Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


Скачать книгу
zudem Erlebnisse des Mädchens Veza mit dem fehlenden linken Arm in die Notizen zu Die Diebin eingeflossen sind. Beispielsweise die Geschenke an die Kinder, damit sie die Angriffe auf das Mädchen mit dem verkrüppelten Gesicht stoppen, vielleicht ebenso Aspekte des mühsamen Zusammensparens von Geld für eine Armprothese – ob mit oder ohne Diebstahl. Diese literarisch verarbeiteten desolaten Zustände, ja Fallen, in die ein körperbehindertes Kind hineingeraten kann, würden auf jeden Fall sehr gut zum legendären Geiz des Stiefvaters Menachem Alkaley passen. Weiter passt gegebenenfalls biografisch auch der Aspekt mit dem Trinkgeld, das die Diebin bei Auslieferungen für den Vater, den Herrenschneider, erhalten hat. Dies könnte ein Pendant in einer Tätigkeit Veza Taubners innerhalb des Familienkosmos gehabt haben, zum Beispiel im Einziehen von Wohnungsmieten, wie das in der von der Familie Canetti bewohnten Wohnung, die eigentlich Olga Hirsch gehört hat, der Fall gewesen sein muss.

      Wie sich ein körperlicher Mangel auf die Betroffenen auswirken kann, beschreibt Alfred Adler – einer der führenden Wiener Psychologen – Mitte der 20er Jahre:

      „Eine wichtige Rolle spielen körperliche Mängel, die bewirken, dass die normale Art des Lebens für ein solches Kind nicht taugt, dass ihm Privilegien zuerkannt und besondere Massregeln ergriffen werden müssen, um seine Existenz zu erhalten. Selbst wenn wir das alles vermögen, das könnten wir nicht verhindern, dass solche Kinder das Leben doch als etwas Schwieriges empfinden, wodurch ihnen die Gefahr droht, an ihrem Gemeinschaftsgefühl schweren Abbruch zu erleiden.“113

      Dazu passt nun sehr gut, dass Veza 1921 an den Rand der Tagebücher von Friedrich Hebbel, neben den Satz „(…) wer sich für überflüssig in der Welt hält, der kann nicht überflüssig sein“ das Wort Danke geschrieben hat.114 Ob das nun in Zusammenhang mit ihrer körperlichen Behinderung steht, wie Hanuschek schon interpretiert hat, wäre zu diskutieren.

      Veza Canetti selbst scheut sich nun aber durchaus nicht, in ihrem literarischen Werk Menschen mit körperlichen Behinderungen darzustellen; sie gibt dabei einen differenzierten Einblick in die Mechanik der Wechselwirkung zwischen dem, was die Gesellschaft als Norm betrachtet, und dem, was als körperlicher Mangel gilt. Da ist beispielweise die junge Frau namens Maria, mit dem Rücken, „der schief und verwachsen war, als hielte sie einen Knäuel unter der Bluse versteckt“, eine der Hauptfiguren in der erst posthum publizierten Erzählung Drei Viertel. Nichts hasst diese Maria so sehr wie das Mitleid ihrer Mitmenschen und den damit einhergehenden Blick auf ihren Rücken. Jedes Geschenk – wie im Text zum Beispiel ein Blumenstrauss – wird so zur Mildtätigkeit einer zu bemitleidenden Behinderten gegenüber. Besänftigen kann Maria einzig der Blick auf das Handicap der Geberin, hier Annas. (DF 49) Anna hat ein hässliches Gesicht. Maria zählt auf: „zerknitterte Haut, die schütteren Haare, die schon in Farblosigkeit übergingen, die dünnen Züge und die Augen, deren Lider zu dürftig ausgefallen waren (…).“ (DF 56) Zu dieser Einschätzung Annas war Maria gekommen, als sie sich gegen jede Einfühlung gepanzert hatte und sie Befriedigung über Annas Hässlichkeit erfasst hatte. Der Maler Bent wird Marias Gesicht hingegen weiss malen.115

      Der Maler Bent spielt in dieser ganz und gar nicht banalen Geschichte um Schönheit und Anerkennung eine wichtige Rolle. Es geht ihm nicht darum zu lieben oder eben zu malen, was schön ist, sondern, das, was ihn fesselt – also das, was statt voll nur dreiviertel ist. Britta, eines der Modelle Bents, das allen Grund gehabt hat, das „Ebenmass ihrer Glieder mit Vergnügen zu betrachten“ (DF 60), war davon ausgegangen, dass Bent nur sie als Modell ins Boot nehmen würde, weil sie bereits einen Preis als schönste Schwimmerin gewonnen hatte. Bent jedoch meint: „Sie irren, Britta. Das Schöne gefällt im Augenblick. Das Seltsame fesselt.“ (DF 71)

      Ganz anders ergeht es der körperlich schwerbehinderten Runkel im Roman Die Gelbe Strasse. Sie wird nach einer Kette von Unglücksfällen, ausgelöst durch ihren eigenen Neid auf eine ihrer Angestellten – nämlich die von der Männerwelt sehr begehrte, attraktive Trafikverkäuferin Lina –, unter ihren eigenen Seifen begraben und stirbt in Kürze. Als vollkommen fatal für Runkel hatte sich die Mischung aus Neid und Geiz gestaltet.

      Dem blinden Bettler aus der Erzählung Der Seher hingegen verhilft gerade sein Nicht-Sehen-Können zu einem vertieften Einblick und Verständnis für die Gesellschaft. Die Aufklärung eines Diebstahls wird für ihn dadurch zum Kinderspiel.

      Schon viel wurde von der literaturwissenschaftlichen Forschung darüber spekuliert, ob Veza Canetti eine Prothese trug oder ob sie einfach ihre Ärmel ausgestopft haben könnte. Leider gibt es keine direkten Äusserungen Veza Canettis selbst zu ihrem fehlenden Unterarm. Elias Canetti spricht in den Unpublizierten Lebenserinnerungen in diesem Zusammenhang vom Geheimnis und von der Kunst des Verbergens.

      „Auch ich wollte sie nicht anders und da es bei ihr um etwas Besonderes ging, das anders als bei anderen Menschen war und das sie mit grosser Kunst verbarg, hing alles für sie davon ab, dass ich sie nicht anders wollte.

      Ich habe ihr Geheimnis mit ihr gehütet. Zu lange? Hätte es später, viel, viel später einen Augenblick gegeben, an dem sie Befreiung von diesem Geheimnis gebraucht hätte?

      Ich muss mich davor hüten, an die späte Zeit zu denken. Ich muss alles versuchen, sie so zu finden, wie sie früh war.

      Es kommt mir der verstörende Gedanke, dass ich mit Herbert Patek erlebt habe, was ich ihr ersparen wollte. Von ihm erfuhr ich alles, er hatte kein Geheimnis vor mir, er hätte mir auch das Hässlichste gesagt, vielleicht wusste er nicht immer, wann es um seine Hässlichkeiten ging, aber jedenfalls zeigte er sich mir ganz.

      Veza, die acht Jahre meine Geliebte war, hat sich mir nie ganz gezeigt.“116

      Herbert Patek wird in den Publizierten Lebenserinnerungen zu Thomas Marek, dem körperlich schwerstbehinderten Philosophen und unersättlichen Leser, mit dem Elias Canetti eine tiefe Freundschaft verband.

      „Veza hat von der Literatur gelebt, sie war davon so erfüllt, wie niemand anderer, den ich je gekannt habe. Wie stellt man das dar, ohne von ihrem Geheimnis zu sprechen?

      Ich muss ihr etwas geben, was ihr gebührt: meine erste Irritation an Spiegeln entstand mit ihr, wenn sie mitten in einem Gespräch auf der Strasse stehen blieb und sich im Spiegel eines Geschäfts besah.

      Diese Verfallenheit an Spiegel hing aber keineswegs mit Eitelkeit zusammen, sie fürchtete immer, dass an ihren Haaren etwas nicht in Ordnung war, und das hing mit ihrer Behinderung zusammen (sie konnte den linken Arm nicht gebrauchen). Ich sah also etwas als Eitelkeit und hielt mich darüber auf, was gar nicht Eitelkeit war.“117

      Im Kapitel Schwermut der Unpublizierten Lebenserinnerungen sinniert Elias Canetti darüber, was dieses Schweigen oder gar dieser Panzer des Schweigens rund um den fehlenden Unterarm für Veza Canetti bedeutet haben könnte. Er kommt zum Schluss, dass dies die Wurzel für ihre Schwermut gewesen sein müsse.

      „Ich habe ihr Geheimnis für sie gehütet. Sosehr habe ich es gehütet, dass ich nie davon sprach. Ich hätte in sie dringen müssen, um von ihr etwas darüber zu erfahren. Aber ich scheute mich davor, sie zum Sprechen zu bringen und es war mir sehr lieb, dass sie nicht von selber davon sprach. 38 Jahre war sie mir nah. Sollte es etwas geben, worüber wir nicht gesprochen haben? Eines gab es, ja, nur eines, und es hätte darüber von allen Dingen auf der Welt am meisten zu sprechen gegeben. Aber eben darüber schwiegen wir beide unverbrüchlich. Es hatte von früh die Art ihres Umgangs mit Menschen bestimmt. Ihr Stolz gebot ihr, zu verbergen, was sie von andern unterschied. Es war aber schwer zu verbergen und es bedurfte grosser Anstrengung, einer bis ins Letzte ausgebildeten Kunst des Verhaltens, um vor der Welt nie anders als andere zu erscheinen. Bedauern oder gar Mitleid hätte sie nicht ertragen. Sie selber strömte über von Mitgefühl und verstand sich auf hundert Finten, durch die es für die Empfänger annehmbar und sachlich wurde, aber Mitleid, das ihr gegolten hätte, hätte sie nie hingenommen. Es hätte sie beleidigt, es hätte sie verjagt, sie wäre davor geflohen wie vor einer tödlichen Bedrohung.

      Neugierig wie ich immer war, kostete es mich doch nicht die geringste Mühe, ihr gegenüber auf Neugier zu verzichten. Es ist möglich, dass es Augenblicke gab, in denen sie sich Neugier bei mir gewünscht hätte, um den Panzer ihres Schweigens wenigstens einmal ablegen zu können. Aber die Wirkung eines


Скачать книгу