Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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ein Wiener Kosmos aufgefächert, der in der Zwischenkriegszeit an Bedeutung zunehmen wird. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass Elias Canetti bei seinen vielen Besuchen bei den Asriels mit den Kindern Literarisches Quartett gespielt hat.100 Über Alice Asriel schreibt Elias Canetti: „Sie hat in meinem Leben eine Rolle gespielt“101, und führt weiter nicht aus, was dies genau gewesen sein könnte. Eine kleine Randbemerkung in den Lebenserinnerungen Theodor Waldingers Zwischen Ottakring und Chicago offenbart Profunderes: „Einer meiner ersten Pariser Wege führte mich zu Alice Asriel, einer bemerkenswerten Frau, die mir aus Wien flüchtig bekannt war. Die Asriels waren Freunde von Veza Taubner.“102 Die Freundschaft der Familie Asriel mit Veza Taubner kann schon sehr früh entstanden sein, da Alice Asriels Schwester, Sarina Levy, bereits 1900 Vezas Onkel Jacques J. Calderon geheiratet hat. Zudem ist für Alice Asriel bezeugt, dass sie in Paris Mitte der 30er Jahre Sprachunterricht erteilt haben muss103, was sie zur Berufskollegin Veza Taubners macht.

      Über eine quellengestützte Begegnung zwischen Elias Canetti und Veza Taubner in diesen ersten Wienjahren der Familie Canetti zu Beginn des Ersten Weltkriegs ist äusserst wenig bekannt. Es ist aber davon auszugehen, dass es zu diesem Zeitpunkt seit langem mehr enge Kontakte zwischen den Familien Calderon und Canetti gegeben haben muss, als dokumentiert ist. Dies betrifft nicht nur die sehr nahen Wohnorte von Veza und Elias beziehungsweise die Nähe zu dem den Sepharden gemeinsamen türkisch-jüdischen Tempel, sondern insbesondere auch die Tatsache, dass Vezas Mutter Rahel Calderon und Mathilde Canetti ebenfalls mit Alice Asriel freundschaftlich verbunden waren.104

      Ein kleines Schibboleth in den Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis gibt zudem einen Hinweis darauf, dass das dort so eindrücklich beschriebene Kindermädchen Fanny möglicherweise Veza Taubners Freundin gewesen sein könnte. Wie bei anderen Namensverschiebungen innerhalb des Familienkosmos auch muss Elias Canetti für die Freundin Veza Canettis hier zwei verschiedene Namen eingeführt haben, in einem Manuskript wird sie Fanny genannt werden, in einem anderen Manuskript wird die gleiche Person Lucile heissen: „Name von Vezas Freundin: B 1.3.: Lucile. A 6: Fanny“.105 Da Fanny in einer Arbeitsnotiz Elias Canettis in den Unpublizierten Lebenserinnerungen als Freundin Vezas auftaucht, aber dann als Figur mit Konnotat Freundin Vezas nirgends dargestellt wird – weder in den Publizierten noch Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis –, ist anzunehmen, dass Fanny106 tatsächlich das Kindermädchen von 1915 ist. In den Publizierten Lebenserinnerungen kündigt das Kindermädchen seine Stelle bei den Canettis mit der Begründung, der Bub schlafe schlecht. Mutter und Sohn hatten mit dramatisch inszenierten Lesungen am Abend und mit Elias’ dramatischen Parodien des Verhaltens des Kindermädchens das Fass zum Überlaufen gebracht.107

      Zur ersten Fahrt mit Fanny – der mutmasslichen Freundin Vezas – in der Grottenbahn im Prater notiert Elias Canetti in Die gerettete Zunge: „Ich setzte mich eilig ins Gefährt, eng an sie gedrückt, damit auch für die Kleinen Platz sei.“108 Zuvor hatte ihm Fanny über das Maul der Hölle, das den Eingang der Grottenbahn verziert, erzählt, es hätte genug Platz in der Hölle, „um die ganze Stadt Wien und all ihre Menschen zu verschlingen.“109

      Jenseits des eher äusserlich zu verortenden Familienkosmos ist über die Kinder- und Jugendzeit Veza Canettis sehr wenig bekannt. Es ist beispielsweise nicht mehr in Erfahrung zu bringen, welche Schulen Veza Taubner besucht hat. Ein zentraler Schülerkataster für Wien existiert für die Schuljahre Veza Taubners nicht. Für einzelne Schulen existieren Schülerregister, nur für die Schule in der Kolonitzergasse, nahe des Wohnortes Veza Taubners (Matthäusgasse 5 von 1905 bis1911), existiert kein solches Register.110

      Einen indirekten Zugang zu eigenen Kindheitserinnerungen bilden die literarischen Texte Veza Canettis. Kinder hat die Autorin bekanntlich in ihren Erzählungen sehr viele – auch als Hauptfiguren – dargestellt. Da ist einmal Georgie Burger, der Sohn eines Schaustellers an der Strasse des 1. Mai in der Erzählung Der Verbrecher, der sehr genau weiss, wie die Erwachsenenwelt funktioniert und „dass man Verbrecher nicht erst unten suchen muss“ (GbR 63). Das Mädchen Hedi in der Erzählung Der Zwinger, Tochter der Bedienerin Hedwig Adenberger, hilft der Helli Wunderer viel direkter und effizienter, als dies die Erwachsenen bereit wären zu tun. Dasselbe Mädchen teilt in der prämierten Erzählung Ein Kind rollt Gold mit dem Hund Grimm sein Essen. Das Mädchen der Bedienerin in der Erzählung Die Grosse hingegen, das von den Teilnehmern des 1.-Mai-Umzugs mit Blumen bedacht wird, muss sich in der Schule eine härtere Behandlung gefallen lassen, als es für die anderen – eben die grossbürgerlichen – Kinder üblich ist.

      Kinder werden ausserdem als Opfer der Familienverhältnisse dargestellt, wie zum Beispiel die von ihrem eigenen Vater, Iger, geschlagenen Kinder im Theaterstück Der Oger oder das Mädchen Steffi im Roman Geduld bringt Rosen, das als Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse und der familiären Ungeschicklichkeiten buchstäblich verhungert. Aber auch die Helli Wunderer wird, weil ohne Vater, der Mutter weggenommen und ins Kinderheim gesteckt.

      Kinder sind demgegenüber gleicherweise grosse Hoffnungsträger, wie das aus den Trümmern geborgene Kleinkind in der erst posthum publizierten Erzählung Der letzte Wille offenbart. Der Anblick dieses Waisenknaben bringt das alte Ehepaar dazu, für eine bessere Welt zu kämpfen. Manchmal wird aus dem Kind einer Bedienerin überdies ein Dichter mit Fokus auf mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit, wie anhand der Figur des Gustl in der Erzählung Der Dichter, veröffentlicht anfangs der 30er Jahre, zu sehen ist.

      Auch wo Veza Taubner das Lyzeum oder allenfalls Gymnasium besucht haben könnte, ist über das Archiv der Stadt Wien nicht mehr zu erschliessen.111 Womöglich war es ab 1911 eine Schule am neuen Wohnort, dem zweiten Bezirk, der Leopoldstadt; denkbar wäre zudem, dass sie eine weiterführende Schule am alten Wohnort im dritten Bezirk besucht hat.

      An der Schnittstelle vom Familienkosmos, in dem Veza Canetti aufgewachsen ist, und den nachfolgenden Netzwerken, in denen sich die Dichterin bewegt hat, drängt sich die Konstante einer Thematik besonders auf – nämlich die des fehlenden linken Unterarms der Dichterin. Ein Tabu, wie mehrfach gezeigt werden kann. Dieses Tabu kann als Metapher für den ebenfalls nicht thematisierten Hiatus, der sich zwischen dem Leben und dem Werk von Veza Canetti öffnet, angesehen werden.

      Nichts ist bekannt darüber, wie Veza Canetti mit dem fehlenden linken Unterarm als Kind klargekommen ist, wie ihr Umfeld darauf reagiert hat, welche besonderen Therapien nötig waren und so weiter. Allenfalls diente der Tanzunterricht bei Grete Wiesenthal dazu, trotz des fehlenden Unterarms zu einer guten, ausgeglichenen Körperhaltung zu kommen. Da man aber auch sonst sehr wenig Informationen zur Kindheit Veza Canettis hat, fällt das Manko an Information in diesem Bereich nicht einmal besonders auf. Einzig ein Nebensatz Veza Canettis in den Briefen an Georges aus dem Jahr 1945 lässt aufhorchen. Veza Canetti schreibt an Georges am 6. Juni 1945: „Da ich selbst in meinem Leben ein Dutzend Operationen durchgemacht hab, bin ich nicht besorgt, aber ich hoff doch Edith schickt ein Telegramm.“ (BaG 125) Die Passage „ein Dutzend Operationen“ weist allenfalls darauf hin, dass Veza Canetti nicht nur mit einem fehlenden Arm geboren wurde, wie bis anhin hauptsächlich angenommen wurde. Mit dem Hinweis auf „ein Dutzend Operationen“ gerät überdies die Theorie wieder in den Blick, dass Veza Canetti der Arm gar als Folge eines Unfalls amputiert worden sein könnte.

      In den Notizen Elias Canettis aus dem Jahre 1930 gibt es eine unfertige Erzählung mit dem Titel Die Diebin. Darin wird ein junges Mädchen beschrieben, das sein äusserst hässliches Gesicht durch einen Schönheitskünstler verändern lassen will, damit es von seinen Mitmenschen und vor allem den Kameraden nicht mehr verspottet, nicht mehr Krüppel genannt werden kann. Das Kind bettelt und stiehlt sich das Geld zusammen für die sehr teure Gummiunterlage, mit der der Schönheitskünstler die unschönen, nach innen gewachsenen Lippen unterfüttern kann. Das Geld versteckt die Diebin in einer rostigen Büchse hinter dem schönen Madonnenbild, das in der Wohnung der Eltern vor dem Altar hängt.

      „Die Diebin

      ‚Nicht wahr, ich bin hässlich!‘


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