Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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Noblesse zwischen zwei langen Fingern hin.“33

      Bald aber sehnt sich das Kind nach der alten Ordnung. „Aber die sollte nicht wieder eintreten. Denn wir wussten wohl, dass der Stiefvater siebenundvierzig Häuser besass, aber wir wussten nicht wie er sie erworben hatte. Wir zogen nach einigen Wochen in eine grosse Wohnung mit elektrischer Beleuchtung, aber wenn es auch genügend Platz da gab, mussten wir doch alle im selben Zimmer leben, denn er duldete keine zweite Lampe im Haus. Zu Mittag sassen wir bei Tisch und meine Mutter häufte mir den Teller an. Aber wenn sie das winzige Stück Fleisch darauf legte, das ein Kind von zwölf Jahren braucht, bohrte er seine farblosen Augen auf das winzige Stück und sagte: ‚Fleisch bekommt sie!‘ Mochte mich jetzt meine Mutter noch so warm ansehen, das Fleisch brachte ich nicht hinunter und darauf schien er gewartet zu haben. Er spiesste es auf seine Gabel und legte es zufrieden auf seinen Teller.“34

      Der beschriebene Wohnungswechsel in der Erzählung Geld-Geld-Geld erklärt zudem, weshalb nach den Matriken der Stadt Wien nicht nur die Mutter von Veza Taubner, Rahel Taubner-Calderon, sondern auch der Stiefvater, Menachem Alkaley, als aus der Matthäusgasse 5 nach Ferdinandstrasse 29 umgezogen, gemeldet wurden. Erst mit dem Umzug von 1911 ist Rahel Taubner-Calderon unter dem Namen Alkaley verzeichnet. Da die Heirat an sich weder bei der Israelitischen Kultusgemeinde noch bei der Stadt Wien als solche registriert ist, kann davon ausgegangen werden, dass Menachem Alkaley und Rahel Taubner-Calderon womöglich in Bosnien – zum Beispiel in Alkaleys Heimatort Sarajewo – geheiratet hatten. Veza Canetti erzählt dann auch, wie die Mutter, nachdem sie den neuen Stiefvater heimgebracht hatte, „müde von der Reise, in die Küche ging und Pasteten buk.“35 In dieser Erzählung vernimmt der Leser zudem, dass die Verwandten die Mutter der Ich-Erzählerin zur Heirat gedrängt haben müssen und sogar so weit gingen, vom Kind zu verlangen, gefügig und gütig zum Stiefvater zu sein,36 aber auch dies erweist sich als Bumerang. Nachdem das Mädchen dem Stiefvater mit seinen Ersparnissen einen Uhrenständer gekauft hat, den er zuerst entzückt in Augenschein nimmt, kürzt er der Mutter das Wirtschaftsgeld mit folgender Begründung: „Ihr müsst viel Geld haben, dass ihr Geschenke machen könnt.“37

      Ob der kolossale Reichtum von Menachem Alkaley – wie von Elias Canetti beschrieben – eine Existenz sicherte, die auch noch in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg genug gross war, um ein Leben ohne Sorgen zu führen, ist bis anhin nicht mit weiteren Quellen gestützt nachweisbar. In der Erzählung Geld-Geld-Geld beschreibt Veza Canetti die Krisenjahre und die Geldentwertung folgendermassen: „Und dann kamen die Kriegsjahre. ‚Tausend Kronen hab’ ich dir (der Mutter der Ich-Erzählerin, Anm. va) gegeben, weisst du, was das heisst, tausend Kronen!‘ Sein langer Finger zitterte vor Aufregung, als er ihn beschwörend auf die Stirn legte. Er sah aus wie ein gefangener Machthaber, den man mit Forderungen erdrosselt.“ Der Stiefvater kann aber nicht verstehen, dass die tausend Kronen nicht einmal eine mehr wert sind. „Wir aber hungerten. Bei meiner Mutter verschlimmerte sich infolge dieser Not ein Leiden und sie lag schwerkrank im Bett.“38 Des Stiefvaters hohe Einkünfte hingegen „lagen bei einem Bankier, der mit der Zeit damit seine Bank vergrösserte. Denn er benützte das Geld zu Spekulationszwecken und sandte erst die entwerteten Scheine jeweils den Kindern. Die hatten mit ihren Besitztümern zu viel zu tun, um das planmässige dieses Betreibens zu durchschauen.“39 Die Krankheit der Mutter hingegen wird vom Stiefvater mit folgender Bemerkung quittiert: „‚Aha!‘ sagte der Stiefvater. ‚Aha! Krankheit ist Faulheit! Auf! Auf! Arbeite etwas!‘ Und er schlug mit dem Stock zu ihrem Bett hinüber.“40 Veza Canetti erzählt weiter: „Es war ihm nicht beizukommen. Wir waren nur die unbezahlten Helfer in seinem Dienst. Wir darbten und er schwelgte. Sein Verwalter brachte ihm jeden Monat die Abrechnung über Aktien, die er im Laufe der Zeit erworben hatte, und es bereitete ihm einen grossen Genuss zu kalkulieren, welche Zinsen sie trugen.“41 Die Mutter der Ich-Erzählerin hält sich von da an nicht mehr an ihre „strengen Begriffe von Pflichterfüllung, sondern begann jeden Nachmittag auszugehen.“42

      Am Ende seines Lebens fängt dieser Stiefvater in seinem Wahn an, in grösserem Stil Geld zu vernichten: „Noch ehe ich mich ihm genähert hatte, nahm mein Stiefvater die Banknoten und warf sie blitzschnell in die Glut. (…) Mit der Zeit schwand ein Päckchen nach dem andern, ohne dass wir es hindern konnten, denn er trug Geld Tag und Nacht bei sich.“43 Auf dem Sterbebett die Hand seines aus der Ferne herbestellten jüngsten Sohnes haltend, wird der sterbende Stiefvater noch einmal der Alte: „Er dachte befriedigt, dass meine Mutter nichts bekam und als er den Blick hob, stachen ihm noch die hellen Möbel in die Augen. Sein Gesicht wurde hungrig. ‚Nimm ihr die Möbel weg‘, sagte er zu seinem Sohn. ‚Alles werde ich ihr nehmen‘, versprach dieser und bat meine Mutter mit dem Blick um Entschuldigung.“44

      Zu den in der Erzählung Geld-Geld-Geld gemachten Milieuschilderungen passen auch die durch Elias Canetti in seinen Unpublizierten Lebenserinnerungen gemachten Aussagen zu Alkaleys Tod.

      „Während dieser Zeit hatten sich die äusseren Umstände ihres Lebens verändert. Ihr Stiefvater, der uralte Altaras, starb, was eigentlich nach all seinen Erfahrungen mit Ärzten niemand mehr für möglich gehalten hätte. Er blieb bis zum Schluss der gleiche und es gelang ihm, für eine Überraschung in seinem Sinne auch nach seinem Tod zu sorgen. Alles was er an Reichtümern (Banknoten) aufzustapeln pflegte, war verschwunden. Er muss Mittel und Wege gefunden haben, sich von diesem Geld, an dessen Gegenwart er so hing, zu trennen. Vielleicht hatte er es, als er spürte, dass es zu Ende ging, allmählich fortgetragen und in den …kübel (?) geworfen. Vielleicht war es ihm doch noch unbemerkt gelungen, einiges davon zu verbrennen. Nichts davon fand sich nach seinem Tode (war da), aber damit nicht genug, er hatte bei dem Besuche seines Sohns, in aller Heimlichkeit, durchgesetzt, dass der Frau für den Fall seines Todes eine stark reduzierte Rente ausgesetzt wurde, die wohl für ihren Lebensunterhalt, aber keineswegs für Ersparnisse reichte. Er hatte verfügt, dass diese Rente nur so lange nachzuzahlen sei, als seine Witwe lebte. Mit ihrem Tod erlosch sie, für Veza war nicht gesorgt, seine späte Rache für den Kampf, den sie um die Lebensluft ihres Zimmers gegen ihn geführt und gewonnen hatte.“45

      In der Fackel im Ohr wird Alkaley zu Mento Altaras und damit auf die rein anekdotisch-sarkastischen Elemente reduziert.

      Rahel Calderon überlebt ihren dritten Mann nur um fünf Jahre und stirbt mit 70 Jahren am 13. Oktober 1934; drei Tage später, am 16. Oktober, findet die Beerdigung statt.46

      37 Jahre haben Mutter und Tochter zusammen gewohnt, im letzten Jahr von Rahel Calderon wohnt auch Elias Canetti da. Mutter und Tochter müssen sich zeitlebens sehr nahegestanden sein, was verschiedene Quellen bezeugen, zum Beispiel schreibt Veza Canetti an ihren Schwager Georges Canetti in einem Brief vom 20. Dezember 1934: „Ich bin lebensmüde. Ja. Denn meine Mutter war wirklich gut und sie war mein guter Trottel, der sich von mir quälen liess und mich abgöttisch liebte. Jetzt bin ich ganz verlassen.“ (BaG 27)

      Kurz vor ihrem eigenen Tod schreibt Veza Canetti am 2. März 1963: „Ich kann nicht nach Wien, so gern ich auch das Grab meiner Mutter besuchen würde, mein Herz ist schon einmal gebrochen, wie ich weg musste, noch einmal hält es das nicht aus.“47

      Veza Taubners Vater, Hermann Taubner, wird in Semlin geboren, das ursprünglich zum ungarischen Teil der Donaumonarchie gehörte und heute ein Vorort von Belgrad ist. Sein Beruf wird in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde mit Reisender oder Agent angegeben, sein Alter bei der Heirat 1897 mit 50 Jahren. Der Vater von Hermann Taubner trägt den gleichen Namen wie er selbst, die Mutter Rosa ist eine geborene Fein. Der Wohnort am Tage der Heirat wird in den Matriken mit Hotel Stefanie, Taborstrasse angegeben. Hermann Taubner ist geschieden und hat einen Sohn mit Namen Wilhelm, der 1885 geboren wurde. Über den Verbleib der Mutter dieses Sohnes ist nichts bekannt. Auch über Hermann Taubner selbst gibt es sehr wenig Informationen. Ist er am 1. Dezember 1904 (Veza hatte da gerade das Alter von sieben Jahren erreicht) in Bosok bei Rechnitz – weit entfernt von der Familie – an einem Unfall gestorben oder war er krank gewesen? Sprach er, der Reisende oder Agent, Ungarisch, Serbisch, Spaniolisch, Wienerisch, was alles im Bereich des Möglichen liegt?

      Sehr


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