Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
im weitesten Sinne den historischen Religionen an.
der freund Sie reden auch hier von Ehrlichkeit. Also sollen wir zu diesem Standpunkt des egozentrischen Menschen zurück?
ich Ich glaube, Sie mißverstehen mich systematisch. Ich spreche von zwei Ehrlichkeiten. Der vor dem Sozialen und der, die ein Mensch nach der Erkenntnis seiner sozialen Gebundenheit hat. Ich verabscheue nur die Mitte: die verlogene Primitivität des komplizierten Menschen.
der freund Und nun glauben Sie wirklich, inmitten des religiösen und kulturellen Chaos, in dem die Führenden gebunden sind, die neue Ehrlichkeit aufzurichten? Trotz Décadence und Mystik, Theosophen, Adamiten und unendlicher Sekten? Denn auch in denen hat jede Religion erbitterte Feinde. Sie verdecken die Kluft zwischen Natur und Geist, Ehrlichkeit und Lüge, Individuum und Gesellschaft – oder wie Sie es gruppieren wollen.
ich Nun nennen Sie selbst die Mystik die Feindin der Religion. Nicht nur überbrückt sie die Schärfe religiöser Problematik – sie ist zugleich passend und sozial. Aber bedenken Sie, wie weit dies auf den Pantheismus treffen würde. – Das neu erwachende, religiöse Gefühl aber trifft es nicht. So wenig, daß ich in der Geltung und Ausbreitung der Mystik und Decadence sogar seine Symptome erblicke. Doch erlauben Sie, daß ich es näher erkläre: ich sagte schon, daß ich den Augenblick dieser neuen Religion – ihrer Grundlegung – historisch festlege. Es war der Augenblick, da Kant die Kluft zwischen Sinnlichkeit und Verstand aufriß und da er in allem Geschehen die sittliche, die praktische Vernunft waltend erkannte. Die Menschheit war aus ihrem Entwicklungsschlaf erwacht, zugleich hatte das Erwachen ihr ihre Einheit genommen. Was tat die Klassik? Sie vereinte noch einmal Geist und Natur: sie betätigte die Urteilskraft und schuf die Einheit, die immer nur eine Einheit des Augenblickes, der Ekstase, der großen Schauenden sein kann. Ehrlich, grundlegend können wir sie nicht erleben. Grundlage des Lebens kann sie nicht werden. Sie bedeutet seine ästhetische Höhe. Und wie die Klassik ästhetische Reaktionserscheinung war, in dem schneidenden Bewußtsein, daß es den Kampf um die Totalität des Menschen gelte, so nenne ich auch Mystik und Decadence Reaktionserscheinungen. Das Bewußtsein, das in zwölfter Stunde aus der Ehrlichkeit des Dualismus sich retten will; aus der Persönlichkeit fliehen will. Aber Mystik und Decadence führen einen aussichtslosen Kampf: sie negieren sich selbst. Die Mystik durch die gesuchte scholastisch-ekstatische Art, mit der sie das Sinnliche als Geistiges faßt, oder beides als Erscheinung des wahren Übersinnlichen. Zu diesen hoffnungslosen Spekulationen zähle ich den Monismus. Ich nenne es unschädliche Denkerzeugnisse, die einen ungeheuern Aufwand suggestiblen Gemütes brauchen und, wovon wir schon sprachen, das Geistreiche ist die Sprache der Mystik – schlimmer die Décadence, aber für mich das gleiche Symptom und die gleiche Unfruchtbarkeit. Sie sucht die Synthese im Natürlichen. Sie begeht die Todsünde, den Geist natürlich zu machen, ihn als selbstverständlich zu nehmen, nur kausal bedingt. Sie leugnet die Werte (und damit sich selbst), um den Dualismus von Pflicht und Person zu bezwingen.
der freund Sie wissen vielleicht, wie es so manchmal geht. Man denkt eine Zeitlang angestrengt, glaubt einem neuen Unerhörten auf der Spur zu sein und sieht sich plötzlich schaudernd vor einer ungeheuern Banalität. Und so geht es mir. Ich frage mich eben unwillkürlich: was ist an dem, wovon wir reden? Ist es nicht eine Selbstverständlichkeit, ein Nicht-Redenswertes, daß wir in einem Zwiespalt von Individuellem und Sozialem leben? Jeder hat ihn in sich erfahren, erfährt ihn täglich. Gut, wir haben die Kultur und den Sozialismus zum Siege gebracht. Und damit ist alles entschieden. – Sie sehen – ich habe jeden Blick, jedes Verständnis verloren.
ich Und nach meiner Erfahrung wiederum steht man vor einer tiefen Wahrheit, wenn man eine Selbstverständlichkeit um einen Grad vertieft, vergeistigt, möchte ich sagen. Und so ist es uns mit der Religion ergangen. Gewiß, Sie haben Recht in dem was Sie sagen. Aber machen Sie einen Zusatz. Dieses Verhältnis sollen wir aber nicht als ein technisch-notwendiges fassen, das aus Äußerlichkeit und Zufall geboren wurde. Nehmen wir es als sittlich-notwendig, durchgeistigen wir wieder einmal die Not zur Tugend! Gewiß, wir leben in einer Not. Aber wertvoll wird unser Verhalten nur, indem es sich sittlich begreift. Hat man sich denn das Furchtbare, Unbedingte gesagt, das in der Ergebung der Person unter sozialsittliche Zwecke steckt? Nein! Warum nicht? Weil man vom Reichtum und Schwergewicht der Individualität tatsächlich nichts mehr weiß. So wahr ich Menschen des täglichen Lebens kenne, sage ich Ihnen, daß diese das Körpergefühl ihrer geistigen Persönlichkeit verloren haben. Im Augenblick, wo wir das von neuem finden und uns unter die kulturelle Sittlichkeit beugen, sind wir demütig. Dann erst erhalten wir das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, von der Schleiermacher spricht, statt einer konventionellen Abhängigkeit. – Aber ich kann Ihnen das vielleicht kaum sagen, weil es sich auf einem so neuen Bewußtsein persönlicher Unmittelbarkeit gründet.
der freund Nochmals, Ihre Gedanken haben einen steilen Flug. So, daß sie sich von aller Problematik der Gegenwart reißend schnell entfernen.
ich Das erwartete ich am wenigsten zu hören; der ich den Abend, die Nacht lang von der Not der Führenden sprach.
der freund Und doch, Glauben und Wissen heißt die Parole unserer religiösen Kämpfe. Kein Wort sprachen Sie davon. Ich füge hinzu, von meinem Standpunkt eines Pantheismus oder Monismus gibt es diese Frage allerdings nicht. Aber Sie hätten sich damit abzufinden.
ich Jawohl: indem ich sage, daß das religiöse Gefühl in der Gesamtheit der Zeit wurzelt; zu der gehört das Wissen. Wenn nicht das Wissen selbst problematisch ist, wird eine Religion, die bei dem Dringenden beginnt, sich um das Wissen nicht zu kümmern haben. Und es hat wohl kaum Zeiten gegeben, in denen das Wissen natürlicherweise problematisch angefochten war. Soweit haben es erst historische Mißverständnisse gebracht. – Und dieses modernste Problem, von dem die Blätter voll sind, entsteht, weil man sich nicht von Grund auf nach der Religion der Zeit fragt; sondern man fragt, ob eine der historischen Religionen in ihr noch Unterkunft finden könne, und wenn man ihr Arme und Beine abschnitte und den Kopf dazu. – Ich unterbreche mich hier – es ist ein weitläufiges Lieblingsthema.
der freund Mir fällt ein Wort von Walter Calé ein. »Nach einer Aussprache glaubt man stets, das ›Eigentliche‹ nicht gesagt zu haben.« Vielleicht haben Sie jetzt ein ähnliches Gefühl.
ich Das habe ich. Ich denke daran, daß eine Religion letzthin niemals nur Dualismus sein kann — daß die Ehrlichkeit und die Demut, von der wir sprachen, ihr sittlicher Einheitsbegriff ist. Ich denke daran, daß wir nichts über den Gott und die Lehre dieser Religion und wenig über ihr kultisches Leben sagen können. Daß das einzig Konkrete das Gefühl einer neuen und unerhörten Gegebenheit ist, unter der wir leiden. Ich glaube auch, daß wir schon Propheten gehabt haben: Tolstoi, Nietzsche, Strindberg. Daß schließlich unsere schwangere Zeit einen neuen Menschen finden wird. Neulich hörte ich ein Lied. So wie dieses schelmische Liebeslied es sagt, glaube ich an den religiösen Menschen.
Daß doch gemalt all deine Reize wären
Und dann der Heidenfürst das Bildnis fände:
Er würde dir ein groß’ Geschenk verehren
Und legte seine Kron’ in deine Hände.
Zum rechten Glauben müßte sich bekehren
Sein ganzes Reich bis an sein fernstes Ende.
Im ganzen Lande würd’ es ausgeschrieben:
Christ soll ein jeder werden und dich lieben.
Ein jeder Heide flugs bekehrte sich
Und würd’ ein guter Christ und liebte dich.
Mein Freund lächelte skeptisch aber liebenswürdig und begleitete mich schweigend an die Haustüre.
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Unterricht und Wertung
1913
〈I.〉
An zwei Stellen wird das Verhältnis des Unterrichts zu Werten, zu lebendigen Gegenwartswerten besonders deutlich werden: im Deutschen und in der Geschichte. Im Deutschen wird es sich vorwiegend um ästhetische, im Geschichtsunterricht um ethische Werte