Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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daß jeder der folgenden Fälle typisch sei. Aber es soll doch die Ansicht zugrunde gelegt werden, ein brauchbares System müsse gewisse äußerste Möglichkeiten ausschließen. Im folgenden einige dieser Möglichkeiten ohne Kommentar:

      In einer Obersekunda werden eine Anzahl Gedichte Walthers von der Vogelweide in der Ursprache gelesen. Sie werden übersetzt und einige werden auswendig gelernt. Das alles nimmt eine Reihe von Unterrichtsstunden in Anspruch. Der Ertrag dieser Stunden für den Schüler in ästhetischer Hinsicht ist die beständig wiederkehrende Äußerung des Lehrers, im Gegensatz zu Homer verwende Walther keine Flickwörter.

      Einige Äußerungen, die den ästhetischen Standpunkt Goethe gegenüber bezeichnen: »Goethe ist überhaupt ganz realistisch, man muß nur verstehen, was er meint.« Oder: »Es ist das Eigentümliche in Goethes Werken, daß jedes Wort seinen Sinn hat, und zwar meist einen schönen, passenden.«

      Oder: In einer höheren Klasse werden die Nibelungen in der Übersetzung, darauf in der Ursprache gelesen; ein bis zwei Abschnitte bilden die häusliche Lektüre; sie werden im Unterrichte nacherzählt. Nachdem so die Übersetzung durchgenommen ist, wird das Lied vom Lehrer in der Ursprache aus dem Lesebuche, das auch die Schüler vor sich haben, vorgelesen und teilweise übersetzt, teils durch Übersetzungsanleitungen kommentiert. Solche Durchnahme dauert kaum unter einem halben Jahre; und damit ist dann die Lektüre dieser Dichtung durchaus erschöpft. Auf den inneren Gehalt wird schlechterdings mit keinem Worte eingegangen.

      Entsprechend kann sich die Schulbehandlung von »Hermann und Dorothea« gestalten. Es werden im Unterricht Stunde für Stunde in gemeinsamer Arbeit Dispositionen angefertigt (die jedoch stets auf die vom Lehrer gewünschte hinauslaufen); eine dieser Dispositionen folgt:

      «4. Gesang: Euterpe.

      I. Die Mutter sucht den Sohn:

      a) auf der Steinbank,

      b) im Stall,

      c) im Garten,

      d) im Weinberg,

      e) im Wald.

      II. Die Mutter findet den Sohn unter dem Birnbaum.

      III. Gespräch zwischen Mutter und Sohn.

      1. Hermanns Entschluß.

      a) Die Not der Mitmenschen,

      b) die Nähe des Feindes,

      c) Hermanns Entschluß zu kämpfen.

      2. Der Mutter Ermahnung.

      3. Hermanns Geständnis.

      4. Vermittelnder Plan der Mutter.»

      Jede solche Disposition ist zu Hause auswendig zu lernen und mit verbindendem Text wiederzuerzählen. Womöglich mehrere Male in einer Stunde. Die aufsatzmäßige Behandlung des Gedichtes ergab die Themen: »Inwiefern ist der erste Gesang von ›Hermann und Dorothea‹ die Exposition des Gedichts?« (Man bemerke, wie in Ermanglung eines geistigen Eindringens die Dichtwerke in den Schulen so oft technisch zerfetzt werden!) Und: »Inwiefern ist das Gewitter in ›Hermann und Dorothea‹ symbolisch?« In diesem Aufsatz wurde eine Darstellung des Gewitters als symbolischer Ausgleich der Spannungen beim Epos, vor allem der erotischen Spannung zwischen den Liebenden (!), verlangt.

      Eine Wertung des Gedichtes gibt der Unterricht nicht. Für die meisten Schüler aber ist es gewertet; der Name der Dichtung schon verursacht ihnen Übelkeit.

      »Minna von Barnhelm« wird disponiert.

      »Egmont« wird disponiert. Eine Probe:

      »Egmont und der Secretär erledigen:

      I. Amtsgeschäfte:

      a) politische,

      b) militärische.

      II. Kriminalgeschäfte:

      a) Geldangelegenheiten,

      b) Warnung des Grafen Oliva.«

      Wir schließen diese schwarze Liste, die wohl jeder Schüler beliebig verlängern könnte, mit einigen charakteristischen Worten eines Lehrers, die das Aufsatzwesen beleuchten. Der Schüler hält eine Ansicht, deren Beweis von ihm gefordert wird, für unrichtig und begründet dies dem Lehrer gegenüber zureichend. Die Antwort lautet, es handele sich in den Aufsätzen in erster Linie um Stilübung und die darin behandelten Stoffe seien nicht so wichtig, daß die Schüler sich Gewissensbisse zu machen brauchten, wenn sie etwas schrieben, was sie für unrichtig hielten. – Einer solchen Anschauung entspricht es, wenn bei der Rückgabe von Aufsätzen der Lehrer schroff entgegengesetzte Werturteile verschiedener Schüler regelmäßig mit den Worten begleitete: »Das können wir gelten lassen.«

      Wir haben ohne Unterbrechung aufgezählt. Und nur dies möchten wir bemerken: in einem solchen Unterrichte stelle man sich eine Anzahl Schüler vor, denen es um Literaturfragen ernst ist. Der Unterricht bemüht sich nicht um ein ernsthaftes Verhältnis zum Kunstwerk. Bis zur Erschöpfung wird es inhaltlich und vielleicht formal analysiert, doch zu einer fruchtbar werdenden, d. h. vergleichenden Betrachtung kommt es nicht; es fehlen ja die Maßstäbe. So ergibt es sich: die Dichtungen der Klassik – und sie vor allem kommen in Betracht – erscheinen der Mehrzahl der Schüler als völlig willkürliche, jedes lebendigen Zusammenhanges entbehrende Spielereien für Ästhetiker; erscheinen unendlich trocken jedem, der seine Zeit mit »Nützlicherem« ausfüllen kann.

      Wahrhaft verhängnisvoll aber wird dieser Zustand, wo es sich um moderne Kunst handelt. Vielleicht aber ist das schon zuviel gesagt. In den meisten Fällen handelt es sich gar nicht um moderne Kunst. Da dient denn zur Maxime etwa folgendes Wort eines in Oberprima unterrichtenden Lehrers: »Weiter als bis Kleist gehe ich mit Ihnen nicht. Modernes wird nicht gelesen.« Es sollte einmal ein deutscher Dichter oder Künstler unserer Zeit dem deutschen Unterricht beiwohnen und hören, wie da von moderner Kunst gesprochen wird (übrigens ist bei diesen Herren der Begriff »modern« ganz umfassend; große entgegengesetzte Strömungen bestehen nicht). Ein Herr kann vom Katheder herab lächerliches und grundloses Zeug über die Sezession sagen: »diese Leute wollen immer nur das Häßliche malen und erstreben nichts, als möglichst große Ähnlichkeit« – es darf nicht widersprochen werden. Der Moderne gegenüber steht, wenn sie einmal genannt wird, alles frei. »Ibsen – wenn ick schon det Schimpansengesicht sehe!« (Äußerung eines Lehrers.)

      Da gibt es keine überlieferten, will also sagen gültigen Urteile. Die öffentliche Meinung übt noch keinen Zwang aus. Da ist alles »Geschmackssache«, die Schule kennt hier keine Verantwortung ihrer Zeit gegenüber. Nirgends vielleicht wird es deutlicher als hier, wie unfähig die Schule ist, aus sich selbst heraus zu werten. So erzeugt die Schule eine öffentliche Meinung der Gebildeten, deren literarisches Glaubensbekenntnis lautet: Goethe und Schiller sind die größten Dichter – die sich aber gelangweilt von ihren Dramen abwendet und der die moderne Kunst ein Gegenstand des Spottes oder verantwortungslosen Geredes wird.

      Entsprechendes ist im Geschichtsunterricht die Regel. Aus einem sehr einfachen Grunde kann hier nicht gewertet werden. Politische Geschichte läßt sich nicht werten und Kulturgeschichte gibt es nicht. Denn innere Geschichte, die im Unterricht eine immer größere Rolle zu spielen beginnt, ist ja noch nicht Kulturgeschichte. Dazu macht sie erst der Gesichtspunkt. Der Blickpunkt aber auf unsere Kultur, als das Ergebnis der Jahrtausende, fehlt. Von der Entwickelung des Rechts, der Schule, der Kunst, der Ethik, der modernen Psyche schweigt, bis auf wenige Daten, dieser Unterricht. Der nüchterne Betrachter mag sich fragen, ob dieser Geschichtsunterricht ein Kulturbild gibt oder nicht vielmehr selbst eines darstellt! Ein einziger Punkt ist es, an dem der Geschichtsunterricht schließlich wertet: das ist der Augenblick, wo am Horizonte die Sozialdemokratie auftaucht. Aber welche Überzeugungskraft kann eine Wertung haben, die ganz offenbar nicht um der Erkenntnis willen (denn dann wäre stets gewertet worden), sondern aus Zweckgründen geschieht!

      Auf dieser Grundlage bietet der Geschichtsunterricht das unerfreulichste Bild. Entweder gilt es ein Vorbeten oder Wiederkäuen zusammenhangloser oder oberflächlich verbundener Tatsachen aller Art – oder man sucht sich den »Kulturperioden« einmal bewußt zu nähern. Da paradieren denn


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