Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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Elias Canettis in seinen Unpublizierten Lebenserinnerungen ebenfalls Tanzkurse bei Grete Wiesenthal besucht: „Veza, die immer schon für ihre Lehrerinnen geschwärmt hatte, liebte und verehrte die Wiesental, ihren Namen sprach sie auf unnachahmlich gehobene Weise, er blieb ihr sozusagen in der Nase stecken, die lang und gebogen zu einer Hülse wurde, solche Kostbarkeiten barg sie gern und gab sie nicht leicht her.“88 Nach Auskunft des Stadt- und Landesarchivs Wien war Veza Taubner hingegen nicht Schülerin der Schwarzwaldschule gewesen.89 Da Grete Wiesenthal nicht nur an der Schwarzwaldschule unterrichtet hat und 1917 ausserdem eine eigene Tanzschule gründete, ist der Tanzunterricht von Veza Taubner bei ihr durchaus plausibel.

      Ein weiterer Grund für die grosse Verehrung der Grete Wiesenthal durch Veza Taubner könnte überdies im zeittypischen Paradigmenwechsel im künstlerischen Tanz gesucht werden, der von einem Feuilletonisten noch vor dem Ersten Weltkrieg folgendermassen zusammengefasst wurde: „Ich könnte mir eine moderne Tänzerin denken, die auf Krücken tanzt.“90 Veza Taubner fehlte der linke Unterarm.

      Ob Veza Taubner an der Schwarzwaldschule als Lehrerin tätig gewesen war, kann ebenfalls nicht belegt werden, gehört aber in den Bereich des Möglichen.91 Zu ihrer Unterrichtstätigkeit schreibt Veza Taubner unter dem Pseudonym Veza Magd im Band Dreissig neue Erzähler des neuen Deutschland 1932 in den Notizen über Leben und Werk: „(…) an einem Privatuntergymnasium fand ich Anstellung als Lehrerin“92.

      Interessanterweise gibt es mit Lily Spitz auch später noch Gemeinsamkeiten, hatte die Tänzerin doch schon anfangs der 30er Jahre während eines Engagements in London ihren Wohnsitz in Hampstead, wie auch später wieder, vor ihrer endgültigen Migration nach Amerika im Jahr 1940. In Hampstead werden die Canettis wie viele weitere Wiener Künstler, Dichter und Politiker nach ihrer Flucht im Jahre 1938 Wohnsitz nehmen.

      Im erst posthum publizierten Drama Veza Canettis, Der Tiger, erscheint ein kleines Porträt einer international tätigen Tänzerin, vielleicht hat sich die Autorin von Lily Spitz inspirieren lassen:

      „ BUFF tanzt herein. Sie ist klein und ihr Kopf wird von ihrer Nase heruntergezogen. Sie kreist um Smith, ihr Blick bleibt gebannt auf seinen Schuhen haften. Sie winkt allen zu, sitzen zu bleiben, dann spricht sie in schadhaftem Englisch. I have changed my mind, I have thought, I must come in, after all.

      SMITH Smart. I’m afraid, we’ll have to speak German.

      BUFF setzt sich. Wissen Sie, dass ich Sie neulich fasziniert beobachtet habe?

      SMITH erstaunt. Mich? Mich haben Sie beobachtet?

      BUFF Im Kaffee zum Tiger, Wissen Sie, was mich an Ihnen fasziniert hat?

      SMITH Aber nein, das weiss ich nicht.

      BUFF Ihre Füsse.

      SMITH entsetzt. Meine Füsse.

      BUFF Elastisch und doch kräftig. Tanzen Sie?

      SMITH Es ist mir sehr leid, ich tanze nicht.

      BUFF Schade. Sie sind d e r Tänzer. Sie kommen aus London?

      SMITH Amsterdam.

      BUFF schleudert den Stuhl weg und saust zum Grammophon. In Amsterdam habe ich grosse Erfolge gehabt, mit diesem Tanz – sie sucht unter den Platten und legt den Türkischen Marsch von Mozart ein. Ich find ihn leider nicht hier, aber das ist auch im ständigen Reportoire – sie beginnt zu tanzen und sinkt nach dem Tanz Smith zu Füssen. Man kann hier nicht gut tanzen, zu wenig Raum. Zigarette, bitte.

      SMITH reicht ihr eine Zigarette und Feuer. Ja, natürlich. Man muss fliegen können.

      BUFF Wie Sie mich verstehen!

      SMITH Danke sehr.

      BUFF Wann sind Sie in New York.

      SMITH Ich denke im Winter.

      BUFF Dann sehen wir uns dort. Sie springt auf, macht eine Pagenverbeugung und geht durch die Mitte ab, von Pasta gefolgt.“ (DF 117 f.)

      Leider sind die meisten Freundschaften Veza Canettis aus Kindheit und Jugend nicht mehr direkt mit Quellen nachweisbar. Indirekt ergeben sich aber doch zwei wichtige Personen aus diesem Lebensabschnitt, Gerti Spitz und Alice Asriel. Den beiden Frauen kommt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für das Leben und die Netzwerke der Veza Canetti zu.

      Bei Gerti Spitz (1899–1978), die von Elias Canetti in den Aufzeichnungen 1995 als Veza Canettis Jugendfreundin bezeichnet wird, handelt es sich nicht um eine Cousine aus dem Hause Spitz-Calderon, wie auf die Schnelle kombiniert werden könnte.93 Gertrude Marianne Spitz, wie sie später heisst, ist Schauspielerin. Sie migriert in den 30er Jahren nach Amerika und lebt nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin in New York. Verheiratet ist sie mit Richard J. Spitz.

      Geboren wird Gerti Spitz in Wien als Gertrude Fuchs, sie lässt sich zur Schauspielerin ausbilden und verwendet den Künstlernamen Ariette Leslie. Sie ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tochter von Charles Fuchs, Seiden-, Schön- und Schwarzfärber an der Mollardgasse 72.94 Veza Canetti wird 1956 Soma Morgenstern, der ebenfalls in New York lebt, empfehlen, Kontakt mit ihrer Freundin aufzunehmen. Gerti Spitz habe gute Kontakte zum Kiepenheuer Verlag. Die Besitzerin des Kiepenheuer Verlags sei deren Freundin.95 Damit ist Noa Kiepenheuer gemeint, die nach dem Tod ihres Mannes Gustav Kiepenheuer 1949 in Weimar den Verlag in der DDR weiterführte. Am BRD-Zweig des Verlags von Gustav Kiepenheuer, der nach wenigen Jahren zum Verlag Kiepenheuer & Witsch wurde, war Noa Kiepenheuer nach einem Rechtsstreit nicht mehr beteiligt. Veza Canetti erwähnt in diesem Brief auch Gertis viel berühmtere Schwester, die Filmschauspielerin Olga Fabian.

      Dass Gerti Spitz zu dem Personenkreis gehört, der sich noch Ende der 50er Jahre für Veza Canettis Theaterstücke einzusetzen bereit war, offenbart ein dringender Brief von 1957 an Ingeborg Bachmann, die Vezas Theaterstück etwas zu lange behalten hatte. Veza Canetti schreibt an Ingeborg Bachmann: „Bei Ihnen liegt noch mein Lustspiel ‚der Tiger‘. Würden Sie es gütigst sofort an eine Dame in New York senden, die es dringend braucht. Die Adresse Mrs Gertrud SPITZ (…)“96

      Noch 1967 notiert Elias Canetti an seinem 62. Geburtstag zu Karten und Grüssen, die er erhält: „Aus Vezas Zeit: eine Gratulation von Edith Vogel, ein Brief von der Gerty Spitz aus Gastein.“97 Veza Canettis Jugendfreundin Gerti Spitz ist insofern interessant, als sie viele Beziehungen Veza Canettis zur deutschen und österreichischen Theater- und Verlagsszene erklären kann. Zum Beispiel die sehr frühe Bekanntschaft Veza Taubners mit Hermann Kesten. War doch dieser ab 1927 Lektor im Kiepenheuer Verlag. Noa Kiepenheuer war ab 1925 im Verlag ihres Mannes tätig, unter anderem auch als Übersetzerin.

      Im Haus der Familie Asriel in der Heine-Strasse am Praterstern in unmittelbarer Nähe der Ferdinandstrasse lernte Elias Canetti bei seinem ersten dreijährigen Wienaufenthalt 1915 im Alter von zehn Jahren, selbst ebenfalls wohnhaft in der Leopoldstadt, Josef-Gall-Gasse 5, den fast gleichaltrigen Sohn Hans Asriel kennen. Laut den Lebenserinnerungen wird er dort im Jahr 1924 beim zweiten Wienaufenthalt der Familie Canetti zum ersten Mal den Namen Vezas hören.98 Viele Freundschaften von Veza und Elias Canetti haben ihren Ursprung im Hause der Asriels. Elias Canetti schreibt dazu in Die gerettete Zunge:

      „Die interessanteste Freundin der Mutter war Alice Asriel, deren Familie aus Belgrad stammte. (…) Sie lebte in der Wiener Literatur der Periode, das universale Interesse der Mutter ging ihr ab. Sie sprach von Bahr und von Schnitzler, in leichter Art, ein wenig flatternd, nie insistent (…) Gespräche waren ihr Leben, Diskussionen, Meinungsverschiedenheiten, am liebsten hörte sie zu (…).“99

      Mit der Vorliebe von Alice Asriel einerseits für Hermann Bahr (1863–1934), einen der wichtigsten Literatur- und Kulturtheoretiker der Jahrhundertwende mit einer grossen Offenheit für neue Strömungen in Literatur


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