Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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gefragt: ist Napoleons Bestreben, Rußland zu unterwerfen, berechtigt gewesen oder nicht? – Und ähnliches wird gar in der Klasse uferlos debattiert.

      Damit wären die vorzugsweise zur Wertung berufenen Unterrichtsfächer der Realschule betrachtet. Aber das humanistische Gymnasium hat noch seine humanistischen Werte, die den gegenwärtigen Kulturwerten gleichberechtigt zur Seite treten sollen. Darüber wird ein zweiter Artikel handeln.

      〈II. Über das humanistische Gymnasium〉

      Es ist verhältnismäßig leicht, gegen Mißstände und Verfehlungen im Unterricht zu polemisieren, gegen einen Gesichtspunkt zu kämpfen, von dem aus unterrichtet wird, oder für eine Neueinteilung der Lehrstoffe einzutreten. Sehr schwer ist es, gegen Gedankenlosigkeit zu Feld zu ziehen, Geistlosigkeit zu bekämpfen. Eigentlich unmöglich, sie läßt sich nur nachweisen. Dies undankbare Geschäft versuchten wir im vorigen für den Deutsch- und Geschichtsunterricht zu leisten. Noch schwerer ist das gleiche für die humanistischen Lehrfächer. Wir wissen gar nicht, was dieser humanistische Unterricht bezweckt (während wir vom Ziel eines Deutsch- und Geschichtsunterrichtes in einer modernen Schule immerhin einen Begriff haben).

      Wir gestehen, daß wir im Grunde sehr viel Sympathie für die humanistische Bildung haben. Mit einer Art von verbissenem Trotz lieben wir sie, weil wir in ihr eine Schulgesinnung sehen, die eine edle Ruhe sich bewahrt hat und vom darwinistischen Zwecktaumel unserer übrigen Pädagogik verschont blieb. Da lesen wir den Sitzungsbericht der »Freunde des humanistischen Gymnasiums«, und mit Staunen hören wir, daß unter allgemeinem Beifall festgestellt wird, dem Mediziner und Juristen sei die Kenntnis der griechischen Sprache von großem Nutzen. Daß der Vortragende übrigens dankbar zurückblicke auf die Jahre, in denen …, und es folgen jene Phrasen, mit denen der, der es hinter sich hat, das dicke Fell sich streichelt und auf die »Jungen« herabblinzelt.

      Dieser Ton, mit dem ein Herr jene »idealistische Gesinnung« zusamt der Kenntnis vieler Fremdwörter, welche das Gymnasium ihm »vermittelte«, gemächlich lobt, ist uns furchtbar. Peinlich ist uns jene behäbige Sentimentalität, die noch nach vierzig Jahren an der Familientafel (zwischen Fisch und Braten) die ersten Verse der Odyssee ertönen läßt. Die noch jetzt die Grammatik der Apodosis besser beherrscht als der Sohn, der schon in Prima sitzt. Die Intimität zwischen Philisterium und dem humanistischen Gymnasium ist höchst verdächtig. Wir empfinden: weil unsere Väter so innig allerlei verstaubte Gefühle mit Plato und Sophokles verbunden haben, darum müssen wir los von solcher Familienatmosphäre des Gymnasiums.

      Und dennoch haben wir wohl eine Sehnsucht, manche vielleicht eine Vorstellung sogar von dem, was unser Gymnasium sein sollte. Kein Gymnasium sei es, in dem (günstigstenfalls) Winckelmannsches Griechentum begriffen wird (denn schon lange ist die »edle Einfalt und stille Größe« zum fatalen Inventar der höheren Töchterbildung geworden). Unser Gymnasium sollte sich berufen auf Nietzsche und seinen Traktat »Vom Nutzen und Nachteil der Historie«. Trotzig, im Vertrauen auf eine Jugend, die ihm begeistert folgt, sollte es die kleinen modernen Reformpädagogen überrennen. Anstatt modernistisch zu werden und aller Ecken eine neue, geheime Nützlichkeit des Betriebs zu rühmen. Das Griechentum dieses Gymnasiums sollte nicht ein fabelhaftes Reich der »Harmonien« und »Ideale« sein, sondern jenes frauenverachtende und männerliebende Griechentum des Perikles, aristokratisch; mit Sklaverei; mit den dunklen Mythen des Aeschylos. All dem sollte unser humanistisches Gymnasium ins Gesicht sehen. In dem dürfte dann auch griechische Philosophie gelehrt werden, was jetzt so verboten sein müßte wie die Lektüre von Wedekind. Jetzt nämlich lernt man nach einem Handbuch, daß Thales das Wasser für den Urstoff hielt, Heraklit aber das Feuer, Anaxagoras jedoch den Nous, dagegen Empedokles Liebe und Haß (und stürzte sich in den Ätna), Demokrit aber die Atome, und daß die Sophisten den alten Glauben zersetzten. (Zu dem, was die Philosophie am stärksten diskreditiert, gehört solcher Unterricht.)

      Wie gesagt — wir kennen oder ahnen ein humanistisches Gymnasium, das wir lieben würden. In dieser Schule wäre griechische Plastik mehr als ein schmutziger Pappdruck, der gelegentlich für vier Wochen im Schulzimmer hängt. Solches Gymnasium könnte uns zum mindesten helfen. Die Pädagogen mögen sich fragen, ob sie uns diese Schule schaffen dürfen, die gegenwartsfeindlich, undemokratisch, hochgemut sein müßte und keine bequemen Kompromisse mit Oberrealschule, Realgymnasium, Reformgymnasium eingehen würde! Wenn wir aber im Namen der beiden Jahrtausende nach Christus solche Schule nicht haben dürfen, dann nehmen wir einen schweren, gefaßten Abschied vom Gymnasium.

      Aber nicht länger dieser verwaschene Humanismus! Jetzt haben wir Ästhetentum ohne ästhetische Bildung in unseren Lektürenstunden. Geschwätz von σωφροσύνη, ohne die Maßlosigkeit des alten Asien zu ahnen. Platonische Dialoge ohne Lektüre des Symposion (vollständig, meine Herren, vollständig!).

      Das aber bekennen wir nochmals: wir wissen nicht, was man meint, wenn man diese heutige humanistische Bildung uns vorsetzt. Aus jedem klassischen Buche lesen wir die »besten Stellen«, nur der Primus kann Griechisch ohne »Klatschen« verstehen, nur die notorisch Streberhaftesten machen freiwillige humanistische Arbeiten. Wir Schüler, die drinnen stehen, haben über und über genug von jener Heuchelei, die Geistlosigkeit und Urteilslosigkeit mit dem Mantel »griechischer Harmonie« deckt! Schwarze Liste:

      Über Horaz: »Wir haben hier Horaz zu lesen; ob er uns gefällt oder nicht, ist ja ganz gleich; er steht im Lehrplan.« Äußerung eines Lehrers.

      Bei einem Einwand gegen eine Beweisführung bei Cicero: »Wir wollen hier ja nicht unsere Ansichten entwickeln, sondern wissen, was Cicero sagt.«

      Zum Kapitel »Klassische Kunst«: auf einem Gymnasium wird eines Tages kunstgeschichtlicher Unterricht eingeführt, der nach mehreren Wochen ebenso plötzlich, wie er kam, wieder verschwindet. Der Lehrer erklärt: »Ja, ich habe in jeder Woche so und soviel Stunden zu geben; damals hatte ich noch eine Stunde pro Woche zu wenig, gab also Kunstgeschichte. Jetzt ist das wieder in Ordnung.«

      »Ach, glauben Sie doch nicht, daß man Ihnen Ihre Begeisterung für die Antike glaubt«, sagte zu einem Oberprimaner eines humanistischen Gymnasiums ein Lehrer.

      —————

      Eine nicht gehaltene Rede an die Schuljugend

      1913

      Kameraden! Wenn wir schon irgendeinmal an uns gedacht haben, nicht an uns als Einzelne, sondern an uns als Gemeinschaft, als Jugend, oder wenn wir von der Jugend gelesen haben, – immer wieder dachten wir uns, daß sie wohl romantisch sei. Tausende von guten und schlechten Gedichten sagen es, von Erwachsenen hören wir, daß sie alles darum geben würden, noch einmal jung zu sein. Das ist doch alles Wirklichkeit, die wir wohl in Augenblicken ganz überraschend und froh fühlen, wenn wir eine gute Arbeit gemacht haben, eine Kletterpartie, etwas gebaut haben, oder eine mutige Erzählung lesen. – Kurz und gut: ungefähr so, wie mir plötzlich einmal – ich weiß noch, es war auf einer Treppenstufe – zum Bewußtsein kam: ich bin doch noch jung (ich war wohl 14 Jahre alt, und was mich so froh machte, war, daß ich von einem Luftschiff gelesen hatte).

      Jugend ist ganz umgeben von Hoffnung, Liebe und Bewunderung: derer, die noch nicht jung sind, der Kinder, und derer, die es nicht mehr sein können, weil sie ihren Glauben an ein Besseres verloren haben. Das fühlen wir: daß wir Repräsentanten sind, jeder einzelne von uns steht für Tausende, so wie jeder Reiche für Tausende von Proletariern, jeder Begabte für Tausende Unbegabter steht. Wir dürfen uns fühlen als Jugend von Gottes Gnaden, wenn wir es so verstehen.

      Und nun denke ich mir, wir wären auf einem Jugendkongreß mit Hunderten oder Tausenden junger Teilnehmer. Plötzlich höre ich Zwischenrufe: Phrase – Unsinn! und ich sehe auf die Bänke, und neben ganz wenigen von Stürmischen, die mich unterbrechen, liegen da Hunderte fast schlafend. Einer oder der andere richtet sich ein wenig auf, scheint mich aber nicht ernst zu nehmen.

      Da fällt mir etwas ein:

      »Ich sprach von der Jugend von Gottes Gnaden, ich sprach von unserem Leben, wie es in der Tradition ist, der Literatur, bei den Erwachsenen. Aber die Jugend, zu der ich rede, schläft oder zürnt. Etwas muß faul sein


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