Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


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Werte gekämpft wird – die Werte, die der neuen Generation vermacht werden sollen. Es ist ein wüstes Getümmel. Nicht die wenigen Heere weniger Gegner, sondern der erbitterte Kampf aller gegen alle. Neben Schild und Schwert (ev. noch einigen vergifteten Pfeilen) jeder geschmückt mit einer Parteifahne. Die großen Gegner, die im öffentlichen Leben einander zu freierem und froherem Kampfe gefunden haben, die Vertreter großer entgegengesetzter religiöser, philosophischer, sozialer, ästhetischer Anschauungen – auf diesem Felde machen ihnen die Streiter um einzelne Fächer – »Griechisch«, »Englisch«, »Latein in Quarta«, »Latein in Tertia«, »Handfertigkeit«, »Bürgerkunde«, »Turnen« – den Platz streitig. Alles sehr tüchtige, unersetzliche Krieger an sich; doch stiften sie nur Verwirrung, solange sie nicht ihren Platz im Heere eines der großen Streiter gefunden haben – logisch verbunden eben mit den großen Gegensätzen, deren frischer Kampfruf in den Mauern der Schule erstickt wird.

      Das engste Band aber zwischen Kultur und Schulreform – die Jugend bildet es. Die Schule ist die Institution, welche der Menschheit das Erworbene als Besitz verwahrt und stets von neuem entgegenbringt. Aber was auch die Schule leiste, es bleibt Verdienst und Leistung der Vergangenheit, wenn auch bisweilen der jüngsten. Der Zukunft kann sie nichts weiter entgegenbringen als strenge Aufmerksamkeit und Ehrfurcht. Die Jugend aber, der die Schule dient, die sendet ihr gerade die Zukunft. Ein Geschlecht empfängt die Schule, in allem Realen und allem Gewissen unsicher, selbstsüchtig vielleicht und unwissend, natürlich und unkultiviert (im Dienste der Schule muß es sich bilden), ein Geschlecht aber zugleich voll der Bilder, die es mitbringt aus dem Lande der Zukunft. Die Kultur der Zukunft ist doch schließlich das Ziel der Schule – und so muß sie schweigen vor dem Zukünftigen, das in der Jugend ihr entgegentritt. Selbst wirken lassen muß sie die Jugend, sich begnügen damit, Freiheit zu geben und zu fördern. Und so sehen wir, wie die dringendste Forderung moderner Pädagogik nichts will als Raum für die werdende Kultur schaffen. In der Jugend, die allmählich lernen soll zu arbeiten, sich selbst ernst zu nehmen, sich selbst zu erziehen, im Vertrauen zu dieser Jugend vertraut die Menschheit ihrer Zukunft, dem Irrationalen, das sie nur verehren kann, der Jugend, die nicht nur soviel mehr erfüllt ist vom Geiste der Zukunft — nein! — die überhaupt soviel mehr erfüllt ist vom Geiste, die die Freude und den Mut neuer Kulturträger in sich fühlt. Es erwacht immer mehr das Bewußtsein vom unbedingten Wert dieser neuen Jugend Froh- und Ernstsinn. Und die Forderung hat man ausgesprochen, die Gesinnung dieser Jugend solle eine öffentliche Meinung, ein Kompaß des Lebens werden. Versteht Ihr nun, Kommilitonen, warum wir uns an Euch Kulturträger wenden?

      Jugend, neue Schule, Kultur – das ist der circulus egregius, den wir immer wieder durchlaufen müssen in allen Richtungen.

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      1912

      Ich hatte einen Freund besucht, in der Absicht, in einem Gespräch Gedanken und Zweifel über die Kunst zu klären, die mir die letzten Wochen gebracht hatten. Es war schon kurz vor Mitternacht, als das Gespräch vom Zweck der Kunst die Wendung auf die Religion nahm.

      ich Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir diejenigen nennen würden, die in unserer Zeit ein gutes Gewissen im Kunstgenuß haben. Die Naiven und die Künstler nehme ich aus. Naiv nenne ich die, die von Natur aus fähig sind, in einer augenblicklichen Freude nicht einen Rausch zu empfinden – wie es uns so oft geht – sondern denen eine Freude eine Sammlung des ganzen Menschen ist. Diese Leute haben nicht immer Geschmack, ich glaube fast, ihre Mehrzahl gehört zu den Ungebildeten. Aber sie wissen, was anfangen mit der Kunst, und sie lassen sich nicht von den Kunstmoden verfolgen. Und dann die Künstler: nicht wahr – hier liegt kein Problem? Bei ihnen gehört die Kunstbetrachtung zum Fach.

      er Sie als Kulturmensch verraten ja alle Tradition. Wir sind erzogen, nach dem Wert der Kunst nicht zu fragen. L’art pour l’art!

      ich Mit Recht sind wir so erzogen. Das l’art pour l’art ist die letzte Schranke, die die Kunst vor dem Philister schützt. Sonst würde jeder Schulze über das Recht der Kunst wie über die Fleischpreise verhandeln. Aber wir haben hier Freiheit. Sagen Sie mir: was halten Sie vom l’art pour l’art? Vielmehr: was verstehen Sie überhaupt darunter? Was heißt das?

      er Das heißt ganz einfach: die Kunst ist nicht die Dienerin des Staates, nicht die Magd der Kirche, sie ist nicht mal für das Leben des Kindes. Usw. L’art pour l’art heißt: man weiß nicht wohin mit ihr – mit der Kunst.

      ich Ich glaube Sie haben Recht, was die meisten betrifft. Aber wieder nicht für uns. Ich glaube, wir müssen uns von diesem Mysterium des Philisters, dem l’art pour l’art losmachen. Für den Künstler und nur für den ist es gesagt. Für uns hat es einen anderen Sinn. Natürlich soll man nicht an die Kunst gehen, um seine eitlen Phantasien zu empfangen. Wir können uns aber doch nicht mit dem Staunen begnügen. Also »l’art pour nous«! Entnehmen wir dem Kunstwerk Lebenswerte: Schönheit, Formerkenntnis und Gefühl. »Alle Kunst ist der Freude gewidmet. Und es gibt keine höhere und wichtigere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken«, sagt Schiller.

      er Die Halbgebildeten mit dem l’art pour l’art, mit ihrer ideologischen Begeisterung und persönlichen Ratlosigkeit, mit ihrem technischen Halbverständnis können am allerwenigsten Kunst genießen.

      ich Das alles ist überhaupt von einem anderen Standpunkt aus nur Symptom. Wir sind irreligiös.

      er Gott sei Dank! wenn Sie unter Religion gedankenlose Autoritätsgläubigkeit verstehen, ja auch nur Wunderglauben, auch nur Mystik. Religion ist mit dem Fortschritt unvereinbar. Ihre Art ist, alle drängenden, expansiven Kräfte in der Innerlichkeit zu einem einzigen erhabenen Schwerpunkt anzuhäufen. Religion ist die Wurzel der Trägheit. Ihre Heiligung.

      ich Ich widerspreche Ihnen durchaus nicht. Religion ist Trägheit, wenn Sie Trägheit nämlich die beharrende Innerlichkeit und das beharrende Ziel alles Strebens nennen. Irreligiös sind wir, weil wir nirgends mehr das Beharren beachten. Bemerken Sie, wie man den Selbstzweck, diese letzte Heiligung eines Zieles herabreißt? Wie jedes einzelne, das nicht klar und ehrlich erkannt wird, »Selbstzweck« wird. Weil wir jämmerlich arm an Werten sind, isolieren wir alles. Dann wird aus der Not die obligate Tugend gemacht. Kunst, Wissenschaft, Sport, Geselligkeit – bis zum lumpigsten Individuum geht er hinunter, dieser göttliche Selbstzweck. Jeder stellt etwas dar, bedeutet etwas, ist der Einzige.

      der freund Was Sie hier nennen, sind nichts als Symptome einer stolzen, herrlichen Lebensfreude. Wir sind eben weltlich geworden, mein Lieber, und es wird Zeit, daß auch die mittelalterlichsten Köpfe das merken. Wir geben den Dingen ihre eigene Weihe, die Welt ist vollkommen in sich.

      ich Zugegeben! Was ist das mindeste, was wir von der Weltlichkeit verlangen? Freude an dieser neuen, modernen Welt. Und was hat aller Fortschritt, alle Weltlichkeit mit Religion zu tun, wenn sie uns nicht eine freudige Ruhe geben? Ich brauche Ihnen doch nicht zu sagen, daß unsere Weltlichkeit ein aufreibender Sport geworden ist? Wir sind gehetzt von Lebensfreude. Es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sie zu fühlen. Kunst, Verkehr, Luxus, alles ist verpflichtend.

      der freund Ich verkenne das nicht. Aber betrachten Sie doch die Erscheinungen. Wir haben in unserem Leben jetzt einen Rhythmus, der zwar von Antike und klassischer Gelassenheit wenig hat. Aber eine neue Art intensiver Freudigkeit ist es. Mag sie noch so oft gezwungen sich zeigen, sie ist da. Wir suchen das Freudige wagemutig. Wir haben alle eine seltsame Abenteuerlust nach dem überraschend Frohen und Wunderbaren.

      ich Sie reden sehr unbestimmt, und doch hält uns etwas ab, Sie anzugreifen. Ich fühle, daß Sie im Grunde eine Wahrheit sagen, eine unbanale Wahrheit, die so neu ist, daß sie allein schon im Entstehen Religion vermuten ließe. Trotzdem – unser Leben ist nicht auf diesen reinen Ton gestimmt. Für uns sind in den letzten Jahrhunderten die alten Religionen geborsten. Aber ich glaube nicht so folgenlos, daß wir uns der Aufklärung harmlos freuen dürfen. Eine Religion band Mächte, deren freies Wirken zu fürchten ist. Die vergangenen Religionen bargen in sich die Not und das Elend. Die sind frei geworden. Wir haben vor ihnen nicht mehr die Sicherheit, die unsere Vorfahren dem Glauben an die ausgleichende Gerechtigkeit entnahmen. Das Bewußtsein eines Proletariats,


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