Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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Ebenen der Beziehung Veza Canettis zum Roten Wien – vom Empiriokritizismus eines Otto Neurath zu den Sozialwissenschaften Käthe Leichters, zur Individualpsychologie von Alice Rühle-Gerstel und weiter zur austromarxistischen Literaturtheorie Ernst Fischers.

      Die Grundstruktur der vorliegenden Netzwerk-Biografie zu Veza Canetti bilden Konvergenzpunkte als soziale Räume oder Felder, deren Akteure sich als Positionen und Disposition dialektisch lesen lassen. Es handelt sich um Räume oder Grossstrukturen, in denen sich die Autorin bewegt hat. Es sind in erster Linie deren zwei, die Vorkriegsräume (vor dem Zweiten Weltkrieg) und die Exilräume, die unterschiedlicher nicht sein können.2

      Die beiden Grossräume werden in je kleinere Räume oder Felder nach Massgabe der Quellen unterteilt und in der kontroversen Dialektik der Akteure gelesen, das heisst, die Räume werden aufgrund ihrer Kontroversität diskursiv herausgearbeitet. Differierende Lesarten der Quellen und Polyfokalität sind Programm des Vorgehens. Temporale Vor- und Rückgriffe werden gezielt eingebaut.

      Dabei dienen zeittypische Erzählmuster als Folie sowie künstlerische Handlung als Reaktion auf historisch und milieubedingte Mechanismen.3 Im Zentrum steht dabei die Frage, was die Lebenswirklichkeit und die inszenierte Wirklichkeit unterscheidet.4 Schon aufgrund der Komplexität der Quellenlage ist dies keine einfache Frage. Beispielsweise äussert sich Elias Canetti zu verschiedenen bedeutenden Stationen im Leben von Veza Canetti zum Teil ganz divergent. Der grösste Unterschied ergibt sich zwischen den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis, aber auch die Aufzeichnungen, Notizbücher weisen je nach Lebensalter des Autors, in dem sie geschrieben wurden, grosse Differenzen auf. Als diskursives Korrektiv von Lebenswirklichkeit und inszenierter Wirklichkeit bei Elias Canetti dienen die Briefe von und an Veza Canetti aus verschiedenen Archiven sowie das erzählerische Werk Veza Canettis selbst. Mit einer gezielten Montagetechnik von Zitaten – einem Vorgehen, wie Veza Canetti es selbst in ihrem literarischen Werk anwendet – soll das Netzwerk der Autorin im Sinne einer Netzwerk-Biografie sichtbar werden.

      Da die Werkgrenzen von Veza Canetti mit den vielen fliessenden Übergängen zu Ghost-Writing noch nicht klar definiert werden können – ein Forschungsdesiderat –, hat sich eine Ironisierung der Forderung „Eine kritische Biographie aber muss zwischen ‚Leben‘ und ‚Werk‘ genauer unterscheiden, als es den Hermeneutikern notwendig erscheinen mag“5 geradezu aufgedrängt. Die schillernde Ambiguität dieses Zwischen wird in der vorliegenden Netzwerk-Biografie als Ort definiert, an dem das gesamte offizielle und nichtoffizielle Werk von Veza Canetti zu entdecken ist – ein Tabu.

      Nicht nur entwicklungspsychologisch vertretbar, sondern auch konkret nachweisbar haben viele der Netzwerke von Veza Canetti ihren Ursprung in der Grossfamilie mütterlicherseits, den Kalderon oder Calderon, einfachheitshalber in der vorliegenden Arbeit als Familienkosmos bezeichnet.

      Viele Paradigmen der Kindheit Veza Canettis lassen sich nur indirekt über den Familienkosmos erschliessen, da es sehr wenig direkte Zeugnisse/Quellen zur Kindheit der Autorin gibt.

      Veza Canetti wird am 21. November 1897 als Venetiana Taubner (Veza Taubner) in Wien geboren. Die kurz zuvor gegründete Familie würde heute als Patchworkfamilie bezeichnet werden. Mutter und Vater bringen je einen Sohn im Teenageralter in die Ehe mit ein. Die Mutter, Rahel Calderon, war in erster Ehe mit Heinrich M. Calderon, einem türkischen Grosshändler, verheiratet gewesen, die Ehe wurde möglicherweise 1892 geschieden, wie ein schlecht lesbarer Eintrag in die Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde von Wien zeigt. Ihr Sohn aus dieser Ehe ist der dreizehnjährige Morris H. Calderon6. Der Sohn von Hermann Taubner mit dem Namen Wilhelm ist zwölf Jahre alt.7 Die neugegründete Familie, deren Wurzeln in die verschiedenen Teile, ja Ränder der Donaumonarchie reichen – für die Stadt Wien um die Jahrhundertwende nichts Ungewöhnliches –, wohnt vorerst in der Unteren Viaduktstrasse 23, im III. Bezirk. Schon bald aber wird auf die andere Seite des Kanals, an die Czerningasse 14, gezügelt, dann wieder über den Kanal an die Radetzkystrasse 3, in unmittelbarer Nähe des Radetzkyplatzes.8 Hier, in grosser Nähe zu den Grosseltern mütterlicherseits, die an der gleichen Strasse in Nummer 13 wohnen, bleibt die Familie bis 1900. Danach geht es auf die gegenüberliegende Seite des Donau-Kanals, in die Tempelgasse 6,9 wenige Schritte vom späteren Wohnsitz Ferdinandstrasse 29 entfernt. Bis zum Alter von drei Jahren hat das Kleinkind Veza Taubner also bereits drei Mal die Wohnung und drei Mal die Kanalseite gewechselt.

      Am 1. Dezember 1904 stirbt Veza Taubners Vater in Belgrad im Alter von 57 Jahren; über die genauen Umstände seines Todes und ob er in Belgrad in seinem Beruf als Reisender tätig gewesen war, ist nichts bekannt. Im darauffolgenden Jahr 1905 wechselt Veza Taubners Mutter noch einmal die Kanalseite und wohnt nun wiederum in der Nähe des Radetzkyplatzes, in der Matthäusgasse 5.

      Erst im Jahr 1911 wird Rahel Calderon ein letztes Mal die Kanalseite wechseln und in die Leopoldstadt, Ferdinandstrasse 29, 5. Stock ziehen. Aus der Matthäusgasse 5 wird sich ein Menachem Alkaley ebenfalls in die Ferdinandstrasse 29 abmelden.10 Dieser Sachverhalt entspricht exakt den Beschreibungen der Ich-Erzählerin in der Kurzgeschichte Geld-Geld-Geld von Veza Canetti. Erhält da das erzählende Kind doch einen Stiefvater, der gleichzeitig den Untermieter in der Wohnung der Mutter ersetzt. Erst Wochen später zieht die Familie in eine grössere, bessere Wohnung, das wäre in Veza Taubners realer Welt dann die Wohnung in der Ferdinandstrasse 29.

      Elias Canetti wird in den Aufzeichnungen von 1971 schreiben: „Vezas Kindheit wird nie geschrieben werden, und nur ihre wäre es wert gewesen.“11

      Eine der ganz wenigen direkten Äusserungen Veza Canettis zu ihrer Kindheit stammt aus dem Jahre 1947, sie schreibt diesbezüglich im Londoner Exil: „Warum ich heulte (bei der Hochzeit der Prinzessin Elisabeth, Anm. va)? Weil ich auch einmal eine Prinzessin war. Das war zur Zeit der Monarchie und ich sass jeden Sommer in einer Villa in Ischl und der Kaiser fuhr immer vorbei, und ich winkte und er winkte zurück und meine Mutter war überzeugt es galt mir. Das war jeden Vormittag und ich war sieben Jahre alt.“ (BaG 298) Natürlich kann das als märchenhafte Schwärmerei eines kleinen Mädchens abgetan werden, aber das Setting als Ganzes – Villa in Bad Ischl und die exakte Angabe des Alters mit sieben Jahren – weist darauf hin, dass Veza in sehr gepflegten Verhältnissen aufgewachsen sein muss. Die exakte Altersangabe könnte ein Hinweis darauf sein, dass dies nachher vielleicht nicht mehr immer der Fall war. Denn nur wenige Woche nachdem Veza sieben Jahre alt geworden war, starb ihr Vater.

      Auch die Grosseltern Vezas mütterlicherseits – der türkische Grosshändler Josef M. Calderon und seine Frau Veneziana, geborene Elias –, die ursprünglich ihre Wohnung in der Leopoldstadt, in der Unteren Donaustrasse 29 (ebenfalls in der Nähe der Synagoge in der Tempelgasse), hatten, wechselten die Kanalseite und wohnten spätestens ab den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Nähe des Radetzkyplatzes, und zwar in der Radetzkystrasse 13, bis zum Tod der Grossmutter anfangs der 20er Jahre.

      Vor ihrer Ehe mit Hermann Taubner muss die Mutter Vezas mit ihrem halbwüchsigen Sohn Morris ebenfalls in der Radetzkystrasse 13 gewohnt haben, womöglich in der gleichen Wohnung wie die Grosseltern Vezas.

      Auch der jüngere Bruder von Rahel Calderon mit Namen Morris/Maurizio J. Calderon, geboren 12.05.187012, lebte gemäss dem Adressbuch der Stadt Wien bis 1910 in der Nähe des Radetzkyplatzes, in der Oberen Weissgerberstrasse 11.

      Von besonderem Interesse ist das Haus Radetzkystrasse Nummer 3. Hier, wo Veza als Kleinkind im Jahr 1900 gewohnt hatte, wird im Jahr 1924 Elias Canetti mit Mutter und Brüdern für ein Jahr wohnen.

      Nach dem Auszug der Familie von Veza Taubner im Jahre 1900 wird Josef J. Calderon, der Bruder von Rahel Calderon, bei der Geburt seines ersten Kindes 1900 ebenfalls als in der Radetzkystrasse 3 wohnhaft gemeldet, bereits im Jahre 1903 aber schon nicht mehr. In dieser Wohnung, „möbliert, auf übliche, etwas schwere bürgerliche Weise“13, wie Elias Canetti schreibt, von „den gelben Ehebetten im Schlafzimmer bis zum dunkelblauen Buffet im Speisezimmer stand


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