Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


Скачать книгу
und nichts mehr hätte sie je davon abbringen können, für Mitleid zu halten, was unveränderlich Anbetung war.

      Ihre Abhängigkeit bestand darin, dass es etwas gab, das ich nie von ihr wissen wollte. Es war etwas, das sie vor anderen wohl, doch vor sich nie verbergen konnte. Sie dachte nicht mehr und nicht weniger daran als an den Mantel, in den sie schlüpfen musste, wenn sie ausging. Sie hatte sich solche Geschicklichkeit erworben, dass es ein Leichtes für sie war, in diesen Mantel oder wofür immer er steht, zu schlüpfen.

      Ich habe nie zu ergründen versucht, ob die Wurzel zu ihrer Schwermut in diesem Geheimnis lag. Aber ich glaube nicht, dass es möglich gewesen wäre, ihr die Schwermut zu nehmen. Es war eine Schwermut besonderer Art, anders als alles was man sonst davon kennt, es war eine Schwermut, die leuchtete. Es ist nicht möglich, eine Beschreibung davon zu geben, ich beschränke mich auf den Namen, den ich ihr dafür gab, unter unzähligen Namen den einzigen, der damit zusammenhing/der sich darauf bezog, ich nannte sie das schwarze Licht.“118

      Entsprechend zu diesen Aussagen Elias Canettis über Vezas Behinderung gibt es tatsächlich in keinem Brief von und an Veza Canetti auch nur die leiseste Andeutung über ihr Handicap. Auf sämtlichen bekannten Fotos aus dem Nachlass ist ihre Behinderung erst auf den zweiten Blick ersichtlich. Dies trifft selbst auf Fotos zu, die sie als ganz junge Frau zeigen, beispielsweise auf der Aufnahme in Alt-Aussee, wo sie mit ihrer Tante Olga und deren Mann Max Hirsch zu sehen ist, mit offenem Blick in die Kamera, die linke Seite des Körpers leicht abdrehend verdeckt.119

      Zu Prothesen oder künstlichen Körperteilen hingegen gibt es in verschiedenen Erzählungen Veza Canettis Beispiele, sie sind immer aus Wachs. Am auffälligsten erscheinen die zwei Wachshände in der bereits 1937 publizierten Erzählung Der Hellseher: „Die abgehackten Hände! Krampfhaft ausgestreckt in Totenstarre. Von dem grausigen Anblick der abgehackten Hände, die vor mir ausgebreitet lagen, an den Wurzeln noch rosig von frischem Blut, hier in Minnas Zimmer (…) Ein Engländer hat sie geformt, er arbeitet für Wachfigurenkabinette. (…) der Besitzer dieser Hände. Ein Magnetiseur.“ (DF 23) „(…) die Hände aus Wachs, die mich erst so erschreckt hatten. Es war symbolisch für alles, was später kam, erst lähmender Schreck, der zu Wachs wurde.“ (DF 28) Menschen, die sogar als Wachsfiguren gefährlich wirken können, werden in der Erzählung London. Der Zoo thematisiert. Raubtiere hingegen, die weniger gefährlich sind als Raubmenschen, treten in der Erzählung Herr Hoe im Zoo auf. Das gefährlichste Raubtier, der Löwe, allerdings wird nur durch Herrn Hoe bezwungen, da dieser den Geruch der Zivilisation verströmt. Warum Veza Canetti Jean Hoepffner120 mit der Figur des Herrn Hoe ein Denkmal gesetzt hat, muss vorerst offen bleiben. Jean Hoepffner wird derjenige sein, der Elias Canetti 1936 zum Durchbruch als Dichter verhilft, indem er die Erstpublikation des Romans Die Blendung mit einer grossen Geldspende ermöglicht. Der schützende Zivilisationsgeruch Herrn Hoes in der Erzählung war entstanden, weil er sich täglich mit Lavendelseife wusch und seine Magd ihm Lavendelblüten in die Kleider gestreut hatte. (DF 36 f.)

      Der Besitzer der blutenden Wachshände in der Erzählung Der Hellseher hat als Magnetiseur eine Erklärung für das Kopfweh der Ich-Erzählerin, er sagt zu ihr: „Sie haben es im Kopf! (…) Im Kopf! Es ist schmerzhaft. Ein Geschwür!“ (DF 25) Das Schmerzhafte entpuppt sich als ein Voraussehen der Ich-Erzählerin selbst, die erkennt, dass in Zeiten des aufziehenden Faschismus ihr Blatt logischerweise weiss bleiben muss, da sie links besser sieht. Ein Sachverhalt, den ihr zudem – gleichsam verstärkend – der Hellseher später voraussagen wird. Seine Prophezeiungen wird er mit einer langen weissen feingliedrigen Hand verstärken.

      Auch in den Unpublizierten Lebenserinnerungen spielen Hände oder eben die eine Hand eines Gelehrten eine Rolle. Elias Canetti notiert 1981, indem er die alten Notizhefte aus den 30er Jahren hinzuzieht: „Im gleichen Heft findet sich ein grosser Teil des Gesprächs gegen die Frauen, das die beiden Brüder am Ende der ‚Blendung‘ haben. Man kann es nicht eigentlich ein Gespräch nennen, denn ‚Georges‘ ist noch gar nicht da, wohl aber finden sich die Anklagen Peters, besonders die, die sich auf die Odyssee und andere griechische Dinge stützen. Die Attacke endet mit dem Lob des Oktavian, weil er es verstand, der Kleopatra zu widerstehen.

      Gleich danach findet sich ein Stück aus dem ‚Spaziergang‘, dem ersten Kapitel des Romans, das mit gutem Grund später nicht verwendet wurde: Besuch in einer Buchhandlung und Ärger über ein Buch mit Fotos von Händen: die Hand eines Gelehrten erregt Brands Zorn und er zerreisst die Seiten aus dem Buch. – Dann folgt gleich eine erste Fassung des ‚Geheimnisses‘, die Neugier der Therese, die ihn vor dem Spaziergang beim Zusammenstellen der Bücher belauert, die er mitnimmt.“121

      Dieser Ausschnitt ist in mehrfacher Hinsicht höchst aufschlussreich, insbesondere die Stelle: „(..) die Hand eines Gelehrten erregt Brands Zorn und er zerreisst die Seiten aus dem Buch“. Gerne wüsste man nun, weshalb diese Stelle für die Endfassung des Romans Die Blendung „mit gutem Grund“ weggelassen wurde und vor allem warum es hier um „eine erste Fassung des Geheimnisses“ geht. Was ist an der Hand eines Gelehrten für Brand anstössig und was hat das damit zu tun, der Kleopatra zu widerstehen?

      Elias Canetti schreibt weiter, von da an sei es ihm nicht mehr nur um die Masse allein gegangen, sondern sein Interesse für Machthaber sei geweckt worden. Er notiert weiter: „Zur selben Zeit, im September 1930, findet sich folgende Eintragung: ‚Die Erfindung des Spiegels und ihr Einfluss auf die Herausbildung des Individuums‘ (wohl der erste Keim zur ‚Komödie der Eitelkeit‘)“.122

      Genau der Umgang mit Spiegeln ist für Anna und Maria, die beiden sogenannt handicapierten Frauen aus Veza Canettis Erzählung Drei Viertel, jeden Morgen eine Art Härteprobe. Die Maria mit dem Buckel hat es für sich so gelöst, dass sie sich in einem Spiegel betrachtet, der nur ihren Kopf zeigt. Das Frühstück genehmigt sie sich in einem Stuhl mit einem würdigen Rücken. „Als sie darin sass, schien es, als wäre sie jetzt ganz sie selbst. Sie hatte ihren Raum, sie hatte keine Seite, keine Rückseite. Sie steckte im Schutz der hohen Lehne wie eine Puppe in einer Schachtel.“ (DF 55) Anna hingegen hat es schwerer. Sie muss beim Blick in den Spiegel ihr Gesicht verdecken, damit ihr dessen Hässlichkeit entgeht. „Sie hob das Handtuch und versteckte das Gesicht. Jetzt hatte sie kein Gesicht, und das erlöste sie. Ihre Haut atmete jetzt, ihre Glieder waren befreit. Wie schön sie war – ohne Gesicht.“ (DF 48)

      Als der Maler Bent eine Figur – Anna, Britta oder Maria – wie eine Wachspuppe malt, allerdings mit feinem Staub darüber, wird er dafür von einer der Frauen kritisiert: „Staub ist hässlich, Bent.“ Er rechtfertigt sich in Abänderung des Shakespeare-Zitates damit: „Es gibt seltsamen Staub. Der Staub auf Wachsfiguren hinter Vitrinen ist schön. Uralter Staub.“ (DF 68)

      In den Unpublizierten Lebenserinnerungen von Elias Canetti erhält beides – die Körperbehinderung Vezas sowie ihr universales Wissen – die Aura des Geheimnisses, wie man im folgenden Textausschnitt sehen kann. „Ich mochte nicht zugeben, dass die Universalität ihrer Lektüren mir grossen Eindruck machte. (…) Sie war beschlagen in der deutschen, englischen, französischen und russischen Literatur, soweit sie in deutschen Übersetzungen vorlag. (…). Was sie aber auf der Universitätsbibliothek trieb, war ihr Geheimnis. Durch Andeutungen vermochte sie meine Neugier zu reizen, aber sie war auch imstande, wochenlang über ihr augenblickliches Studium zu schweigen. Sie habe etwas begonnen, das sie noch gar nicht beherrsche, unmöglich könne sie schon etwas darüber sagen, für halbgebackene Kenntnisse habe sie nur Verachtung. Ich hatte meine Methoden, in sie zu dringen, auf diese und jene Weise versuchte ich zu erraten, womit sie sich eben befasse, ich kam nie drauf, im Verschweigen ihrer Geheimnisse war sie ein Meister (ich habe sie 38 Jahre gekannt und bin überzeugt davon, dass ich sehr Vieles nie von ihr erfahren habe.)“123

      Sehr treffend beschreibt nun Elias Canetti weiter in den Unpublizierten Lebenserinnerungen, wie das zuerst als Oberfläche Wahrnehmbare – das Preziöse – bei Veza Canetti ihn zu einer falschen Annahme verleitet habe und wie er sich dadurch eine Blösse gegeben habe: „So suchte sie mein Vorurteil von einer ‚Preziösen‘, der <dem> ich noch eine Weile anhing, durch die Lektüre Lenins als eines extrem Politischen und durch die Aristophanes’ als eines extrem Derben zu erschüttern. Ich gab es keineswegs gleich auf, aber ich war mehr auf der Hut vor ihr als früher und begann zu begreifen,


Скачать книгу