Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler
ihrem Mann Max Hirsch und mit den Kindern Charles (geboren 1893) und Katharina, genannt Kitty (geboren 1895). Olga Hirsch – die in Elias Canettis Lebenserinnerungen Olga Ring15 genannt wird – lebte nach dem Tod ihres Mannes den grössten Teil des Jahres bei einer Tochter in Belgrad16, sodass die Wohnung weitervermietet werden konnte, einzig ihr Sohn Charles alias Johnnie, der Barpianist, bewohnte das in Elias Canettis Lebenserinnerungen beschriebene legendäre Kabinett in der Radetzkystrasse 3. Dass ausgerechnet Veza bei der Familie von Elias Canetti die Miete für ihre Tante einkassieren ging, wird von Elias Canetti mit Johnnies Unfähigkeit im Umgang mit Geld erklärt: „Eine Zeitlang war es sein Amt gewesen, die Miete für seine Mutter einzuziehen und sie mit einigen Abzügen nach Belgrad zu überweisen. So lautete sein Auftrag, doch faktisch frassen die Abzüge die ganze Miete auf und für die Mutter blieb nichts. Alles, was sie bekam, waren unbezahlte Rechnungen, und da sie nicht wusste, wie sie bestreiten – von der glücklichen Ehe war nichts als die Wohnung übrig –, musste eine bessere Regelung getroffen werden. Ihre Nichte, Veza, übernahm es sich um die Vermietung der Wohnung und monatlich um die Einziehung der Miete zu kümmern.“17
Noch in den Entwürfen zur Fackel im Ohr hatte es geheissen: „Von Veza hatte man erfahren, dass die Wohnung zu mieten sei, sie selbst kam monatlich, die Miete einkassieren.“18
Elias Canetti hatte schon ein paar Monate vor der Radetzkystrasse 3 alleine mit Georges an der Praterstrasse 22 bei den Sussins (ein Häuserblock entfernt von der Ferdinandstrasse 29) gewohnt.19 Was die Vermittlung der Wohnung durch Veza Taubner, wie in den Entwürfen Elias Canettis notiert, wahrscheinlicher macht.
Tatsächlich war Elias Canetti in seiner ersten Wiener Zeit von 1913 bis 1916 ebenfalls in der Leopoldstadt wohnhaft gewesen. Das heisst, in der Josef-Gall-Gasse 5, wie er in den Lebenserinnerungen schreibt. Oft übernachtete er bei seinem Grossvater väterlicherseits in der Praterstrasse 72 im Hotel Austria, damit er frühzeitig am Sonntagmorgen in die Talmud-Thora-Schule in der Novaragasse gehen konnte, um Hebräisch zu lernen.20 Ganz in der Nähe, am Praterstern, wohnte die „interessanteste Freundin“21 von Elias Canettis Mutter, Alice Asriel.22 Elias Canetti freundet sich mit deren Sohn Hans Asriel an. Gemäss Die Fackel im Ohr wird er 1924 bei der „Wiederbegegnung“ im Haus der ebenfalls sephardischen Familie Asriel häufig den Namen Vezas hören.23 Auch die Herkunftsfamilie von Elias Canetti hat sich zwischen Radetzkyplatz und Praterstern bewegt wie Veza Taubners Mutter Rahel Calderon und die Grosseltern Calderon-Elias. Kleiner Exkurs: Reine Spekulation bleibt vorerst, ob das Kindermädchen aus dem Jahre 1913 mit dem Namen Fanny – das Elias Canetti und seine sehr kleinen Brüder in den Prater begleitete – möglicherweise die Freundin Veza Taubners war. In den Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis wird eine Freundin Vezas als Fanny bezeichnet.24
A2. Wichtige Figuren des Familienkosmos
Innerhalb des Familienkosmos der Kalderon/Calderon sind nicht nur die Eltern und Halbbrüder Veza Taubners von Interesse, sondern auch die vielen Tanten und Onkel mütterlicherseits sowie die mit diesen assoziierten Freunde und Bekannten.
A2.1 Die Mutter Rahel Calderon
Rahel Calderon wird 1864 in Belgrad geboren. Sie verbringt vermutlich nur einen Teil ihrer Kindheit in Wien. Sie wächst mit sieben Geschwistern auf. Ab wann konkret ihr Vater, der türkische Grosshändler Josef M. Kalderon, in Wien ansässig wurde, kann nur indirekt erschlossen werden. Erst 1877 wird anlässlich der Geburt der Tochter Junbula der Wohnsitz Wien angegeben.25 Die Geburt der Tochter Josefine Sultana 1872 wurde nicht in Wien verzeichnet, sodass der Lebensmittelpunkt der Familie in diesen fünf Jahren nach Wien verlegt worden sein muss. Veneziana Kalderon-Elias, die Mutter von Rahel Calderon, stammte ursprünglich aus Baden bei Wien.
Veza Taubners Mutter, Rahel Calderon, geht insgesamt drei Ehen ein. Mit 19 Jahren, im Jahr 1883, heiratet sie Heinrich M. Kalderon in Wien, in den Adressbüchern der Stadt Wien (Lehmann’s Adressbuch) wird er als Kalderon Heim (Heinrich M.) geführt. Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist Heinrich M. Kalderon der Bruder von Rahels Vater.26 Heinrich M. Kalderon ist von 1882 bis 1892 in Wien als türkischer Grosshändler tätig, teilweise in einer Firma mit seinem Bruder Josef M. Kalderon, teilweise mit Schwiegersöhnen von Josef M. Kalderon (Cohen und Lewy). Von 1890 bis 1892 wird seine Einzelfirma an der Wohnadresse Schmelzgasse 9 verzeichnet. Die Ehe wurde 1893 gemäss Kürzel im Heiratsregister der Israelitischen Kultusgemeinde geschieden. Was zuerst stand, der Austritt aus der Firma oder die Trennung von Veza Taubners Mutter Rahel, ist unbekannt. Über den weiteren Verbleib von Heinrich M. Kalderon ist ebenfalls nichts bekannt, auf der Todesanzeige seines Bruders im Jahr 1908 ist er noch aufgeführt. Die Scheidung Rahel Calderons hatte zur Folge, dass sie vom Jahr 1893 an wieder bei ihren Eltern, in der Radetzkystrasse 13 wohnend, in den Matriken aufgeführt wird.27
Der zweite Ehemann Rahel Calderons ist der um 17 Jahre ältere Hermann Taubner. Tatsächlich ist der dritte Gatte, Menachem Alkaley, geboren 1848, ebenfalls 16 Jahre älter als Rahel Calderon, ihn überlebte sie allerdings nur um fünf Jahre. Ein genaues Heiratsdatum gibt es in den Matriken der Stadt Wien und bei der Israelitischen Kultusgemeinde nicht. Rahel Taubner-Calderon ist aber im Adressbuch der Stadt Wien (Lehmann’s Adressbuch) unter diesem Namen bis zum Jahr 1911 registriert, danach weder unter dem alten noch unter dem neuen Namen. Menachem Alkaley erscheint in diesem Adressbuch bis zu seinem Tod nie, obwohl nachweislich in Wien wohnhaft.28 Es ist anzunehmen, dass Rahel und Menachem von 1911 an verheiratet waren. Sie werden in den Matriken der Stadt Wien als Ehepaar bei ihrem Einzug in die Ferdinandstrasse 29 im Jahr 1911 geführt. Bei beiden ist der Umzug aus der Matthäusgasse 5 in die Ferdinandstrasse verzeichnet. Veza Taubner erhält also spätestens im Alter von 14 Jahren einen Stiefvater. Der Beruf des 63-Jährigen wird in den Matriken mit Privatier angegeben.
Über eine Berufstätigkeit von Rahel Calderon ist nichts bekannt, in den Matriken der Stadt Wien und der Israelitischen Kultusgemeinde wird sie als Private bezeichnet. Wenn man die Erzählung Geld-Geld-Geld von Veza Canetti autobiografisch liest, kann man davon ausgehen, dass Rahel Taubner-Calderon einen Teil der Wohnung – Matthäusgasse 5 – untervermietet hatte und dass sich ein neuer Untermieter auch als Stiefvater, der dem Mädchen das Herz der Mutter rauben würde, entpuppen konnte. Dass sich gewisse Untermieter – „Er war vierschrötig, mit grossen dunklen Augen.“29 – tatsächlich in unziemlicher Art und Weise der Ich-Erzählerin, dem noch nicht zwölfjährigen Mädchen, genähert haben müssen, beschreibt Veza Canetti mit folgenden Worten: „Der Mieter versuchte mich zu holen (wir hatten einen Mieter, wir waren arm, darum kam ja dieser Stiefvater), ich kehrte ihm den Rücken. Und es war noch nie ein Kind so unglücklich wie ich.“30
Ganz anders war es für das zwölfjährige Mädchen aber dann beim neuen Untermieter und potenziellen Stiefvater: „Und dann stieg jemand die Treppe herauf, ein hagerer Mann, lang und mager, mit einer riesigen Nase und er trug einen Pelz mit Nerzkragen und einen hohen Fez auf seiner Glatze, denn er war ein Türke aus Bosnien. Und er hielt einen Stock in der Hand und seine Augen waren nicht gross und dunkel, sondern klein und farblos, wie blind, aus den Wangen ragten weisse Stoppeln, und ich wusste, dass dies der Stiefvater war. Und plötzlich fiel alles ab: der Ekel, der Kummer, die Scham. Neugierig sah ich den hageren Greis heraufsteigen, immer mit dem Stock voran, und hinter ihm erschien jetzt jung und leichtfüssig meine Mutter, glitt auf mich zu, umarmte mich heftig und flüsterte: ‚Du kannst Papa zu ihm sagen oder Onkel.‘‘“31 Ganz anders gestaltet sich auch der Kontakt zu diesem neuen Stiefvater für das Kind: „Als mich der Stiefvater sah, öffnete er seinen zahnlosen Mund zu einem schwarzen Loch, schob die Zunge durch die Wange und sagte: ‚Aha!‘ Dann schlug er mit dem Stock auf mein Bein, es war seine Liebkosung. Die Magd und der Mieter lachten nicht, als sie den komischen Greis sahen, sondern sie traten ehrfürchtig zur Seite; denn er besass siebenundvierzig Häuser.“32 Schon am ersten Abend zeigt sich dem Kind aber der Geiz des neuen Stiefvaters: „Da mein Stiefvater siebenundvierzig Häuser besass, liess meine Mutter auch die beiden kleinen Stehlampen anzünden, denn das spielte jetzt keine Rolle. Ich betrachtete indessen seine lange krumme Nase und war plötzlich auf das viele Spielzeug neugierig, das mir die Magd in Aussicht gestellt hatte. Er schien