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von Veza Taubner immer mit einem J. zwischen Namen und Vornamen angegeben, was heisst, dass sie die Söhne von Josef M. Calderon sind, für die Töchter wird dieses Kürzel nicht verwendet. Im Gegensatz zum Absender bleibt die Unterschrift unter den Briefen, ob mit Maschine oder handschriftlich, aber stets Veza Canetti, Veza, Venetiana oder Venetiana Canetti. Erst am 3. März 1963 – also wenige Wochen vor dem Tod – ändert sich dies und Veza Canetti unterschreibt einen Brief an Dr. Suchy mit (Mrs) V. J. Canetti.474

      Dazu passt gut, dass Elias Canetti, sich selber oder jemand anderen in den Unpublizierten Lebenserinnerungen unter dem Stichtag „Wien, September 1929“ zitierend, notiert: „‚Eine Geschichte schreiben: Ich auseinandergespalten in fünf, sechs Figuren. Sie muss in eine groteske Gemeinschaft dieser fünf, sechs münden, um zu beweisen, wie lächerlich die weitverbreitete Fiktion von der Einheit der Persönlichkeit ist.‘“475

      In Die Fackel im Ohr erläutert Elias Canetti, Veza sei der Meinung gewesen, seine Mutter schreibe und publiziere heimlich unter einem Pseudonym. „‚Sie hält uns alle für Schwätzer. Mit Recht. Wir bewundern die grossen Bücher und reden nur immer davon. Sie macht sie und verachtet uns alle so sehr, dass sie zu niemandem davon spricht. Einmal werden wir’s erfahren, unter welchem Pseudonym sie veröffentlicht. Dann werden wir uns schön schämen, dass wir’s nie gemerkt haben.‘“476 Mit Bestimmtheit trifft das, was Elias Canetti Veza über seine Mutter sagen lässt, aus heutiger Perspektive für das Schreiben von Veza Canetti selbst zu. Nicht nur hinsichtlich ihres Publizierens unter Pseudonym seit 1932, sondern auch in Bezug auf die erfolgreichen – wie Elias Canetti sie nennt –, jedoch heute unbekannten Publikationen davor. Aber auch der zweite Teil dieser kurzen oben zitierten Passage in Die Fackel im Ohr hat es bezüglich der Parallele zu Veza Canetti in sich, wenn Elias Canetti den Dialog mit Veza folgendermassen wiedergibt: „Ich blieb dabei, dass das unmöglich sei, ich müsste es bemerken, wenn sie schreibe. ‚Sie tut es nur, wenn sie allein ist. In den Sanatoriumszeiten, wenn sie sich von euch zurückzieht. Sie ist dann nicht wirklich krank. Sie verschafft sich bloss Ruhe zum Schreiben. Sie werden noch einmal staunen, wenn Sie die Bücher Ihrer Mutter lesen!‘“ Gleich mehrfach erwähnt Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen, dass Veza in schweren Zeiten von ihrer Familie zur Erholung auf die Raxalpe, das heisst auf den Knappenhof (nomen est omen), geschickt wurde. „Ihre Mutter pflegte sie von Zeit zu Zeit hinzuschicken, wenn die Atmosphäre in der Wiener Wohnung so gespannt war, dass sie für ihr seelisches Gleichgewicht fürchtete. Sie blieb vielleicht eine Woche, selten länger: im Frühling war das Erste, was sie unternahm, ein Besuch auf dem Knappenhof, im Herbst war es das Letzte.“477

      Veza Canetti selbst begründet ihre Pseudonymwahl mit dem etwas bärbeissigen Feuilletonredakteur Dr. König: „(…) schrieb in Wien für die Arbeiter Zeitung unter drei Pseudonymen, weil der sehr liebe Dr. König, der wieder eingesetzt ist, mir bärbeissig klarmachte‚ ‚bei dem latenten Antisemitismus kann man von einer Jüdin nicht so viele Geschichten und Romane bringen, und Ihre sind leider die besten‘.“478

      Das Pseudonym Veza Magd ist insofern speziell, da nur der Nachname von Veza Taubner ausgewechselt wurde. Es ist zudem das einzige Pseudonym, das erstens, soweit bekannt, privat479 verwendet wurde, zweitens auch für Publikationen im austrofaschistischen Ständestaat eingesetzt sowie drittens nach dem Zweiten Weltkrieg für die Übersetzung des Romans Die Kraft und Herrlichkeit von Graham Greene im Jahre 1947 ein weiteres Mal seine Dienste tat. Wie bereits von diversen Literaturwissenschaftlern angemerkt, ist Magd für Veza Canetti nicht einfach ein Pseudonym, sondern kann in mehrfachen Bezug gesetzt werden zur Vorliebe der Autorin für Geschichten über Dienstmädchen und Unterschichtsfrauen ganz allgemein. In diesen Geschichten schreibt Veza Canetti über die Schwächen der Dienstmädchen selbst, aber auch über das gesellschaftliche System, das den Dienstbotinnen wenig Raum für eine Verbesserung ihrer Lebenssituation lässt. Veza Canetti ordnet sich damit in den zeittypischen Diskurs von Herrschaft und Knechtschaft480 ein, ihr Standpunkt ist ein dezidiert sozialistischer oder eben austromarxistischer.481 Sehr viel wurde darüber spekuliert, was der Name Magd für Veza Taubner selbst bedeutet haben könnte. Retrospektiv wurde dieses Pseudonym stets als ein Hinweis darauf verstanden, dass sich Veza Canetti als dienende Magd von Elias Canetti gesehen haben muss. Dieser Blick der Rezensenten auf das Pseudonym Magd wurde erzeugt durch den Ruhm, den Elias Canetti erst nach dem Tod von Veza Canetti erlangte, und insbesondere auch mit dem Seitenblick auf den Nobelpreisträger von 1981. Magd als Pseudonym wurde aber von Veza gewählt, als sie noch Taubner hiess und Elias Canetti gerade sein Studium der Chemie abgeschlossen hatte und sich mit Übersetzungen aus dem Englischen versuchte über Wasser zu halten. Veza Taubner hat also nicht den Namen Canetti durch Magd ersetzt, sondern Taubner. Erst der Blick auf die anderen Pseudonyme Veza Canettis offenbart, dass die Autorin mit der gezielten Wahl auch noch weiterführende soziale Codes gesetzt hat.

      Bereits Eva Meidl482 hat 1998 darauf hingewiesen, dass das Pseudonym Murner auf den nazifeindlichen Publizisten und Aktivisten Carl von Ossietzky hinweisen könnte, der unter dem Pseudonym Thomas Murner publiziert hat. Mit dem Namen Thomas Murner wird aber auch der ursprüngliche Namensträger, der elsässische Humanist, Dichter und Satiriker Thomas Murner (1475–1537), Mönch des Franziskanerordens, ins Spiel gebracht. Thomas Murner war wie Veza Canetti auch körperlich behindert, der Thomas-Murner-Biograf Theodor von Liebenau bezeichnet in einer Biografie von 1913 das Leiden Murners in seiner Biografie als „Englische Krankheit“483 und schreibt: „Diese Krankheit sowie die Hinneigung zum Franziskanerorden und der sehnliche Wunsch der Eltern bestimmte den körperlich jedenfalls missgestalteten Murner sich dem geistlichen Stande zu widmen.“484

      Das Pseudonym Martin Murner hat Veza Taubner ein erstes Mal für die Erzählung Die Grosse verwendet, die auch tatsächlich im Januar 1933 in der Zeitung Deutsche Freiheit in Saarbrücken – also nahe der französischen Grenze und unweit von Strassburg, dem Wirkungsort des Franziskaners Thomas Murner – erschienen ist. Im Herbst des gleichen Jahres wurde die Erzählung auch noch im Elsass selbst, das heisst in Mühlhausen, in der Zeitung Der Republikaner veröffentlicht. Die Wiener Arbeiter-Zeitung brachte die Erzählung im Sommer 1933. Die zwei letzten Zeitungen brachten Die Grosse unter der Pseudonym-Variante Martina Murner. Die Murner-Pseudonyme – Martha, Martin und Martina – hat Veza Taubner nur im Jahr 1933 verwendet. Neben der Erzählung Die Grosse war Murner das Pseudonym für die Erzählungen Der Dichter, Der Fund und Der Zwinger. Mit Ausnahme der Erzählungen Der Kanal und Der Zwinger sind genau diese Erzählungen nicht in den Roman Die gelbe Strasse aufgenommen worden. Gut möglich, dass Veza Taubner sich wegen den Publikationsorten ihrer Erzählungen unweit der Stadt Strassburg vom Namen des Humanisten und Dichters Thomas Murner hat inspirieren lassen. Womöglich um mit der Namenswahl einen anderen Aspekt ihres Denkens zu verdeutlichen, nämlich den Blick der Humanistin und Satirikerin auf die Welt ausserhalb des Diskurses von Herrschaft und Knechtschaft, der mit dem Pseudonym Magd als Perspektive und Position bereits von ihr eingebracht worden war. Auch über die Vornamen lässt sich spekulieren. Das Pseudonym Martin Murner, das nur einmal gewählt wurde, ist wohl eher ein Versehen, da für die Erzählung Die Grosse sonst Martina verwendet wurde. Mit Ausnahme der Erzählung Der Fund zeigt Veza Taubner in den unter dem Pseudonym Martina Murner publizierten Erzählungen Die Grosse, Der Zwinger und Der Dichter Kinder der Unterschicht, die früh erfahren müssen, dass die Gesellschaft sie nicht gleich behandelt wie die Kinder der Oberschicht.

      In Martina steckt Martin, und das ist, etymologisch gesehen, der Kriegsgott der Römer namens Mars. In der erst posthum veröffentlichten, im Exil entstandenen Erzählung Der letzte Wille sagt die Ich-Erzählerin dementsprechend, nachdem sie und ihr Mann einen Waisenknaben aus den Trümmern geborgen haben: „Wir werden kämpfen, oh, wir werden kämpfen, dass es ihm bleibt, dieses Lächeln.“ (DF 196) Das ist schon fast eine Kampfansage der Autorin mit dem Namen des elsässischen Humanisten und Kämpfers.

      Das Pseudonym Martha Murner wurde erst im November 1933 zum ersten Mal verwendet, und zwar für die in der Arbeiter-Zeitung in Fortsetzung erschienene Gross-Erzählung Der Kanal, in deren Zentrum verschiedene


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