Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Die Kunst soll kein Morphium gegen den Willen sein, der in einer schmerzlichen Gegenwart leidet. Dafür steht uns die Kunst zu hoch (und Pubertät läßt sich nicht durch Lyrik schlichten). Der Oberlehrer zwar gesteht jene Romantik uns zu, der die Kunst ein Betäubungsmittel ist: mögen sie sich in eine harmlose und allgemeine Vergangenheit versenken (Schiller und Goethe, Hölderlin und Lenau, Rembrandt, Böcklin und Beethoven); ein Strom von Gefühlen soll sie entmannen. Aus dieser Schulromantik, die den Geist zum Genußmittel verknechtet, sind wir erwacht. Hyperion mag vielen aus der Seele sprechen – aber es sind schlafende Seelen. Helden und Dichter sind ihnen eine Schar von überschönen Traumgestalten, an die sie sich klammern um nicht zu erwachen.

      Kein Schiller oder Hölderlin hilft uns. Keine Jugend hilft uns, die über ihren Lieblingsdichtern sitzt und die Schule Schule sein läßt. Wenn sie sich endlich offenen Auges erkennt, wird sie sehen, wieviel Feigheit und endlose Müdigkeit in ihr war. Dann wird sie den Hohn empfinden, der sie romantisch nennt. In allen wird der Jugendgeist erwachen, sie werden nicht mehr als einzelne an der Schule vorbeileben. »Romantik« wird dann heißen der wirkende Wille zu einer neuen Jugend und ihrer Schule.

      Eine geistige Wirklichkeit wird sich auftun. Nun erst glauben sie an Kunst und Geschichte; Dichter und Helden bürgen für die künftige Schule. Und diese Jugend, welche gläubig dient dem wirklichen Geiste, wird romantisch sein.

      Aber wir mißtrauen denen, die ihren Rausch von einem Geist empfangen, dem sie nicht dienen. Diese sind ungläubig.

      —————

      1913

      Vielleicht ist man versucht, alle theoretischen Erörterungen über Moralunterricht von vornherein mit der Behauptung abzuschneiden: moralische Beeinflussung ist eine durchaus persönliche Angelegenheit, die sich jeder Schematisierung und Normierung entzieht. Mag dieser Satz richtig sein oder nicht; die Tatsache, daß Moralunterricht als allgemein und notwendig gefordert wird, kümmert sich jedenfalls nicht um ihn; und solange Moralunterricht theoretisch gefordert wird, muß die Forderung auch theoretisch geprüft werden.

      Im folgenden soll versucht werden, den Moralunterricht rein auf sich selbst zu stellen. Es soll nicht gefragt werden, inwieweit eine relative Besserung gegenüber einem unzulänglichen Religionsunterricht erreicht wird, sondern wie der Moralunterricht zu absoluten pädagogischen Forderungen sich verhält.

      Wir stellen uns auf den Boden der Kantischen Ethik (denn für diese Frage ist eine Verankerung im Philosophischen unentbehrlich). Kant unterscheidet Legalität und Moralität, ein Unterschied, der gelegentlich ausgedrückt wird: »Bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen.« Zugleich ist damit eine weitere Bestimmung des sittlichen Willens gegeben: er ist »motivfrei«, einzig bestimmt durch das Sittengesetz, die Norm: handle gut.

      Durch zwei paradoxe Sätze Fichtes und des Konfuzius fallt ein helles Licht auf diese Gedankenreihe.

      Fichte leugnet die ethische Bedeutung des »Konflikts der Pflichten«. Augenscheinlich gibt er da nur eine Deutung unseres Gewissens; wenn wir in Erfüllung einer Pflicht eine andere vernachlässigen müssen, so geraten wir wohl in eine – sozusagen – technische Bedrängnis, doch innerlich fühlen wir uns nicht schuldig. Denn das Sittengesetz verlangt nicht, daß dies und jenes Materielle, sondern, daß das Sittliche getan werde. Das Sittengesetz ist Norm des Handelns, aber nicht sein Inhalt.

      Nach Konfuzius birgt das Sittengesetz die doppelte Gefahr, daß es dem Weisen zu hoch, dem Toren zu niedrig erscheine. Das besagt: der empirische Vollzug der Sittlichkeit ist niemals in der sittlichen Norm bezeichnet – und so ist es Überschätzung, wenn man in ihr schlechthin jedes empirische Gebot gegeben glaubt; gegen den Toren aber wendet sich Konfuzius, indem er meint, daß jede noch so legale Tat sittlichen Wert nur erhält, wenn sie sittlich gemeint war. – Damit kommen wir wieder zu Kant und seiner berühmten Formulierung: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« Dieser Satz, richtig verstanden, enthält die ganze Grundgesinnung der Kantischen Ethik, auf die allein es uns hier ankommt. »Wille« bedeutet in diesem Zusammenhang nichts Psychologisches. Der Psycholog konstruiert in seiner Wissenschaft eine psychologische Tat, und bei deren Zustandekommen bildet der Wille als Ursache höchstens einen Faktor. Dem Ethiker kommt es auf das Sittliche der Tat an, und sittlich ist sie nicht, sofern sie aus zahlreichen Gründen, sondern sofern sie aus der einen sittlichen Absicht hervorging; der Wille des Menschen faßt seine Verpflichtung gegen das Sittengesetz auf; darin erschöpft sich seine ethische Bedeutung.

      Wir stehen hier vor einer Überlegung, die geeignet scheint, den Ausgangspunkt aller Erwägungen über sittliche Erziehung zu bilden. Denn die Einsicht in die Antinomie der sittlichen Erziehung, die vielleicht nur ein Einzelfall einer allgemeinen Antinomie ist, liegt vor uns:

      Ziel der sittlichen Erziehung ist Bildung des sittlichen Willens. Und doch ist nichts unzugänglicher, als eben dieser sittlicher Wille, da er als solcher keine psychologische Größe ist, die man mit Mitteln behandeln könnte. In keiner einzelnen empirischen Beeinflussung haben wir die Gewähr, wirklich den sittlichen Willen als solchen zu treffen. Der Hebel für die Handhabung der sittlichen Erziehung fehlt. So unzugänglich das reine und doch allein gültige Sittengesetz ist, so unnahbar ist dem Erzieher der reine Wille.

      Diese Tatsache in ihrem ganzen Gewicht zu begreifen, ist Voraussetzung einer Theorie der sittlichen Erziehung. Sogleich muß gefolgert werden: da der Vorgang der sittlichen Erziehung prinzipiell jeder Rationalisierung und Schematisierung widerstreitet, so kann er nichts mit irgendeiner Art von Unterricht zu tun haben. Denn im Unterricht besitzen wir das (prinzipiell) rationalisierte Erziehungsmittel. – Wir begnügen uns hier mit dieser Deduktion, um unten diesen Satz in der Betrachtung des gegebenen Moralunterrichts lebendig zu machen.

      Ist nun etwa der Bankerott der sittlichen Erziehung die Folge dieser Überlegungen? Das wäre nur dann der Fall, wenn Irrationalismus den Bankerott der Erziehung bedeutete. Irrationalismus bedeutet lediglich den Bankerott einer exakten Erziehungswissenschaft. Und der Verzicht auf eine wissenschaftlich geschlossene Theorie der moralischen Erziehung scheint uns wirklich die Folge des Gesagten. Immerhin soll im folgenden versucht werden, die Möglichkeit einer sittlichen Erziehung als eines Ganzen, wenn auch nicht in systematischer Geschlossenheit im einzelnen, zu entwerfen.

      Hier scheint das Prinzip der Freien Schulgemeinde, der sittlichen Gemeinschaft grundlegend. Die Form, in der in ihr die sittliche Erziehung vor sich geht, ist Religiosität. Denn diese Gemeinschaft erlebt immer aufs neue einen Prozeß in sich, der Religion erzeugt und religiöse Betrachtung weckt, den Prozeß, den wir »Gestaltgewinnung des Sittlichen« nennen möchten. Wie wir schon sahen, steht das Sittengesetz jedem Empirisch-Sittlichen (als einem Empirischen) beziehungslos fern. Und doch erlebt die sittliche Gemeinschaft es immer wieder, wie die Norm sich umsetzt in eine empirische legale Ordnung. Bedingung eines solchen Lebens ist Freiheit, die dem Legalen seine Einstellung auf die Norm ermöglicht. Durch diese Norm aber wird der Begriff der Gemeinschaft erst gewonnen. Das Ineinander von sittlichem Ernst im Bewußtsein gemeinschaftlicher Verpflichtung und von Bestätigung der Sittlichkeit in der Ordnung der Gemeinschaft, scheint das Wesen der sittlichen Gemeinschaftsbildung zu sein. Aber es widerstrebt als ein religiöser Prozeß jeder näheren Analyse.

      Damit stehen wir vor einer eigenartigen Umkehrung sehr aktueller Behauptungen. Während sich heute allerorts die Stimmen mehren, die Sittlichkeit und Religion für prinzipiell unabhängig voneinander halten, scheint es uns, daß erst in der Religion, und nur in der Religion der reine Wille seinen Inhalt findet. Der Alltag einer sittlichen Gemeinschaft ist religiös geprägt.

      Dies ist theoretisch und positiv über sittliche Erziehung zu sagen, bevor eine Kritik des bestehenden Moralunterrichtes gegeben werden kann. Und auch bei dieser Kritik werden wir uns stets die bezeichnete Gesinnung gegenwärtig halten müssen. Rein dogmatisch gesagt liegt die tiefste Gefahr des Moralunterrichts in der Motivation und Legalisierung des reinen Willens, d. h. in der Unterdrückung der


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