Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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hatte sie lange Stunden vor dem Spiegel verbracht und durch die unmöglichsten Verzerrungen ihre Lippen, die infolge eines Geburtsfehlers nach innen gewachsen waren, hinauszustülpen gesucht. Mit sechzehn Jahren war sie zu einem Schönheitskünstler gegangen und bat ihn um eine Einlage aus Gummi. Er hatte sofort eine zur Hand, streichelte ihr den sonderbar geformten Kopf und nannte einen ungeheuren Preis. ‚Tragen Sie das die ganze Nacht und so viele Stunden am Tag, als Sie nur können. In einem Monat haben Sie die schönsten Lippen, garantiert.‘ ‚Aber woher soll ich denn so viel Geld nehmen?‘ rief sie verzweifelt. ‚Sie werden doch irgendeinen guten Onkel haben oder eine liebe Tante. Sehr schön bitten, die rücken schon heraus, wenns um dem Nichterl sein Zuckergschorl geht.‘ – ‚Ja, ich werd’s versuchen‘, sagte sie kleinlaut und rannte mit Tränen in den Augen fort.

      Sie ging zu keiner Tante und keinem Onkel, sondern stahl mit grösster Vorsicht kleine Summen aus der Börse der Mutter, die nicht ganz so genau war wie der Vater und sparte das Geld in einer alten verrosteten Büchse, die neben anderem Gerümpel in der Nische hinterm Madonnenbild stand. Früher war das ein kleiner Hausaltar gewesen; dann hatte der Vater, ein Herrenschneider, von einem Maler an Zahlungsstatt ein schönes Madonnenbild bekommen; dieses wurde der Stolz der Familie und war in der ganzen Nachbarschaft bekannt. Die Muttergottes war in ein dunkelblaues Gewand gehüllt, hatte die schmalen, rosigen Hände fromm gefaltet und warf die Augen zum lichtblauen Himmel hinauf. Die rosigen Wangen hatten so etwas Gepflegtes, das an die Hände erinnerte und die Spuren keiner Arbeit verriet. Nichts gefiel den Bewunderern so gut als die Art dieser Haut, die allen unähnlich war, von denen sie bisher was wussten. Das Bild wurde vor den Altar gehängt, – den brauchte man jetzt nicht, und nie herausgenommen, weil es am Ende noch Schaden leiden könnte. Bei der fanatischen Reinlichkeit der Mutter war im ganzen Hause kein anderes Versteck so sicher. Es dauerte ein halbes Jahr, bis sie das Geld beisammen hatte. Sie rührte nie einen Groschen davon an; hie und da gaben ihr Kunden des Vaters, denen sie die Anzüge ins Haus trug, ein kleines Trinkgeld. Früher war das auf Naschereien abgegangen, mit denen sie sich die Freundschaft ihrer Gespielinnen erkaufte; das hatte sie bitter nötig. Alle Kinder scheuten sie (wegen) ihrer Hässlichkeit. Mit ihren Lippen war es so arg, dass man sie nicht einmal zu verhöhnen wagte; jedes der Kinder war davon fest überzeugt, dass sie ausgewachsen zu einer richtigen Märchenhexe werden würde.

      Da diese Scheine aber für ihre Freundinnen so einträglich waren, erhielt sie sich bis in die märchenlosen Zeiten hinein. Sobald sie zu sparen begann, hörte das mit einem Schlage auf. Die Stimmung schlug gegen sie um, als sie wochenlang nichts zum Besten gab. Sie jammerte, dass sie kein Geld habe. Sie sei jetzt schon zu erwachsen und darum geben ihr die Herren kein Geld mehr. Sie würde es jetzt auch gar nicht annehmen. Man glaubte ihr aber nicht – welcher Mann nahm sie voll? Solchen Geschöpfen kann man immer Geld geben. Die Krüppel auf der Strasse sind doch auch erwachsene Leute und die Zwerge im Zirkus auch; niemand schämt sich, ihnen ein Trinkgeld zu geben. Man sagte ihr das ruhig ins Gesicht. Sie stampfte auf, schrie zornig: ‚Ich bin doch kein Zwerg.‘ ‚Aber ein Krüppel!‘ ‚Das ist eine Lüge!‘ Sie begann zu weinen, was die Mädchen gar nicht rührte. Sie weinte auch, wenn es einem grad passte. Einmal packte eine, die sieben fette Jahre lang ihre beste Freundin gewesen war, ihren Arm und schlug ihr ganz sachlich vor, während sie wütend schluchzte: ‚Komm, wir gehen zu den Herren da an der Ecke und fragen die, was du bist.‘ Die anderen waren von dieser Idee begeistert und zerrten sie hin. Sie selbst bekam es mit der Neugierde zu tun und hoffte, der Herr werde sich so schön zu ihr benehmen wie er aussah. Die Mädchen stiessen sie in ihn hinein und riefen alle durcheinander: ‚Bitte, ist sie kein Krüppel?‘ Er, ganz verblüfft über diese Dreistigkeit, blickte auf seine Bügelfalten hinunter und brummte: ‚Warum nicht?‘ Sie waren nicht mehr beschädigt worden, sonst hätte er sich die Schuldige schon näher angesehen. So begnügte er sich mit einer einfachen Erledigung und hatte keine Ahnung, wem diese galt. Die Mädchen rissen den ‚Krüppel‘ weg und stimmten – erst in einer Entfernung von fünf, sechs Schritten, da sie sich nachträglich vor dem Herrn fürchteten – ein Triumphgeheul an. ‚Der muss es doch wissen!‘ ‚Ist doch ein feiner Herr.‘ ‚Aber er hat mich ja gar nicht angesehen.‘ ‚Weggesehen hat er.‘ ‚Er hat eben gleich genug gehabt.‘ ‚Hast du gesehen, wie er die Hand in die Tasche gesteckt hat.‘ ‚Ja natürlich, er wollte ihr sicher was geben.‘ ‚Lasst sie in Ruh, sie ist ein armes Kind.‘ ‚Warum ist sie so frech?‘ ‚Sie kann doch nichts dafür, dass sie ein Krüppel ist.‘ ‚Ihre Mutter sieht aus wie eine Putzfrau.‘ ‚Bitte, ich hab’s immer gesagt.‘ ‚Na ja du, weil du nie Zuckerln gekriegt hast.‘ ‚Aber ich hab’s doch immer gesagt.‘ ‚Wisst ihr was, die kriegt nie einen Mann.‘ ‚Ja, ich krieg einen Mann.‘ Bei dieser Drohung fand sie ihre Sprache wieder. Lange dauert es nicht mehr und das Geld ist beieinander. ‚So eine nimmt doch keiner!‘ ‚Der müsst aber dumm sein.‘ ‚Sie muss eben einen Bettler heiraten.‘ ‚Ja! Ja! Einen Bettler‘, alle lachten laut durcheinander. Das wär das Richtige. Sie wird so einen blinden Mann heiraten, mit einem Täfelchen ‚Familienvater, völlig erblindet‘. ‚Jeden Abend muss sie ihn abholen.‘ ‚Und jeden Morgen hinfahren.‘ ‚Sie kann ihm doch einen Hund kaufen. Ich habe einen mit einem Hund gesehen.‘ ‚Ich auch.‘ ‚Ich auch.‘ ‚Ich habe selbst einen Hund.‘ ‚Oh, Du hast einen Affenpinscher.‘ ‚Das ist auch ein Hund.‘ ‚Ein Schosshund ist kein richtiger Hund.‘ ‚Woher weisst du das, sagt mein Vater immer.‘ ‚Na ja, dein Vater ist ja nur ein Förster.‘ ‚Und deiner ist ein Jud, der schwindelt mit Stoffen.‘ ‚Das ist nicht wahr.‘ ‚Mein Vater hat’s selbst gesagt.‘ ‚Was hat er gesagt.‘ ‚Bei dem Juden soll man nichts kaufen, das Zeug fällt gleich auseinander.‘ ‚Weil er so dick ist.‘ ‚Meiner ist noch dicker.‘ ‚Lügnerin!‘ ‚Aber Kinder, streitet euch nicht, die kriegt doch keinen Mann!’ ‚Darauf habe ich jetzt ganz vergessen.‘ Die künftige Bettlersfrau überlegte sich noch, ob sie ihnen was von der baldigen Änderung ausplaudern soll. Ihr Geheimnis brannte ihr auf der Zunge, aber sie traute sich doch nicht zu reden. Da kann sie einfach fragen: ‚Woher nimmst Du denn das Geld dazu?‘ Was soll sie da sagen! Wenn eine zu ihrer Frau läuft und der was sagt; die hat kürzlich im ganzen Hause nach einem verlorenen Schilling gesucht. ‚Da muss ich ein Loch in der Tasche haben.‘ Das Loch fand sich, der Schilling nicht; das Loch machte ihr die Kleine später hinein. Die Mutter bat sie noch: ‚Sag dem Vater nichts, der flucht sonst was zusammen.‘ ‚Ich sage sicher nichts, darauf kannst du dich verlassen, Mutter.‘ Sie muss jetzt rasch weglaufen, bevor sie was ausplaudert; die Mutter merkt nie was, aber wenn jetzt so eine nach Haus geht und was erzählt, dann weiss sie gleich alles. Nur ungern reisst sie sich von ihren Quälgeistern los. Weinen muss sie schon, weil die ihr so gemeine Sachen sagen. Aber zu Hause ist sie ganz aus dem Häuschen vor Freude. Wenn niemand da ist, steigt sie auf den Stuhl, hebt das Bild vorsichtig herunter, nimmt die verrostete Büchse heraus, hängt das Bild gleich wieder hin – es könnte zufällig doch jemand kommen – und stellt den Stuhl an seinen Platz. Dann kriecht sie bis unter die Mitte der Ehebetten, schüttet den Inhalt der Büchse auf ihre Hand und zählt ganz langsam das Geld. Eine Münze wird neben der andern hingelegt. Sind alle schön ausgebreitet, so bildet sie eine besondere Figur daraus, jedes Mal eine andere. Manchmal ist es ein gewöhnliches Rechteck, ein anderes Mal ein Herz, dann wieder ein Auge, ein Kreis, ein schönes, regelmässiges Gesicht. Gelingt eines besonders gut, so küsst sie es auf den kalten Metallmund und ruft vor Begeisterung laut aus: ‚Du bist aber schön geworden. Willst Du einen Spiegel?‘ An die unbequeme Lage unterm Bett hat sie sich so gewöhnt, dass sie spielend ihr Spiegelchen aus der Schürzentasche herauszieht und über ihrem neuen Gesicht damit in allen möglichen Stellungen herumhantiert. Beim Einsammeln der Münzen wird jede zweimal geküsst, einmal auf der Vorder-, dann auf der Rückseite. Wenn sie unterm Bett hervorkriecht, hat sie so ein angenehmes Gefühl. Die Madonna zittert in ihrer Hand und sie fürchtet sich sehr, dass sie sie fallen lassen könnte. Vor der Zählung hat sie nie Angst. Da macht sie alles klug, sicher und geschickt. Sie merkt selbst, dass das Bild immer erst nachher schwankt. Vielleicht hält es die Madonna nicht aus ohne das Geld und wird ungeduldig, weil sie es so lange vermissen muss. Das ist aber sehr ungerecht, denn sie hat es doch viel länger als ich. Es fällt ihr nicht im Traum ein, dass die Madonna das Geld nicht braucht, weil sie schon eine Schönheit ist.“112

      Biografisch interessant ist hier, dass mit der Erzählung Die Diebin, die kein Krüppel mehr sein will, einige


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