Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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Bedeutung der Familie von Olga Hirsch für Veza Canetti gibt es aus dem Jahr 1946 in einem Brief an Georges Canetti eine sehr eindrückliche Passage. „Immer wenn ich lese, wie sie hungern (die Österreicher nach dem Zweiten Weltkrieg, Anm. va), geh ich in die Küche und esse ein Ei, manchmal geh ich in unser vornehmes Restaurant und denk daran, wie sie hungern, und esse Brathuhn. Ja, es schaudert einen, aber meine liebe Tante Olga wurde in die Gaskammer gebracht mit ihren Kindern und Enkeln, acht an der Zahl, sie wurden vor ihren Augen ermordet, und damit ist die Sache klar … gibt es in Châteaubriant übrigens Kinos, denn ich muss jeden zweiten Tag einen Film sehen, sonst werd ich verrückt.“ (BaG 211)

      Charlie Hirsch, der Cousin von Veza Canetti, wird von Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen als Barpianist bezeichnet; seine Familie hätte ihn für einen Schubert gehalten, dabei sei er ein abgefeimter Schmeichler gewesen, er sei für eine Frau gehalten worden und mit Geld habe er gar nicht umgehen können. Deshalb habe Veza bei ihnen die Miete für Olga einziehen müssen. Charles Hirsch ist gemäss Wiens historischem Adressbuch Adolph Lehmann’s nur ein einziges Mal, im Jahr 1923, an der linken Wienzeile 14 mit einem Theatergeschichtlichen Büro eingetragen. Ob dies möglicherweise wegen des temporären Charakters in Zusammenhang mit dem Musik- und Theaterfest von 1924 in Wien75 steht, ist nicht bekannt. Zu seiner Tätigkeit als Pianist schreibt Elias Canetti: „Es war, als habe die alte Monarchie noch bestanden, besonders der ungarische Teil war in der Bar, wo Charlie Hirsch spielte, gut vertreten.“76 In mehreren Durchgängen versucht Elias Canetti 1977 der Figur von Karl Hirsch oder eben Charlie gerecht zu werden. Einerseits entwirft er ihn als erfolglosen, alten, dicken und verfetteten Schwulen – Hirsch war da Ende 20 –, andererseits wird Charlies Interesse für die Lektüre des Studenten Elias Canetti dargestellt. Die Verachtung von Elias’ Mutter gegenüber dessen homosexuellen Kontakten habe ins Gegenteil umschlagen können, wenn es sich bei dessen Geliebten um einen Grafen, wie zum Beispiel den Ungarn Graf Tisza, gehandelt habe.

      „Wenn er sie auf den häufigen Gängen von seinem Kabinett in die Toilette und zurück traf, grüsste er nicht nur, sondern pflegte gleich etwas anzufügen, was sich auf einen Grafen bezog. ‚Ein nobler Mensch, der junge Tisza‘, sagte er dann, ‚ich war gestern wieder mit ihm zusammen. Der lässt gerne was springen. Sparen ist ein Wort, das es in seiner Sprache nicht gibt. Er kommt mich bald besuchen. Er würde Sie interessieren, gnädige Frau, darf ich ihn vorstellen, wenn er kommt?‘ Eine boshafte Frage. Sie hätte es gewiss nicht verabscheut, einen Grafen Tisza kennen zu lernen, aber durch den Charlie Hirsch, nein, das schien ihr dann doch zu verächtlich. ‚Wenn ich gerade da bin, vielleicht‘, sagte sie. ‚Aber Sie können ihn doch schwer im Kabinett empfangen!‘ ‚Warum nicht? Das ist er gewohnt. Er macht keine Umstände. Die feinsten Herren sind immer am nettesten. Er pflegt nur ganz überraschend zu kommen, ohne sich anzusagen. Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn er plötzlich da ist.‘

      Die Mutter blieb unschlüssig und versprach nichts, aber der Gedanke beschäftigte sie, dass Graf Tisza plötzlich vor der Türe stehen und – was noch viel schlimmer wäre – sich zu erkennen geben könnte, wenn er läutete und sie ihm öffnete, könnte sie nicht mehr ausweichen. Dann hätte sie ihn kennengelernt, und zwar durch den Charlie Hirsch (als seinen Freund). Sie sprach oft davon, die Vorstellung quälte sie. Trotzdem war es ihr lieber, sie erlitt diese Demütigung, – denn als suche sie eine Bekanntschaft über Charlie Hirsch. Was auf jeden Fall zu vermeiden war, war dass ich in die Sache hineingezogen wurde, das fand sie viel schlimmer. Ich war schon von der allgemeinen Verachtung angesteckt, mit der man über den Adel sprach und kam ihren Wünschen mehr als ihr lieb war entgegen. In meinen Augen gehörte es zu den bedenklichsten Punkten des Ch. H., dass er soviel von Aristokraten sprach und sie als seine Freunde bezeichnete. Mir schien jede Gesellschaft besser als seine.“77

      Zu Karl Hirsch schreibt Veza Canetti in einem Brief von 1946, indem sie den Heiratswunsch von Maud Arditti ironisiert: „Ein Gentleman und das Muster der guten Kinderstube, feine Manieren – ist der Karl Hirsch … “ (BaG 224)

      Zu Vezas Cousine Kitty/Katharina Hirsch gibt es noch weniger Informationen. Laut den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien muss sie 1920 einen Bernhard Reich geheiratet haben. Ob es sich dabei um den später in der Sowjetunion berühmt gewordenen Dramaturgen Bernhard Reich (den späteren Ehemann von Asja Lacis) handelt, der tatsächlich 1915 in Wien zum Dr. iur. promoviert wurde und sich bis anfangs der 20er Jahre in Wien als Regisseur betätigt hat, ist unsicher.78

      Veza Taubner selbst verwendet in der Erzählung Der Kanal den Namen Kitty als Chiffre für eine Prostituierte. Ein Mädchen namens Emma wird von der Schwester der Dienstbotenvermittlerin, der Bordellbesitzerin Vass, gegen ihren Willen mit ein paar äusserlichen Kunstgriffen zur Prostituierten zurechtgestutzt: „Wie heisst Du mein Kind?“ „Emma Adenberger.“ „Das geht hier nicht. Hier wirst du Kitty heissen. Zieh das an!“ (GSt 109)

      A2.3.2.2 Camilla Spitz

      Die zweite Calderon-Schwester, die nachweislich eine Rolle im Leben von Veza Canetti gespielt hat, ist die jüngste Schwester der Mutter mit dem Namen Camilla. Mit Jahrgang 1884 ist sie nur um 13 Jahre älter als Veza. Aus den Unpublizierten Lebenserinnerungen von Elias Canetti geht hervor, dass sie eine Art Salon in der Seilerstätte, gerade gegenüber dem Ronacher-Theater, geführt haben muss. Sie war verheiratet mit dem um 20 Jahre älteren Alfred Spitz, einem Juwelier. Er war Teilhaber der Firma Alfred und Hugo Spitz, Kammerjuweliere. Bei der 1907 geborenen Tochter von Camilla Spitz mit dem Namen Veneziana (!) handelt es sich nicht um die spätere Veneziana Cansino, die 1946 in einem Brief von Veza Canetti an Georges Canetti als „am liebsten“ (BaG 207) bezeichnet wird; diese sogenannte Lieblingscousine Veza Canettis ist eine Tochter von Morris J. Calderon, Veza Canettis Onkel mütterlicherseits, und lebt – was die 20er Jahre betrifft – in England. Über eine Beziehung Veza Canettis zu Veneziana Spitz hingegen ist nichts bekannt. Mit Elise (genannt Lily) Spitz, der zweiten Tochter von Camilla Spitz, geboren 1911, bleibt hingegen eine Freundschaft über das Exil hinaus bestehen. Lily Spitz ist Tänzerin und Assistentin von Grete Wiesenthal. Von 1929 bis 1933 veranstaltet Lily Spitz als Lily Calderon, wie sie sich als Künstlerin nennt, vier Tanzabende in der Volkshochschule Urania, im Winter 1932/33 drei Tanzspiele im Volksheim Ottakring: Haltet den Dieb, Der Reiter von Flandern und Die kleine Dreigroschenmusik (Musik von Kurt Weill).79 Lily Spitz startet Ende der 20er Jahre eine internationale Karriere als Tänzerin und geht 1940 nach Amerika ins Exil. In einer Kurzbiografie notiert ihr späterer Ehemann Ted Stone: „She was born 22 March 1911 in Wien as Elise Spitz. But as a dancer, she was known as Lily Calderon which was her parent’s family name.“80 Lily Stone starb 1990 in New York. Grete Wiesenthal schreibt an ihre ehemalige Assistentin und Schülerin Lily Spitz nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1947, wie sie beim Vorübergehen am Haus an der Seilerstätte hinaufschaue zum Balkon und sich der Besuche bei ihnen erinnere.81 Lily Spitz hatte ihr ein Paket mit Kaffee, Kleidern und Weiterem geschickt. Ted Stone schreibt: „In Vienna she was Erste Assistentin bei der Tanzschule Grete Wiesenthal. (…) She danced with many other groups in Europe, including Italy, Spain and England. (…) She never lost touch with Frau Wiesenthal and they constantly wrote each other.“82 Diese Erklärung Ted Stones wird gut dokumentiert durch den regen Briefwechsel zwischen Grete Wiesenthal und Lily Spitz nach dem Zweiten Weltkrieg, das ehemalige Arbeitsverhältnis der beiden Frauen mündete in eine lebenslange Freundschaft über die Kontinente hinweg.83 Eine undatierte, bestimmt aber vor dem Zweiten Weltkrieg geschriebene Karte der Grete Wiesenthal aus Stockholm an Camilla Spitz an der Seilerstätte in Wien offenbart nachdrückliches Interesse an Veza Canettis Tante Camilla und dem gemeinsamen Freundeskreis in Wien: „Liebe Frau Spitz! Wie geht es Ihnen denn? Schreiben Sie mir doch einmal ich würde mich sehr darüber freuen. Ich denke oft an die guten Freunde in Wien.“84

      Elias Canetti schreibt nach dem Tod von Veza Canetti am 20. Mai 1963 an Lily Spitz: „Wir dachten daran, im kommenden Jahr nach U.S.A zu gehen, und da hoffte sie (Veza, Anm. va) sehr, Dich zu besuchen.“85 Von Lily Spitz ist bekannt, dass sie die Schwarzwaldschule86 besuchte. Ob sie durch diese Schule ein erstes Mal in Kontakt mit den Schwestern Wiesenthal, die am dortigen Mädchen-Realgymnasium Tanz unterrichteten, kam oder ob es genau umgekehrt war, dass Grete Wiesenthal zuvor schon im Salon Spitz verkehrt


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