Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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freund Sie irren, denn Sie meinen, der notwendige religiöse Dualismus fehle dem Pantheismus. Durchaus nicht. Ich sagte schon vorher, daß bei aller tiefen wissenschaftlichen Erkenntnis ein Gefühl der Demut vor dem kleinsten Lebenden, sogar vor dem anorganischen in uns wohnt. Nichts liegt uns ferner, als schülermäßige Überhebung. Sagen Sie doch selbst: sind wir nicht von tiefstem, mitfühlendem Verständnis für alles Geschehen? Denken Sie nur an moderne Strömungen im Strafrecht. Sogar den Verbrecher wollen wir als Menschen achten. Wir verlangen Besserung, nicht Strafe. Durch unser Gefühlsleben zieht sich der wahrhafte religiöse Antagonismus, von eindringendem Verständnis und einer Demut, die ich fast resignierend nennen möchte.

      ich In diesem Antagonismus sehe ich nur Skepsis. Eine Demut, die alle wissenschaftliche Erkenntnis verneint, weil sie mit Hume an der Geltung des Kausalgesetzes zweifelt, oder ähnliche laienhafte Spekulation nenne ich nicht religiös. Das ist einfach gefühlsselige Schwachheit. Wenn unsere Demut wiederum das Bewußtsein unseres Wertvollsten, wie Sie das Wissen nennen, untergräbt, so gibt sie keinen lebendigen, religiösen Antagonismus, sondern skeptische Selbstzersetzung. Aber ich weiß genau, daß gerade das den Pantheismus so ungeheuer behaglich macht, daß man sich in Hölle und Himmel, in Hochmut und Skepsis, in Übermenschentum und sozialer Demut gleich gemütlich fühlt. Denn natürlich – ohne ein bißchen unpathetisches, ich meine leidloses Übermenschentum geht es nicht ab. Wo Schöpfung göttlich ist, da ist der Herr der Schöpfung es natürlich erst recht.

      der freund Eines vermisse ich doch bei allem was Sie sagen. Die Erhabenheit eines allbeherrschenden Wissens konnten Sie mir nicht beschreiben. Und das ist ein Grundpfeiler unserer Überzeugung.

      ich Was ist denn dieses unser Wissen für uns? Ich frage nicht, was es für die Menschheit bedeutet. Sondern welchen Erlebniswert hat es für jeden Einzelnen? Nach dem Erlebnis müssen wir doch fragen. Und da sehe ich nur, daß dieses Wissen uns eine Gewohnheits-Tatsache geworden ist, mit der wir vom sechsten Jahre an aufwachsen bis ans Ende. Wir wiegen uns immer in der Bedeutung dieses Wissens für irgendein Problem, für die Menschheit – für das Wissen selbst. Aber persönlich geht es uns nichts an, läßt es uns kühl, wie alles Gewohnte. Was haben wir gesagt, als man den Nordpol erreichte. Eine Sensation, die bald vergessen war. Als Ehrlich die Mittel gegen die Syphilis entdeckte, Skepsis und Zynismus der Witzblätter. Eine russische Zeitung schrieb, es sei zu bedauern, daß das Laster nun freies Spiel habe. Kurz gesagt: ich glaube einfach nicht an die religiöse Erhabenheit des Wissens.

      der freund Müssen Sie denn nicht verzweifeln? Glauben Sie an nichts? Sind Sie Skeptiker an Allem?

      ich Ich glaube an unsere eigene Skepsis, unsere eigene Verzweiflung. Sie werden verstehen, was ich meine. Ich glaube nicht weniger als Sie an die religiöse Bedeutung unserer Zeit. Ja, ich glaube auch an die religiöse Bedeutung des Wissens. Ich verstehe den Schauer, den uns der Einblick in die Natur zurückgelassen hat, und vor allem empfinde ich, daß wir alle noch tief in den Entdeckungen der Romantik leben.

      der freund Und was nennen Sie die Entdeckungen der Romantik?

      ich Es ist, was ich vorhin andeutete, das Verständnis für alles Furchtbare, Unbegreifliche und Niedrige, das in unserem Leben verwoben ist. Aber all diese Erkenntnisse und tausend mehr sind kein Triumph. Sie haben uns überfallen, wir sind einfach benommen und geknebelt. Es waltet ein tragikomisches Gesetz darin, daß in dem Augenblick, wo wir uns der Autonomie des Geistes mit Kant, Fichte und Hegel bewußt wurden, die Natur in ihrer unermeßlichen Gegenständlichkeit sich auftat; im Augenblick, da Kant die Wurzeln des menschlichen Lebens in der praktischen Vernunft entdeckte, mußte die theoretische Vernunft in unendlicher Arbeit die moderne Naturwissenschaft ausbauen. – So steht es jetzt um uns. Alle die soziale Sittlichkeit, die wir mit herrlichem, jugendlichem Eifer schaffen wollen, ist gefesselt durch die skeptische Tiefe unserer Einsichten. Und heute weniger als je verstehen wir das Kantische Primat der praktischen Vernunft über die theoretische.

      der freund Im Namen des religiösen Bedürfnisses reden Sie einer zügellosen, unwissenschaftlichen Reformerei das Wort. Sie scheinen sich mit der Nüchternheit, die Sie vorhin anzuerkennen schienen, doch schlecht zu vertragen. Sie verkennen die Größe, ja die Heiligkeit der entsagungsvollen sachlichen Arbeit, die nicht nur im Dienste der Wissenschaft, sondern in einem Zeitalter naturwissenschaftlicher Bildung auch auf sozialem Gebiete geleistet wird. Eine revolutionäre Jugendlichkeit kommt dabei allerdings nicht auf die Kosten.

      ich Gewiß. Nach dem Stande unserer Kultur soll und muß auch die soziale Arbeit, statt heroisch-revolutionären Strebungen, sich einem evolutionistischen Gange unterwerfen. Aber ich sage Ihnen das eine: Wehe, wenn man darüber das Ziel vergißt, sich vertrauensvoll dem fast krebsartigen Gang der Evolution anheimgibt. Und das tut man. Deshalb kommen wir aus diesem Zustand nie und nimmer im Namen der Entwicklung heraus, sondern im Namen des Zieles. Und dies Ziel können wir nun einmal nicht äußerlich aufstellen. Der Kulturmensch hat nur einen Ort, den er sich rein erhalten kann, in dem er wirklich sub specie aeterni sein darf: das ist sein Inneres, er selbst. Und die alte und oft geplagte Not ist, daß wir selber uns verlieren. Verlieren durch all die glorreichen Fortschritte, die Sie rühmen: verlieren, fast möchte ich sagen, durch den Fortschritt. Religionen aber kommen aus der Not und nicht aus dem Glück. Und wenn pantheistisches Lebensgefühl diese reine Negativität, das Sich-selbst-Verlieren und Sich-fremd-Werden als Aufgehen im Sozialen rühmt, so ist das unwahr.

      der freund Freilich – ich wußte nicht, daß Sie Individualist seien.

      ich Das bin ich nicht, sowenig wie Sie. Individualisten setzen ihr Ich als maßgeblichen Faktor ins Leben. Ich sagte schon, daß der Kulturmensch, soweit für ihn der Fortschritt der Menschheit als selbstverständliche Maxime gilt, das nicht kann. Übrigens: diese Maxime ist so selbstverständlich in die Kultur aufgenommen, daß sie als Grundlage der Religion für die Fortgeschrittenen schon deshalb inhaltslos, bequem und gleichgültig wäre. Das nebenbei. – Es fällt mir nicht ein, Individualismus zu predigen. Nur daß der Kulturmensch sein Verhältnis zur Gesellschaft erfasse, will ich. Daß man mit der unwürdigen Lüge breche, als erfülle der Mensch sich vollkommen im Dienste der Gesellschaft, als sei das Soziale, in dem wir doch nun einmal leben, das auch die Persönlichkeit letzthin Bestimmende.

       Man mache Ernst mit der sozialistischen Maxime, man gebe zu, daß das Individuum gezwängt, in seinem Innenleben gezwängt und verdunkelt wird; und aus dieser Not gewinne man ein Bewußtsein vom Reichtum, vom natürlichen Sein der Persönlichkeit wieder. Langsam wird ein neues Geschlecht wagen, sich wieder bei sich selbst umzusehen, nicht nur in seinen Künstlern. Man wird den Druck und die Unwahrheit, die uns jetzt zwingen, erkennen. Man wird den Dualismus von sozialer Sittlichkeit und Persönlichkeit anerkennen. Aus dieser Not wird eine Religion wachsen. Und sie wird notwendig, weil noch niemals die Persönlichkeit derart hoffnungslos im sozialen Mechanismus verstrickt war. Aber ich fürchte, Sie haben mich noch nicht ganz verstanden und vermuten da Individualismus, wo ich lediglich Ehrlichkeit verlange. Und damit einen ehrlichen Sozialismus gegen den heutigen konventionellen. Gegen einen Sozialismus, den jeder anerkennt, der bei sich selbst etwas nicht im Reinen fühlt.

      der freund Wir geraten in ein fast undisputables Gebiet. Sie geben kaum Belege und berufen sich auf die Zukunft. Aber sehen Sie sich in der Gegenwart um. Sie haben den Individualismus. Ich weiß, daß Sie ihn bekämpfen. Aber Sie müssen gerade von Ihrem Standpunkt aus, meine ich, seine Ehrlichkeit anerkennen. Nirgends aber läuft der Individualismus auf Ihr Ziel hinaus.

      ich Es gibt viele Arten des Individualismus. Ich leugne nicht, daß es sogar Menschen gibt, die ganz ehrlich im Sozialen aufgehen können, es werden nicht die tiefsten und besten sein. Aber ob im Individualismus Keime zu meiner Anschauung, besser zu einer künftigen Religiosität liegen, kann ich gar nicht entscheiden. Jedenfalls erkenne ich in dieser Bewegung Anfänge. Meinetwegen die Heroenzeit einer neuen Religion. Die Heroen der Griechen sind stark wie die Götter, nur göttliche Reife, göttliche Kultur fehlt ihnen noch. So erscheinen die Individualisten mir.

      der freund Ich verlange keine Konstruktion. Aber weisen Sie mir im Gefühlsleben der Zeit diese neureligiösen Strömungen, diesen individualistischen Sozialismus nach, wie Sie in der Zeit allerorten den Pantheismus in den Gemütern erkennen. Ich sehe nichts, was Sie stützen könnte. Geistreicher Zynismus und bläßliches Ästhetentum sind nicht die Keime künftiger Religiosität.


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