Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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Humanisten Murner, hier nun in Kombination mit dem Namen Martha. Martha gilt als Schutzheilige der Hausfrauen und Mägde. Veza Canetti wird dann auch im Roman Die Schildkröten schreiben: „(…) dass nur der Künstler die Menschenwürde noch zu retten vermag.“ (Sch 66) Gut denkbar, dass Veza Canetti sich mit der Wahl des Pseudonyms hier spezifisch schützen wollte, möglicherweise gehörte die Dienstbotenvermittlung Hatvany zu ihrem näheren Lebensumfeld. Vielleicht aus ähnlichen Gründen hat Veza Taubner im November 1933 ein zweites Mal das Pseudonym Martha Murner für die Erzählung Der Neue verwendet. In dieser Erzählung inszeniert die Autorin einen Schlagabtausch zwischen Zeitungskolporteuren in der Stadt Wien. Ein Milieu, das der Autorin im gegebenen Fall sehr vertraut gewesen sein könnte.

      Zum Umfeld von Veza Taubner darf der Leopoldstädter Arbeiter-Schriftsteller Adolf Unger (1904–1942) gezählt werden, dieser war neben dem Schreiben in verschiedenen proletarischen Berufen tätig gewesen, unter anderem als Zeitungskolporteur. Im Band Als stünd’ die Welt in Flammen schreibt Herbert Exenberger, indem er Adolf Unger zitiert: „Die Inflation kam. Die Krise. Die Arbeitslosigkeit. Viereinhalb Jahre stand ich ohne geregelte Arbeit da. Ich versuchte und packte alles an, was sich mir bot. Mehr als ein Jahr stand ich an der Lerchenfelderstrasse, Ecke Albertgasse, als Kolporteur und verkaufte Zeitungen (…)“485 In der Erzählung Der Neue von Veza Taubner sorgen die verschiedenen Zeitungskolporteure vor der Kirche dafür, dass das Sprengstofflager des sogenannt braunen Kolporteurs, der deutsche Zeitungen verkauft und gleichzeitig „frech und selbstbewusst Stimmung gemacht hatte“ (GbR 71), aufgedeckt wird. Diese Szene setzt einen eklatanten Bezug zum von Veza Taubner gewählten Pseudonym Martha Murner genau für diese Erzählung. Wurde doch der unter dem Pseudonym Thomas Murner publizierende Leiter der Wochenzeitschrift Die Weltbühne, Carl von Ossietzky, 1931 ins Gefängnis gesteckt, weil seine Zeitschrift die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufgedeckt hatte.486 Dieser sogenannte Weltbühne-Prozess fand international Beachtung. Die Zeitschrift Weltbühne, ursprünglich eine Theaterzeitschrift mit dem Namen Schaubühne, entwickelte sich zu einem Forum der demokratisch denkenden, bürgerlichen Linken der Weimarer Republik. In der Erzählung Der Neue kommt hingegen der Waffenlagerbesitzer selbst ins Gefängnis und die ganz unterschiedliche Zeitungen vertretenden Kolporteure vor der Kirche sympathisieren nun vorerst zaghaft mit dem Kollegen, der eine Zeitung mit sozialistischem Hintergrund vertreibt. (GbR 71 f.) 1932, ein Jahr bevor Veza Taubner zum ersten Mal das Pseudonym Murner verwendet hatte, übertrugen die Macher der deutschen Weltbühne dem 1929487 aus der Kommunistischen Partei Österreichs ausgeschlossenen Wiener Publizisten und ehemaligen Redakteur der Roten Fahne, William S. Schlamm (1904–1978), die Redaktion der Wiener Weltbühne.488 Ob Veza Taubner in irgendeinem Bezug zu dieser Wiener Weltbühne steht – sei es als Autorin, Lektorin, Korrespondentin oder Übersetzerin –, ist unbekannt.489 Der Standort Wien wurde allerdings aus politischen Gründen (Ausschaltung des Österreichischen Parlaments im März 1933) kaum eröffnet, schon wieder aufgegeben und nach Prag versetzt, von wo aus die Zeitschrift als Die Neue Weltbühne von April 1933 bis 1939 erscheinen konnte. 490

      In noch direkterer Linie lässt nunmehr Veza Canetti unter dem Pseudonym Veronika Knecht in der 1934 erschienenen Erzählung Drei Helden und eine Frau eine Hausfrau, die Stiegen wischt, ins Geschehen eingreifen, indem sie die von ihren Häschern verfolgten jungen Leute mit einem raffinierten Trick vor dem sicheren Tod bewahrt. Veronika, etymologisch auf das griechische Berenike zurückgehend, bedeutet die Siegbringerin. Als Attribut zu Knecht gelesen, besagt das Pseudonym Veronika Knecht, dem Knecht zum Sieg zu verhelfen. In einer Doppelbewegung hilft die Autorin, indem sie erzählt, nicht den Herren, sondern eben den Knechten zum Sieg und gleichzeitig lässt sie in der Erzählung eine Stiegen wischende Magd – als Entsprechung zum Knecht – Menschenleben retten, was wiederum als Sieg über das Barbarentum gewertet werden kann.

      Gerade in dieser Erzählung, in der eine reale Begebenheit aus dem Leben Veza Canettis literarisch verarbeitet wird, offenbart sich, dass die Pseudonyme durchaus nicht willkürlich gesetzt wurden, sondern in direkter Beziehung zu den Erzählungen zu sehen sind, ganz im Sinne von Perspektive und Position. Sarkastisch wendet sich Veza Canetti hier nämlich gegen den sogenannten „Februarmythos“. Bezüglich dieses Mythos und des Bürgerkriegsgeschehens vom 12. bis 14. Februar 1934 in Wien schreibt Ernst Hanisch in seiner Biografie über Otto Bauer: „Der Februarmythos war so ein spezifisch männlicher Heldenmythos, auch wenn Bauer (Otto Bauer, Anm. va) gelegentlich die Proletarierfrauen erwähnt, die ‚mit Küchenmessern und Bügeleisen‘ ihren kämpfenden Männern beistanden.“491 Verbürgt ist, dass Veza Taubner in ihrer Wohnung Ferdinandstrasse 29 anfangs Februar 1934 nicht nur Ernst und Ruth Fischer beherbergt hat, sondern überdies bewaffnete Kämpfer des Schutzbundes.492

      Bestimmt war es nach dem Bürgerkriegsgeschehen im Februar 1934 für die Autorin wichtig, sich mit einem neu gewählten Pseudonym vor einer etwaigen Verfolgung zu schützen.493 Entsprechend war es dadurch Veza Canetti gefahrlos möglich, 1937 für zwei Erzählungen und 1947 für eine Übersetzung auf ihr altes Pseudonym Veza Magd zurückzugreifen, das sie bereits vor dem Bürgerkrieg verwendet hatte.

      Diese Mehrfachverwendung von Wörtern im Bedeutungsfeld Magd, Knecht oder auch Martha, als Schutzheilige der Hausfrauen und Mägde, verortet die Perspektive und Position, aus der heraus erzählt wird, in der Unterschicht. Veza Canetti schreibt diesbezüglich in der erst posthum publizierten Erzählung Die Flucht vor der Erde, die als autobiografische Grossmetapher gelesen werden kann, hinsichtlich des poeta doctus. „Diese Ahnungslosen verschwendeten sich selbst in unaufhörlicher, nutzloser Arbeit, und dennoch haderten diese Träger des schwersten Kreuzes nicht mit dem Schicksal und sahen keine Rätsel. Die Einförmigkeit ihres Lebens, ihrer Arbeit hatte etwas Lebensbejahendes. Wie stark musste das Leben in ihnen sein, wo es sich unter solchen vernichtenden Bedingungen behauptete. Er liebte diese Menschen und versuchte, sie zu erobern. Wer die Menschen gewinnen will, muss ihr Gesicht annehmen können. Das Vertrauen des Knechtes erringt, wer es versteht zu seinem Pferd zu sprechen, man muss dem Pferd zärtliche Namen geben, es loben oder tadeln, genau wie der Knecht.“ (DF 44)

      Leider gelingt es dem poeta doctus in der Erzählung Die Flucht vor der Erde nicht, die Menschen, die unter vernichtenden Bedingungen sich zu behaupten hatten, zu gewinnen. „Sein lautloses Werben merkten sie nicht und weil er nicht imstande war, ihr Gesicht anzunehmen und ihre Sprache zu sprechen, begegneten sie ihm mit Misstrauen.“ (DF 44)

      Der gelehrte Erzähler nun wird an der Tatsache, dass er von seinem Publikum nicht geschätzt wird, zerbrechen und alle Hebel daransetzen, die Erde auf immer zu verlassen.

      Dementsprechend schreibt Veza 1945 an Georges Canetti: „Mein deutsches Pseudonym von einst werde ich nicht wieder annehmen, nein – auch wenn ich der Wiener Regierung freundschaftlich verbunden bin. Ich kann nicht vergessen. Ich kann nicht vergessen, wie sich ihre Gesichter verwandelten und wie Freunde uns nachts besuchen mussten, aus Angst, dabei ertappt zu werden, dass sie zu den Juden gingen.“ (BaG 142) Sie macht sich aber bereits wieder Gedanken für ein neues Pseudonym und schreibt dazu an Georges Canetti: „Es interessiert Dich vielleicht, zu hören, dass ich möglicherweise das Pseudonym ‚George Brand‘ benutzen werde, da ich ein englisches Pseudonym brauche.“ (BaG 138 f.) Um klar zu machen, weshalb sie ausgerechnet diesen Namen zu verwenden gedenke, schreibt Veza Canetti weiter: „Aber wenn Du mir eine Photo schickst, auf der Dich zwei Krankenschwestern küssen – dann werd ich mich Nissim nennen. Klingt wie der Name eines Sklaven in Bagdad, den ein Zauberer in einen Hund verwandelt hat.“ (BaG 139) Nissim ist ein weiterer Bruder Elias Canettis. Mit diesem Kalauer greift Veza Canetti wiederum das gezielte Setzen eines Pseudonyms auf als Perspektive und Position einer Dichterin, die spasseshalber von der Sklavenrolle irgendwann noch tiefer rutschen könnte, nämlich in die Rolle des Hundes. Der Name George Brand wäre somit derjenige des Sklaven eines Zauberers aus Bagdad und Nissim Brand derjenige des zum Hund verzauberten Sklaven. Der Zauberer selber hingegen – der aus dem Roman Die Blendung bekannte Orientale aus Bagdad –, Peter Brand, der Gelehrte und Selbstmörder, bleibt in diesem Brief als mögliches Pseudonym ausgeklammert. Darüber, ob Veza Canetti das Pseudonym George Brand je verwendet hat, kann spekuliert werden.

      Interessant bleibt allemal,


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