Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler


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      Über Veza Canettis Ausbildung und Berufstätigkeit notiert Elias Canetti in seinen Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen nichts Konkretes, sei es, dass er es nicht genau wusste, sei es, dass vieles vor seiner Zeit mit ihr stattgefunden hatte. Anerkennend schreibt er jedoch rückblickend auf das Jahr 1924: „Als ich sie kennen lernte, war sie in ihrem 27. Lebensjahr, ich in meinem 20. Sie hatte mehr Lesejahre hinter sich als ich und hatte sie gut genützt. Sie war öfters und regelmässig zu Besuch in England gewesen, wo Verwandte von ihr lebten, einige in Manchester, andere in London, und Englisch war ihr als Lektüre so geläufig wie Deutsch.“125

      Veza Taubner alias Veza Magd schreibt über sich selbst in den Notizen zu den Autoren in Dreissig neue Erzähler des neuen Deutschland 1932: „An einem Privatuntergymnasium fand ich Anstellung als Lehrerin (…) seitdem Stundengeben und Übersetzungen.“126 Mit grosser Wahrscheinlichkeit hat Veza Taubner somit an einem Untergymnasium Englisch unterrichtet. Ein Zeugnis der Universität Wien, das sich im Nachlass findet, attestiert ihr in der Tat sehr gute Englischkenntnisse. Es handelt sich allerdings um kein Abschlusszeugnis der Universität, was als Hinweis auf Veza Taubners Bildungsweg gelesen werden kann. 1900 wurde bekanntlich in Wien die Angleichung der gymnasialen Mädchenausbildung an die der Knaben abgelehnt. Man beliess es beim bisherigen sechsjährigen Lyzeumsabschluss für Mädchen. „Der Lyzeumsabschluss – eine Reifeprüfung ohne Latein, mit wenig Mathematik und Naturwissenschaften – berechtigt zu Inskription als ausserordentliche Hörerin in jenen Fächern, die für das Lyzeallehramt gefordert sind – eine Art universitärer Kurzlehrgang für Lyzealschülerinnen, der in keiner Weise einem Vollstudium (für das sie im übrigen gar nicht ausreichend vorbereitet gewesen wären) entspricht und der sich überdies bald als Bildungssackgasse erweist, weil viel mehr Lehrerinnen ausgebildet werden, als Posten zur Verfügung stehen.“127 Denkbar ist aber auch, dass Veza Taubner bereits von einer Lockerung dieser Bestimmungen profitieren konnte. Im Jahre 1912 wurde nämlich in Österreich das sogenannte Normalstatut für Mädchenlyzeen erlassen, da war Veza Taubner gerade 15 Jahre alt. Die Mädchenlyzeen wurden auf „(…) sieben Klassen erweitert“ und erhielten die „unbeschränkte Möglichkeit (…)“, auch „als achtklassige Reformrealgymnasien“ geführt zu werden, „eine Chance, die in der Folge von den meisten Lyzeen ergriffen“ wurde. Damit wurde nun „Frauen erstmals ein umwegloser Zutritt zur Universität“ ermöglicht.128

      Der Entscheid darüber, ob nun Veza Taubner den einen oder anderen Bildungsweg eingeschlagen hat, kann wohl erst bei einer besseren Datenlage erfolgen. Veza Taubner hat bestimmt nicht wie ihre Cousine Lily Spitz/Calderon die Schwarzwald-Schule der legendären Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald – die 1901 ein Mädchenlyzeum eröffnet hatte und 1911 ein Mädchengymnasium – besucht, wie die Recherche im Schwarzwald-Archiv ergab. Sie kann also nicht wie ihre Cousine schon früh – als Schülerin – mit vielen interessanten Persönlichkeiten in Kontakt gekommen sein, die an dieser Reformmädchenschule unterrichteten, wie Oskar Kokoschka (Zeichnen), Adolf Loos (Architektur), Arnold Schönberg (Musik), Grete Wiesenthal (Tanz). Es besteht aber die Möglichkeit, dass Veza Taubner die Sommerkolonien der Eugenie Schwarzwald für Schülerinnen besucht hat, wo noch mehr Künstler, Dichter und Philosophen anzutreffen waren, wie Jakob Wassermann, Rainer Maria Rilke und viele weitere.129 Vielleicht erfolgte der Kontakt durch eine Mitarbeit Veza Taubners in Eugenie Schwarzwalds Wohlfahrtswerk, beispielsweise in den Gemeinschaftsküchen für Kinder, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren.130 Bestimmt aber hatte Veza Taubner spätestens anfangs der 20er Jahre indirekt Kontakt mit der Schwarzwaldschule, da ihre Cousine Lily Spitz diese besuchte.

      Tatsächlich würde das Ausbildungsprogramm der Schwarzwaldschule ausgezeichnet zu einer Dichterin vom Format einer Veza Canetti passen, wie folgende Zeilen aus der wunderbaren Biografie von Deborah Holmes mit dem Titel Langeweile ist Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald offenbaren: „Künstlerische Ausdrucksfähigkeit war ein entscheidender Punkt im inoffiziellen Programm der Schule. Schülerinnen sollten jedoch nicht im etablierten Kanon gedrillt oder zu fügsamen Dilettantinnen herangezogen werden – zu lange, so Schwarzwald, hatte die Bildung einer bürgerlichen Frau darin bestanden, eine oberflächliche Kenntnis der Künste und eine mittelmässige Fähigkeit im Zeichnen, Singen oder dem Schreiben von Versen zu erwerben. Stattdessen sollten Empfänglichkeit für die Künste und Kreativität zum täglichen Leben der Schwarzwald’schen Schulanstalten gehören. Die verschiedenen Zeitungsartikel, die Schwarzwald später über ihre Schulen schrieb, enthalten sehr klare Aussagen über die Bedeutung dessen, was sie ‚schöpferische Bildung‘ nannte. Der individuell abgestimmte Unterricht sollte die kreative Energie in jedem Kind freisetzen: Die Schule müsste versuchen, ‚mindestens die eine Künstlereigenschaft, die alle Kinder besitzen, die Vitalität, zu erwecken und zu erhalten.‘ Bildung sollte nicht als Mittel zum Zweck betrachtet werden, genauso wenig die Kindheit als vorbereitende Lebensphase, sondern als eine ‚kostbare Lebenszeit‘, die es um ihrer selbst willen zu geniessen und zu feiern galt.“131

      Bekannt ist, dass die drei späteren Schauspielerinnen Helene Weigel, Elisabeth Neumann und Alice Herdan ihre ersten Auftritte als Schülerinnen der Schwarzwaldschule 1911/12 hatten.132 Ob auch die Schauspielerin Gerti Spitz, Veza Canettis Jugendfreundin, die Schwarzwaldschule absolviert hat, ist unbekannt. Es ist aber anzunehmen, dass Gerti Spitz die drei gleichaltrigen Frauen spätestens in der Schauspielschule kennengelernt hat. Eine Passage in einem Brief Veza Canettis aus den frühen 60er Jahren weist darauf hin, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Alice Herdan, spätere Zuckmayer, ebenfalls zu den Schauspielerfreundinnen Veza Canettis gehört haben muss.133

      Eine grosse Bedeutung hat die Schwarzwaldschule für Elias Canetti – da er dort nicht nur das Drama Komödie der Eitelkeit vorlesen konnte, sondern überdies Robert Musil persönlich kennenlernte: „Die erste Folge meines gehobenen Selbstgefühls war am 17. April 1935 die Vorlesung in der Schwarzwaldschule.“134 „Danach gleich trat Musil zu mir und mir ist, als habe er von selber zu mir gesprochen, herzlich und ohne die Reserve, für die er bekannt war. … Er hatte mir den Weg freigegeben, auf seine schonende Weise, die jedes Leben respektierte und ich empfand als Billigung was vielleicht schon mehr war.“135

      Eine kleine Sensation für die Forschung um Veza Canetti bildet das Zeugnis der Universität Wien für Venetiana Taubner im Nachlass von Elias Canetti.136 Hier werden „Fräulein Venetiana TAUBNER (…) gute Sprachkenntnisse“ in Englisch attestiert, „die sie befähigen, auch nicht ganz leichte Texte zu erfassen und sich mündlich und schriftlich ziemlich gewandt auszudrücken. Ihre Aussprache ist gut.“137 Nach Auskunft der Universität Wien war die „Ablegung dieser Sprachprüfungen“ nicht „an einen vorhergehenden Unterricht an der Universität gebunden, das Zeugnis erhält durch die Anwesenheit und Unterzeichnung des Dekans einen öffentlich beglaubigten Charakter.“138

      Leider ist weder vonseiten Veza Canettis noch von Elias Canetti etwas über diese Prüfung und deren Vorbereitung bekannt. Die Universität Wien bestätigt, dass Veza Taubner „weder immatrikuliert gewesen sei noch als ordentliche oder ausserordentliche Hörerin für Lehrveranstaltungen an der Philosophischen Fakultät, an der die Sprachprüfungen abgelegt wurden, inskribiert“139 gewesen war. Dieser Sachverhalt weist darauf hin, dass Veza Taubner mit hoher Wahrscheinlichkeit eher ein Mädchenlyzeum besucht hat, das sie dann nicht zu einem Vollstudium berechtigt hat.

      Das Zeugnis für Venetiana Taubner hat an der Universität Wien vonseiten des Englischen Seminars der „Prüfer (Professor)“ Karl Luick unterschrieben. Karl Luick hatte sich als neuer Professor für Englisch gegen seinen Konkurrenten Leon Kellner, den grossen Shakespeare-Kenner, durchgesetzt, der aus antisemitischen Gründen nicht gewählt worden war. Leon Kellner hatte bis zum Zusammenbruch der Donaumonarchie einen Lehrstuhl für Englisch in Czernowitz innegehabt.

      Aufschlussreich ist, dass es im Leben Veza Canettis mehr Berührungspunkte mit Leon Kellner, dem abgewiesenen Kandidaten für die Professur in Englisch an der Universität Wien, gibt als mit Karl Luick.


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